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6. Kapitel

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Adeline war so schwach wie ein junges Kätzchen. Ihre Knie zitterten, und ihr brach bei der kleinsten Anstrengung kalter Schweiß aus. Eine Woche lang hatte sie mit dem Fieber gekämpft, bis ihre Körpertemperatur endlich fiel und sie sich nicht mehr sterbenselend fühlte. Das entsetzliche Brennen in ihrer verletzten Schulter ließ auch endlich nach.

Der Arzt, den Reverend Haas für sie gerufen hatte, kam jeden Tag und sah nach ihr. War seine Miene in den ersten Tagen ernst und besorgt gewesen, hellte sie sich bei jedem weiteren Besuch mehr auf. Körperlich war Adeline über den Berg, aber ihre Erinnerungen ließen sie nach wie vor im Stich.

Der Schock hat einen Gedächtnisverlust verursacht, urteilte der Arzt und versprach ihr, dass sie sich früher oder später wieder an ihr vergangenes Leben erinnern würde. Doch es bedrückte Adeline, nicht zu wissen, wer sie war oder woher sie kam. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Familie, die sie vermisste. Eltern. Einen Ehemann? Sie trug keinen Ring, aber was hieß das schon? Er konnte ihr geraubt worden sein. Tief in ihrem Herzen spürte sie eine Leere, die ihr verriet, dass es zumindest einen Menschen gab, dem etwas an ihr lag und zu dem sie zurückkehren musste.

Wer war der Mann, der mich zum Haus des Reverends gebracht hat? Waren wir nur zufällig zusammen, als auf uns geschossen wurde? Oder haben wir auf irgendeine Weise zusammengehört? War er mein Freund? Oder mein Bruder?

Von Anna wusste sie, dass Albert inzwischen begraben worden war. Als sie sich kräftig genug fühlte, machte sie sich bereit für den Weg zum Kirchhof. Sie musste sich eine Kutsche bestellen, weil der Weg zu weit war für einen Spaziergang. Anna Haas wollte sie begleiten, aber Adeline bat darum, allein fahren zu dürfen. Sie befürchtete, ihre Gefühle nicht unter Kontrolle zu haben, wenn sie das Grab ihres unbekannten Retters besuchte, deshalb wollte sie lieber allein sein.

Ihr Kleid war inzwischen gesäubert und geflickt worden. Einige Frauen aus der Gemeinde hatten von Adelines Lage erfahren und Körbe mit dem Notwendigsten vorbeigebracht, von denen sie annahmen, dass es Adeline nützlich sein könnte: ein Kamm, ein paar Kleidungsstücke, Haarnadeln und allerlei mehr. Adeline hätte sich gern bei ihnen bedankt, aber Anna Haas hatte niemanden zu ihr gelassen und darauf bestanden, dass sie sich ausruhte.

Das Wetter hatte sich endlich beruhigt. Nachdem der Sturm weitergezogen war, waren die Temperaturen milder geworden. Die Sonne ließ den Schnee tauen und brachte überall das erste Grün hervor. Adeline bat den Kutscher, sie zum Kirchhof der lutheranischen Gemeinde zu bringen. Das Gefährt rumpelte durch die belebten Straßen der riesigen Stadt.

Anna hatte Adeline beschrieben, wo sie Alberts Grab auf dem Kirchhof finden würde: unter einer ausladenden Weide.

Eine halbe Stunde später erreichten sie ihr Ziel, und Adeline bat den Kutscher, auf sie zu warten. Mit bang klopfendem Herzen trat sie durch das schmiedeeiserne Tor und schaute sich nach links um, wie die Frau des Reverends es ihr beschrieben hatte. Ein frischer Erdhügel zeichnete sich im Schatten einer Weide ab, die ihre Zweige wie schützende Arme darüber breitete. Das musste es sein!

Adeline kniete sich vor den Erdhügel, der mit einem schlichten Kreuz versehen war. Mit brennenden Augen las sie die Inschrift, die in das Holz graviert war: ALBERT. Daneben war noch ein Platz für seinen Nachnamen frei. Falls sie ihn je herausfanden, konnte er noch eingetragen werden. Darunter stand das Datum seines Todes. 13.04.1904. Es war ein Dienstag gewesen.

