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KAPITEL 2

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Zwei Stunden später saß ich immer noch auf dem Boden im Flur. Meine Augen waren durch die Heulerei rot und geschwollen. Ich starrte immer wieder zur Eingangstür, doch sie bewegte sich nicht. Björn war immer noch nicht wieder da. Ich war allein. Wie immer.

Ich brauchte einen Rat. Ich musste mit jemandem reden, aber mit wem? Dadurch, dass mich Björn jahrelang im Haus eingesperrt hatte, hatte ich zu Niemandem Kontakt. Aus der Nachbarschaft kannte ich ebenfalls Niemanden. Mir konnte jetzt nur eine einzige Person helfen.

Mit schweren Beinen schleppte ich mich an die Garderobe, schnappte mir meine Handtasche und den Autoschlüssel und verließ das Haus. Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Ein mulmiges Gefühl hatte ich schon. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, mich bei Björn abzumelden, dass ich sogar jetzt ein schlechtes Gewissen hatte, da ich ihn nicht informierte. Aber wollte er nach dem Streit überhaupt noch wissen, wohin ich fuhr?

Der einzige Mensch, mit dem ich seit drei Jahren regelmäßig Kontakt gehalten hatte, war Kerstin. Kerstin war die Polizistin, die mich bei der ganzen Sache mit Stefan unterstützt hatte und die auch nach der ganzen Zeit immer für mich da gewesen ist. Sie wusste auch von Björns Verhalten.

Ich kam an der Polizeistation an und parkte auf dem Besucherparkplatz. Auf dem Weg zum Eingang versuchte ich, mir nicht anmerken zu lassen, wie schlecht es mir ging. Ich nickte den mir entgegenkommenden Polizisten freundlich zu und öffnete die Tür. An der Information fragte ich nach Kerstin und wurde von einem sehr jungen Beamten zu einem Büro in einer Ecke geführt. Kerstin war nicht da. Ich sollte warten.

Nach kurzem Warten wurde mir langweilig und ich schaute mich ein wenig auf Kerstins Schreibtisch um. Es war ein Eckschreibtisch. Auf der einen Seite stand ein Monitor. Davor lag die Tastatur. Vermutlich befand sich der passende PC unter dem Tisch. Auf der anderen Seite stand eine kleine Lampe. Daneben stand ein Bild in einem silbernen Rahmen. Darauf war ein junger Mann zu sehen. Sehr attraktiv. Schätzungsweise um die 30. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab. Erkennbar waren seine hellblauen Augen, die fast aus dem Bild heraus strahlten. Ebenso das umwerfende verschmitzte Lächeln. Hatte Kerstin einen Freund, von dem ich bisher nichts wusste?

Das waren die einzigen aufgeräumten Ecken des Tisches. Der Rest war ein einziges Chaos. Überall lagen aufgeschlagene Akten. Mein Blick blieb jedoch nur auf einer bestimmten Akte hängen, denn die Frau auf dem Foto erkannte ich sofort. Charlotte. Bevor ich weiter forschen konnte, hörte ich hinter mir eine vertraute Stimme: »Franzi? Was machst du denn hier?« Ich erschrak und drehte mich ruckartig um. Kerstin war hinter mir aufgetaucht. In der Hand eine Tasse. Es roch schwer nach Kaffee. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz geflochten. Sie sah mich mit ihren grünen Augen an.

In diesem Moment erkannte Kerstin mein verstörtes Gesicht. »Was ist los?«, wollte sie wissen.

»Björn ist weg.«

»Wie weg?«

Ich versuchte, Kerstin den Abend zu schildern, und erzählte ihr, was Björn mir alles an den Kopf geworfen hatte, insbesondere die Sachen mit Stefan. »Oh mein Gott. Und dann ist er einfach so weg? Was hast du denn jetzt vor?« Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe noch nicht einmal eine Ahnung, wo ich nach ihm suchen soll oder ob ich ihn überhaupt suchen soll und ob er gefunden werden will. Ich meine von mir… Ich glaube langsam wirklich, dass ich alles zerstört habe, wegen eines einzigen Fehlers.«

»Es war kein Fehler«. Kerstin lächelte mich an. »Wenn es ein Fehler gewesen wäre, hättest du dich dabei nicht so gut gefühlt.« Ich musste schmunzeln. Sie hatte Recht. Irgendwie hatte sie Recht.

»Ich habe das Gefühl, dass ich mich entschuldigen müsste.«

»Bei wem?« Kerstin war verwirrt.

»Stefan«, ergänzte ich.

»Warum denn bei Stefan?« Kerstin sah mich fragend an. Ihr Gesichtsausdruck war noch verwirrter als vorher. »Warum willst du dich bei Stefan entschuldigen? Er ist doch auf dich losgegangen. Er hat dich angegriffen. Mit einem Messer.«

Mir stiegen die Tränen in die Augen und meine Stimme zitterte. »Weil ich es gar nicht so weit hätte kommen lassen dürfen. Wenn ich früher die Stopptaste gedrückt hätte, wäre es gar nicht erst soweit gekommen.« Ich war selbst nicht überzeugt von dem, was ich gerade sagte.