»Wer warst du?«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf das Holz. Es fühlte sich warm an, selbst durch die Seide ihrer Handschuhe hindurch. Die Sonne schien durch die Zweige auf ihren Rücken. »Der Reverend hat mir gesagt, du hättest mir das Leben gerettet. Ich wünschte, ich könnte mich an dich erinnern. Oh, wer warst du nur?«

Jemand hatte Blumen gebracht. Veilchen lagen auf dem Grab. Adeline zog ihren Handschuh aus und strich einige welke Blätter zur Seite. Dabei rollten Tränen über ihre Wangen. Als sie sich vorbeugte, fuhr ein brennender Schmerz in ihre verletzte Schulter. Die Wunde hatte sich geschlossen. Anna versorgte sie jeden Tag mit einem frischen Verband, aber es schmerzte noch.

»Ich habe überlebt, und das verdanke ich dir. Ich werde herausfinden, wer dich so schwer verletzt hat und dafür sorgen, dass er sich verantworten muss. Das verspreche ich dir.« Adeline reckte ihr Kinn vor und sprach in Gedanken ein Gebet für den Mann, der ihr entrissen worden war und von dem sie sich so verzweifelt wünschte, sie könnte sich an ihn erinnern. Doch noch immer klaffte in ihrem Gedächtnis ein Loch groß wie der Ozean, der an die Küste der Neuen Welt schlug.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten ließ sie herumwirbeln.

Ein Mann in der blauen Uniform der New Yorker Polizei kam auf sie zu. Seine braunen, leicht gewellten Haare waren länger, als die Mode es vorschrieb. Er hatte einen ernsten, fast bitteren Zug um den Mund. Was sie sofort in seinen Bann schlug, waren seine Augen. Braun und voller Wärme schienen sie ihr bis auf den Grund ihres Herzens blicken zu können.

»Miss Adeline.« Seine Stimme war rauchig wie ein guter Whisky, und sein Zungenschlag verriet sein irisches Erbe.

»Kennen wir uns?« Unsicher richtete sie sich auf und sah ihn an.

»Noch nicht. Mein Name ist Declan O’Sullivan. Der Reverend hat mich gebeten, Nachforschungen anzustellen.« Sein Blick streifte aufmerksam über den Kirchhof, aber abgesehen von zwei schwarz gekleideten Frauen, die auf einer steinernen Bank beieinandersaßen und in eine Unterhaltung vertieft waren, waren sie allein. Trotzdem blieb der wachsame Ausdruck in seinen Augen bestehen.

»Was für Nachforschungen?«, fragte Adeline.

»Sie betreffend.« Er drehte seinen Helm zwischen den Fingern. »Ich wollte Sie schon längst aufsuchen, aber die Frau des Reverends hat es nicht zugelassen.«

»Ja, sie hat mir Ruhe verordnet und streng darüber gewacht, dass ich sie auch einhalte.« Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

»Das war gewiss kein Fehler. Sie waren schwer verletzt.«

»Konnten Sie etwas darüber in Erfahrung bringen?«

»Bedauerlicherweise noch nicht. Ich habe nach Zeugen gesucht, aber niemandem, den ich gefragt habe, ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«

»Der Reverend hat mir erzählt, dass an jenem Abend ein Toter im Park gefunden wurde. War das der Attentäter oder ein weiteres seiner Opfer?«

»Der Schütze, vermute ich.«

»Wer war er?«

»Es ist mir noch nicht gelungen, das herauszufinden. Allerdings …« Er zögerte. Die nächsten Worte schienen ihm nicht recht über die Lippen zu wollen. »Allerdings befürchte ich, dass Sie nach wie vor in Gefahr sind, Miss Adeline. Sie sollten nicht allein unterwegs sein.«

»Meine Kutsche wartet vor dem Tor.«

»Dennoch. Lassen Sie sich unbedingt begleiten, wenn Sie ausgehen.«

»Warum glauben Sie, dass ich noch in Gefahr bin?«

»Weil der Attentäter sein Ziel verfehlt hat. Sie sind noch am Leben. Irgendjemand will das gerne ändern.«

»Denken Sie das wirklich?« Ein kalter Schauder rieselte ihren Rücken hinunter. »Könnte das alles nicht nur ein unglücklicher Zufall gewesen sein?«

»Es gibt keine Zufälle. Nur gute und böse Absichten.« Er machte einen Schritt auf sie zu und sah sie warnend an. »Ich werde alles tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, aber Sie müssen mir im Gegenzug auch etwas versprechen: Seien Sie auf der Hut. Bleiben Sie am Leben. Sonst war sein Opfer umsonst.« Er blickte zu dem schlichten Holzkreuz hinüber.