»Du spinnst.« Kerstin zeigte mir einen Vogel.

»Vielleicht… Weißt du, wie es ihm geht?«

»Na ja, nicht wirklich. Er muss sich sehr zurückgezogen haben, er ist ein Einzelgänger und lässt nicht viele Leute an sich ran. Das sagen zumindest die Ärzte.«

»Ärzte?« Ich schlug mir die Hand vor den Mund. »Warum denn Ärzte?«

»Stefan wird psychologisch betreut«, erklärte sie mir. So selbstverständlich, als müsste ich das wissen.

»Oh ...« Gut, jetzt waren wir genau bei dem Thema, auf das ich hinauswollte. Ich wollte herausfinden, warum die Akte von Charlotte auf dem Schreibtisch lag. »Und Charlotte?«, fragte ich sie.

»Tja, da wird es weniger schön. Sie hat einen Antrag gestellt auf frühzeitige Entlassung.«

»Entlassung? Das darf nicht passieren, diese Frau ist krank. Sie darf nicht freigelassen werden«.

»Eben, deswegen habe ich die Akte. Ich soll eine Stellungnahme abgeben, ob Charlotte wieder auf freien Fuß gesetzt werden kann und jetzt vergiss das Ganze und geh´ nach Hause. Björn wartet bestimmt schon auf dich.« Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. Gleichzeitig flüsterte sie mir ins Ohr. »Und außerdem wäre es für Stefans Genesung nicht sonderlich gut, wenn du im Gefängnis auftauchen würdest, schließlich hält er dich für tot.« Ich löste mich aus ihrer Umarmung und nickte, sagte aber nichts. Sie hatten vollkommen Recht. Für Stefan war ich an diesem Abend gestorben. Niemand, selbst nicht einmal sein Anwalt hatte ihn aufgeklärt, dass ich den Angriff überlebt hatte. Er hatte sich auch nicht gewundert, dass er nur wegen versuchten Mordes anstatt wegen Mordes verurteilt wurde. Er hatte es damals auf seine psychische Verfassung geschoben.

Ich verabschiedete mich von Kerstin, verließ die Polizeistation und stieg in mein Auto.

Normalerweise brauchte ich für den Weg nach Hause maximal 20 Minuten, ich fuhr jedoch kreuz und quer, so dass ich fast zwei Stunden bis nach Hause brauchte. Ich sah mich in der Straße um. Björns Auto war nirgends zu sehen. Er war also nach wie vor nicht nach Hause gekommen. Ich stieg aus dem Auto aus, schloss die Haustür auf und stand immer noch völlig durcheinander im Flur und starrte ins Leere. Björn war wirklich noch nicht da. Da es mittlerweile weit nach Mitternacht war, beschloss ich, ins Bett zu gehen. Ich ging ins Badezimmer, wusch mich und zog mir meinen Schlafanzug an. Ich legte mich ins Bett, auch wenn ich schon wusste, dass an Schlaf nicht zu denken ist.

Plötzlich wachte ich auf. Ich war tatsächlich doch eingeschlafen. Ich hatte einen Traum. Einen Traum, den ich seit fast einem Jahr nicht mehr hatte. Ich sah Stefan vor mir stehen, mit dem Messer in der Hand, mit dem er mich niedergestochen hatte. Der Ausdruck in seinem Gesicht zeigte Angst und Verzweiflung. Ich wusste, dass er mir nie wehgetan hätte und Charlotte ihn zu dieser Tat gedrängt hatte, aber trotzdem hatte er es getan. Und dafür gab es keine Entschuldigung.

Ich stand auf. Ich wusste, dass ich jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Die Bilder in meinem Kopf mussten erst wieder verdrängt werden. Ich zog mir einen Bademantel über und wollte runter in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Als ich auf dem halben Weg auf der Treppe stand, bemerkte ich, dass das Licht im Flur brannte. Ich war erleichtert, Björn war wieder zu Hause. Ich lief schneller die Treppe runter, denn ich wollte mich bei Björn entschuldigen. Stefan war ein Thema, dass in dieser Familie nicht mehr angesprochen werden sollte. Das wusste ich jetzt. Obwohl, wenn ich mir es recht überlege, war Björn derjenige, der dieses Thema zuerst angegangen war. Als ich am Treppenabsatz zum Stehen kam, sah ich Björn. Er lag in eine Decke gehüllt auf der Couch und schlief. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich umzuziehen. Ich schlich mich an ihn ran, um ihn aus der Nähe zu beobachten. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief, als gäbe es keine Sorgen und Probleme. Er war dem Mann, den ich damals geheiratet hatte, wieder ähnlich. Seine dunkelbraunen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt. Eigentlich müsste er mal wieder dringend zum Frisör.

Im nächsten Moment vibrierte sein Handy. Björn rührte sich kurz, wachte aber nicht auf. Leise ging ich näher an den Tisch. Ich wollte wissen, wer ihm um diese Uhrzeit noch schrieb. Als ich nah genug war, konnte ich die Nachricht lesen. »Geht es dir wieder gut? N.« N? Wer ist N?