Adeline verstand. »Ich werde vorsichtig sein. Und ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir helfen wollen.«

»Ich habe es dem Reverend versprochen.«

»Halten Sie immer Ihre Versprechen?«

»Immer«, erwiderte er schlicht. »Der Reverend hat mir erzählt, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben.«

»Das ist wahr. Ich weiß zwar, wo ich bin und welches Jahr wir schreiben, aber jede persönliche Erinnerung ist fort. Es kommt mir so vor, als hätte ich mich in einem dunklen Wald verirrt und würde den Weg hinaus nicht mehr finden.« Adeline unterdrückte ein Seufzen. »Ich weiß, wie merkwürdig sich das anhört, aber so ist es.«

»Ich glaube Ihnen, auch wenn diese Tatsache meine Arbeit erschwert. Es wäre einfacher, wenn Sie noch wüssten, wer Ihren Begleiter und Sie angegriffen hat.«

»Daran erinnere ich mich leider nicht. Da ist nur ein zäher Nebel in meinem Kopf. Ich weiß, die Erinnerungen sind irgendwo dahinter, aber ich kann nicht zu ihnen vordringen.«

»Etwas Ähnliches habe ich vor ein paar Monaten schon einmal gehört. Damals wurde ein Hafenarbeiter an den Docks niedergestochen und … Nun, jedenfalls verlor er ebenfalls seine Erinnerungen«, bremste er sich und betrachtete sie nachdenklich. Dann zog er ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. »Sie sollten ihre Hand sauber machen, ehe Sie Ihren Handschuh wieder anziehen.«

Adeline blickte an sich hinunter. Tatsächlich klebten Dreck und Erde an ihren Fingern. Sie wischte sie ab und nahm einen schwachen Duft von Zedernholz wahr, der von dem Taschentuch ausging. Es war weiß und an einer Ecke mit einem Monogramm bestickt. D.S. »Vielen Dank.« Als sie ihm das Tuch zurückreichte, streiften sich ihre Hände, und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie fühlte sich sicher bei ihm, vom ersten Augenblick an. Eine Erklärung dafür hatte sie nicht. Sie spürte nur, dass sie ihm vertrauen konnte.

Forschend sah er sie an, und eine verräterische Hitze stieg in ihre Wangen. Hastig trat sie einen Schritt zurück.

»Ich hatte mir schon vorgenommen, Sie bald aufzusuchen, Miss Adeline. Nun ist mir der Zufall zuvorgekommen. Es war gut, mit Ihnen zu sprechen.«

»Haben Sie hier jemanden besucht?«

»Ja, ich war am Grab eines Kollegen.« Declan O’Sullivan deutete zu einem nahen Erdhügel, der dunkel und frisch aussah. »Er wurde im Dienst ermordet. Erstochen von einem Mitglied der Five Points Gang.«

»Wer ist denn das?«

»Die Five Pointers sind eine Bande aus Verbrechern, die seit Jahren die Stadt unsicher machen. Sie rauben, morden und erpressen. Wir versuchen schon lange, sie zu schnappen, aber sie sind gut organisiert und skrupellos. Wer ihnen zu nahe kommt, bezahlt das mit seinem Leben. Wie Pete. Er hatte sich bei ihnen eingeschleust, wollte ihre Anführer ausmachen und genügend Beweise sammeln, um sie hinter Gitter zu bringen. Jetzt ist er tot.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Polizisten.

»Das tut mir sehr leid.«

»Pete hatte eine Frau und vier Kinder. Sie haben New York verlassen, weil zu befürchten ist, dass die Bande auch ihnen nachstellt und Rache übt. Das alles ist nicht recht. Ich werde dafür sorgen, dass die Verantwortlichen ihre Strafe bekommen.«

»Das hört sich gefährlich an.«

»Pete war ein Freund. Ein Kollege. Wir schulden es ihm, seine Mörder zu erwischen.« Ein Schatten schien plötzlich auf sein Gesicht zu fallen und verriet, wie sehr ihn der Tod seines Kollegen mitnahm.

Adeline bemerkte es und strich ihm impulsiv tröstend über den Arm. Als ihr aufging, was sie da tat, ließ sie ihre Hand hastig wieder sinken, aber die Berührung hatte bereits eine Reaktion in ihm ausgelöst. Etwas Warmes leuchtete in seinen Augen auf, es schien, die Sonne selbst würde darin aufgehen. Declan würde ihr niemals etwas zuleide tun, das spürte sie. Der grimmige Zug um seinen Mund konnte sie nicht täuschen: Das Leben hatte ihn gezeichnet, aber er trug das Licht der Güte in seinem Herzen.

»Jemand hat Blumen hergebracht.« Adeline deutete auf die Veilchen auf Alberts Grab.

»Das war bestimmt Mary Abendschein. Sie hat ein Herz für verlorene Seelen. Sie wohnt nicht weit vom Haus des Reverends entfernt. Sicherlich werden Sie sie bald kennenlernen.«

»Das wäre schön. Ich würde mich gern bei ihr bedanken.«

»Die Gelegenheit dazu ergibt sich sicherlich.«

»Noch ein Mensch, dem ich zu Dank verpflichtet bin.« Adeline strich über ihren Rock. »Der Reverend und seine Familie haben mich aufgenommen und sich um mich gekümmert, obwohl sie mich nicht kennen. Ich schulde ihnen eine Menge.«

»Viele hier in Little Germany tun das.«

»Sie auch?«

»Aye. Ich auch.«

Adeline bemerkte, wie sich der bittere Zug um seinen Mund verstärkte und jedes Nachfragen verbot. Sie deutete über ihre Schulter. »Ich sollte jetzt zurückfahren.«

»Ich werde Sie begleiten.«

»Das müssen Sie nicht. Der Kutscher wartet auf mich.«

»Sie sollten nicht allein fahren. Nicht in diesen Zeiten, und nicht nach allem, was Ihnen zugestoßen ist.« Er sah sie warnend an. »Bewahren Sie sich ein gesundes Misstrauen, Miss Adeline. Ganz egal, wie ruhig die Umgebung auch scheint, Sie sind niemals sicher. Bei niemandem.«

Vor dem Haus des Reverends bezahlte Adeline den Kutscher mit dem Geld, welches Anna Haas ihr gegeben hatte.

Declan begleitete sie zur Haustür und versprach ihr, sie aufzusuchen, sobald er etwas über den Anschlag auf ihr Leben herausgefunden hatte. »Leben Sie wohl, Miss Adeline. Geben Sie gut auf sich Acht.«

»Sie auch auf sich«, erwiderte sie mit einem Lächeln.

»Ich?« Declan sah sie überrascht an, als wäre es ihm völlig fremd, dass sich jemand um ihn Sorgen machte. Nachdenklich verabschiedete er sich und ging davon.

Adeline blickte ihm nach, aber anstatt ins Haus zurückzukehren, entschied sie, sich im Viertel umzuschauen. Vielleicht kam ihr ein Haus bekannt vor oder sie stieß auf einen Menschen, der sie kannte. Sie mochte die Gastfreundschaft des Reverends nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Außerdem lasteten etliche Fragen auf ihrem Herzen. Fragen, auf die sie nur eine Antwort finden konnte, wenn sie sich endlich wieder erinnerte!

Das Wetter zeigte sich von seiner freundlichen Seite. Die milden Temperaturen ließen den Frühling erahnen. Die Straßen waren belebt, und das angeregte Plaudern der Passanten verriet, dass die warmen Sonnenstrahlen jedermann erfreuten.

Das Viertel war so deutsch, wie eine amerikanische Gegend es nur sein konnte. Adeline fing zahlreiche deutsche Wortfetzen auf. Selbst der Zeitungsjunge an der Ecke der Avenue B pries seine Depeschen in ihrer Heimatsprache an. Die Geschäfte waren auf Deutsch beschriftet, ebenso die Werkstätten der Schuhmacher, Schlosser, Schneider. Sie befanden sich in den Untergeschossen der Gebäude, die dazugehörenden Verkaufsläden ein Stockwerk höher. Die Gehwege war größtenteils überdacht. Ein Stapelplatz für Waren überraschte Adeline, immerhin lagen dort viele Waren offen und unbeobachtet. Es genügte ein Augenblick, um zahlreiche Kleinigkeiten zu annektieren, aber aus irgendeinem Grund wusste Adeline, dass Diebstähle auf offener Straße hier zu den Seltenheiten gehörten.

Vermutlich wäre es Declan nicht recht, wenn er sie hier antreffen würde. Dass sie diesen Spaziergang trotzdem machte, zeigte ihr, dass sie über einen gewissen Eigensinn zu verfügen schien. Wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, das ihr wichtig erschien, dann setzte sie sich selbst über gut gemeinte Warnungen hinweg.