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Was hat Björn die letzten Stunden gemacht und vor allem mit wem? In meinem Kopf zeigten sich Bilder von Björn mit irgendwelchen Frauen, denen er sein Herz ausschüttete. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Mir war nicht klar, wie sehr es mich verletzten würde, wenn Björn sich mit einer anderen Frau traf. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie sehr es Björn verletzt haben musste, als ich mich mit Stefan getroffen habe. Immer und immer wieder. Ich lief nach oben ins Bad. Ich wusch mir das Gesicht und legte mich zurück ins Bett. An Schlaf war jetzt wirklich nicht mehr zu denken. Ich wälzte mich hin und her. Bilder von Frauen tauchten in meinem Kopf auf. Blonde, Brünette, Rothaarige ... Plötzlich hörte ich ein Geräusch, es kam aus der Küche. Björn war anscheinend aufgewacht. Bevor ich die Treppe hinunterstürzte, beschloss ich, ihn erst einmal nicht auf »N« anzusprechen.

Als ich in der der Küche ankam, sah ich Björn, wie er sich durch die Vorratsschränke wühlte. »Suchst du was Bestimmtes?«, fragte ich ihn. Er sah kurz auf.

»Essen«, antwortete er kurz und knapp.

»Schau mal in den Kühlschrank«, gab ich ihm den Tipp. Fast wie in Trance und ohne mich anzusehen, trat er an den Kühlschrank und sah hinein. Nach einem kurzen Moment und mit einem kleinen Grummeln, schloss er die Tür wieder, lehnte sich an und schaute mich an.

»Habe ich dich geweckt?«, fragte er verschlafen. Er rieb sich die Augen.

»Ich habe nicht wirklich geschlafen«, antwortete ich. »Wo warst du?« Ich musste es einfach wissen. Björn zögerte kurz.

»Hier und da.«.

»Warst du allein?« Mist, ich wollte ihn doch noch nicht darauf ansprechen.

»Nö. Ich war mit Arbeitskollegen unterwegs.«

»Und dann musstest du dich so abfüllen?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wird das jetzt ein Verhör?«

Ich stockte. Ich wollte alles wissen. Natürlich. Mir war jedoch nicht bewusst, dass Björn in seinem derzeitigen Zustand noch den Unterschied erkennen würde.

»Ich habe doch nur gefragt«, sagte ich trotzig. »In so einem Zustand habe ich dich eben noch nie gesehen. Vielleicht mache ich mir auch einfach Sorgen.«

»Sorgen? Du? Hast du dir in der Vergangenheit einmal Sorgen um deine Familie oder um mich gemacht?«

»Jetzt fang nicht so an.«

»Ich brauch` damit nicht anfangen, das hast du schon getan«, schrie er schon fast.

»Das ist nicht fair. Ich habe alles bereut. Und das tue ich auch heute noch. Und das weißt du auch. Ich habe dir schon gesagt, dass das alles mehr als nur ein Fehler war. Ich dachte, du hättest mir verziehen?«

»Verziehen? Ich verzeihe dir das niemals. Du hast alles kaputt gemacht. Du hast unsere ganze Familie zerstört«. Er lallte. Ich fing an zu weinen. »Jetzt spar´ dir die Tränen, ich kann dein ewiges Rumgeheule nicht mehr ertragen.«

»Was kann ich machen, damit du mir vergibst?«, wollte ich wissen.

»Die Vergangenheit ändern«, stellte Björn klar.

Mein Blick ging zu Boden. Ich schämte mich für alles, was ich je getan habe. »Das kann ich nicht.«

»Eben. Und jetzt lass mich in Ruhe.« Er drehte sich von mir weg. Ich trat näher an Björn heran.

»Ich kann nicht ändern, was passiert ist, aber ich muss damit genauso leben wie du«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Vorsichtig griff ich Björn von hinten an die Schulter. Schlagartig drehte er sich rum und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht.

»Ich habe gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!«, brüllte er.

Ich war völlig perplex und konnte gar nicht begreifen, was gerade passierte. Meine Wange pochte vor Schmerz. Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen. Ich schluckte, drehte mich um und rannte die Treppe hoch, um ins Schlafzimmer zu gelangen. Sofort riss ich den Schrank auf und holte eine Sporttasche aus dem unteren Fach und warf sie aufs Bett. Mit Wut im Bauch und geröteter Wange stopfte ich das Nötigste in die Tasche. Als die Tasche schon fast aus allen Nähten platzte, schob ich sie ins Badezimmer und packte noch Zahnbürste und sonstige Kosmetika ein. Die Tasche war randvoll und ging schon fast gar nicht mehr zu, aber trotzdem schaffte ich es irgendwie, den Reißverschluss zu schließen. Ich zog mir schnell bequeme Schuhe an, hievte die Tasche über die Schulter und rannte die Treppe wieder runter. Unten angekommen sah ich Björn wieder schlafend auf der Couch. Es war mir egal. Ich schnappte mir meine Jacke vom Haken und den Autoschlüssel und rannte die Tür raus. Aufatmend schloss ich sie hinter mir.

Franziskas Entscheidung

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