Ein Arbeiter in abgerissener Kleidung wuchtete soeben ein großes Bierfass von einem Lieferfahrzeug, das am Straßenrand parkte. Es landete schwungvoll auf seinem linken Fuß und entlockte ihm einen herzhaften Fluch. »Klei mi ann Mors!«

Obwohl die Worte fremd klangen, verstand sie auf Anhieb, was gemeint war. Weit davon entfernt, seiner Aufforderung, ihn an einem bestimmten Körperteil zu kratzen, zu folgen, starrte sie ihn verblüfft an.

Er hatte den Anstand, dunkelrot anzulaufen. »Entschuldige, min deern. Hab es nich’ so gemeint. Aber das ver… das Fass war so schwer.« Er trat von einem Fuß auf den anderen.

Sein Zungenschlag war ihr so vertraut, dass Adeline die Tränen in die Augen schossen. Norddeutschland. Dort musste früher ihre Heimat gewesen sein! Da war sie sich ganz sicher.

»Kennen Sie mich?«, fragte sie ihn leise.

Er nahm seine gestrickte Mütze ab und schabte sich die Mähne. »Noch nicht, aber das können wir gern ändern.« Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein stoppelbärtiges Gesicht.

»Sie haben mich also noch nie gesehen?« Enttäuschung schwappte in ihr hoch.

»Daran würde ich mich auf jeden Fall erinnern. So ein hübsches Ding wie du.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Hast du niemanden, der sich um dich kümmert?«

»Ich …« Sie stockte, weil ihr Hals mit einem Mal wie zugeschnürt war.

»Ich kann auf dich aufpassen, weißt du?« Er rückte zwei Schritte näher, sodass sie den scharfen Geruch wahrnehmen konnte, der von ihm ausging: Schweiß, Tabak und noch etwas, das sie aber nicht benennen konnte. Er legte eine Hand auf ihre Schulter – wich jedoch mit dem nächsten Wimpernschlag zurück, als eine helle Stimme hinter ihm schimpfte:

»Behalte deine Finger bei dir, Hinnerk, sonst bringt deine Frau dir mit dem Teppichklopfer Manieren bei!«

Der so Gescholtene zog den Kopf ein wie eine erschrockene Schildkröte. Hinter ihm tauchte eine hochgewachsene Frau auf. Sie trug einen geschlossenen Regenschirm in der Hand, der ein schottisches Muster aufwies. An dem Nussholz-Griff baumelte eine braune Troddel. Die Frau hatte ein rundes Gesicht mit blauen Augen, die tadelnd zusammengekniffen und fest auf den Arbeiter gerichtet waren. Unter ihrem dunkelblauen Kostüm trug sie eine cremeweiße Bluse. Das Kinn hochgereckt wirkte sie wie eine Tigerin, die sich bereit machte, ihr Junges zu verteidigen.

Der Arbeiter machte ein paar hastige Schritte von Adeline weg und murmelte etwas Unverständliches, ehe er das Fass auf seine Schulter wuchtete und damit eiligst in dem nahen Bierlokal verschwand.

Ein Lächeln kräuselte die Lippen der Frau. »Hinnerk meint es nicht böse«, wandte sie sich an Adeline. »Er hat lediglich ein großes Herz für alles, was einen Rock trägt und nicht bei drei auf der nächsten Laterne ist.«

Adeline wollte etwas erwidern, aber sie war so verblüfft über die resolute Einmischung ihres Gegenübers, dass sie sekundenlang um Worte rang.

»Ich bin Mary«, stellte sich die Frau in herzlichem Ton vor und unterbrach die peinliche Situation. »Mary Abendschein.«

»Oh!«, rief Adeline aus. »Sie sind die Frau mit den Veilchen!«

»Mit welchen Veilchen?«

»Sie haben die Blumen auf Alberts Grab gelegt.«

»Ach so. Ja, das war ich.« Mary nickte, und ein bekümmerter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Der junge Mann ist einen schlimmen Tod gestorben. Es tut mir so leid, dass wir nicht einmal wissen, wer er war.«

»Er hat mich gerettet«, wisperte Adeline.

»Sie?« Etwas blitzte in den Augen der resoluten Frau auf. »Ah, dann müssen Sie Adeline sein, der Schützling unseres Reverends.«

»Das ist richtig. Ich wollte Ihnen danken, dass Sie die Blumen gebracht haben. Ich bin sicher, sie hätten Albert gefallen.«

»War er Ihr Bruder?«

»Oh, ich wünschte, ich wüsste es. Meine persönlichen Erinnerungen habe ich irgendwie … verloren. Ich weiß nur, dass ich wohl aus Norddeutschland stamme. Das ist leider alles.« Ein Zittern lief durch Adeline.

»Das ist doch immerhin ein Anfang.« Ihr Gegenüber sah sie ermutigend an. »Machen Sie sich keine Sorgen: Ich bin mir sicher, Ihnen wird alles wieder einfallen, wenn die Zeit gekommen ist.« Mary Abendschein lächelte sie so offen an, dass Adeline nicht anders konnte, als das Lächeln zu erwidern und diese Frau auf Anhieb zu mögen.

»Sie kennen mich also nicht?«, hakte sie leise nach.

»Tut mir leid. Nein. Ich werde jedoch herumfragen, ob Sie jemandem bekannt sind, wenn ich die Läden in unserem Viertel besuche. Und ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas erfahre, das verspreche ich Ihnen.«

»Sie wollen die Geschäfte hier in der Gegend besuchen?«

»Ja, und zwar alle. Ich bin nämlich ebenfalls auf der Suche. Allerdings nach spendablen Mitmenschen: ich benötige Geldgeber.«

»Für die Kirche?«

»Sozusagen. Ich unterrichte an der Sonntagsschule. Wir veranstalten jedes Jahr zum Abschluss des Schuljahres einen Ausflug für die Gemeinde. In diesem Sommer wollen wir eine Fahrt mit einem Schiff und ein Picknick machen. Es wird Unmengen von wunderbarem Essen geben. Dazu Musik und Tanz. Ich habe bereits ein Dampfschiff für uns gechartert: die General Slocum – eines der prächtigsten Schiffe auf dem East River.« Stolz schwang in der Stimme der Lehrerin mit. »Leider ist es recht teuer. Wir benötigen dreihundertfünfzig Dollar allein für das Schiff, dazu kommen die Kosten für die Kapelle und das Essen. Für all das muss ich Geldgeber auftreiben.«

»Und deshalb besuchen Sie die Ladenbesitzer?«

»Es ist eine Heidenarbeit und wird mich vermutlich ein Paar Schuhe kosten, aber es muss getan werden.«

»Ich könnte Ihnen helfen«, bot Adeline spontan an.

»Das wäre großartig, aber das geht leider nicht.«

»Warum denn nicht? Ich würde das gern tun. Auf diese Weise lerne ich die Menschen hier im Viertel kennen und kann sie fragen, ob sie etwas über mich wissen.«

»Ich freue mich, dass Sie mir helfen wollen, Adeline. Sehr sogar.« Mary legte ihr eine Hand auf den Arm und sah sie besorgt an. »Allerdings kann ich Ihr Angebot keinesfalls annehmen. Sie sind jung und unverheiratet. Es wäre ganz und gar unschicklich, würden Sie allein die Geschäfte besuchen und um Spenden bitten.«

»Es wäre für einen guten Zweck.«

»Trotzdem geht es nicht.«

»Sind Sie verheiratet, Miss Abendschein?«

»Nein, und das war ich auch nie.« Ein bekümmerter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Aber das ist etwas anderes. Ich bin weit über das heiratsfähige Alter hinaus. Sie jedoch nicht. Sie müssen an Ihren Ruf denken.«

»Was nützt mir mein Ruf, wenn ich nicht weiß, wo ich hingehöre? Ich stehe momentan allein auf der Welt, und ich habe keine Ahnung, ob irgendwo eine Familie auf mich wartet. Es ist mein dringlichstes Anliegen, mehr über meine Vergangenheit herauszufinden. Bitte, lassen Sie mich helfen. Dann kann ich möglicherweise etwas für uns beide tun.«

Mary schien über ihre Worte nachzudenken, aber dann schüttelte sie den Kopf. »Das Risiko ist zu groß. Nicht nur für Ihren Ruf, sondern auch für Ihre Sicherheit. Ich weiß, dass Sie angeschossen wurden und der Schütze bisher nicht gefunden werden konnte. Er treibt sich also immer noch irgendwo herum. Sie könnten weiterhin in Gefahr sein.«

Adeline schwieg. An dieser Warnung war etwas dran, aber wenn sie sich jetzt im Haus des Reverends versteckte, würde sie womöglich nie dahinterkommen, wer sie war und weshalb ihr jemand nach dem Leben trachtete. Das konnte sie nicht hinnehmen. Entschlossen reckte sie ihr Kinn vor. »Je eher ich mich wieder an mein Leben erinnern kann, desto schneller werde ich in Sicherheit sein. Lassen Sie mich Ihnen helfen, den Ausflug vorzubereiten, Miss Abendschein. Bitte!«

Im Herzen das Licht

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