Читать книгу Zurück auf Gestern - Katrin Lankers - Страница 10

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»Achtung, die Schwerkraft ist heute wieder besonders heimtückisch«, hörte ich Sophie sagen, die mit den Doppel-Ds durch das Schultor trippelte. Wo kamen die denn plötzlich wieder her? Waren die beiden nicht gerade erst in Samuels Armen zur Privatparty des Jahres aufgebrochen? Und Sophie? Sollte meine wohlerzogene Stiefschwester sich nicht längst auf dem Heimweg befinden? Denn auch für Sophie galt eigentlich eine Ausgangssperre ab zweiundzwanzig Uhr.

»Um deine feinmotorischen Fähigkeiten würde dich jede Dampfwalze beneiden.« Mit hocherhobener Nase schritt Sophie an Lulu, mir und den verstreut auf dem Schulhof liegenden Törtchen vorbei. Die Doppel-Ds folgten ihr kichernd.

Lulu und mich ließen sie völlig verdattert zurück. Das war ja mal ein astreines Déjà-vu! Und meine Stiefschwester war sich nicht zu schade, nach allem, was an diesem Abend zwischen uns vorgefallen war, dieselben blöden Sprüche noch einmal zu machen.

Aber vielleicht halluzinierte ich auch. Womöglich hatte ich einen Zuckerschock von all den Törtchen erlitten, die ich im Laufe des Abends in mich hineingestopft hatte. Ich kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie vorsichtig wieder. Alles sah noch genauso aus wie vorher. Die Törtchen, die überall auf dem Boden lagen, sowie Sophie und die Doppel-Ds, die hinüber zur Sporthalle stolzierten. Nur Lulu warf mir äußerst verwunderte Blicke zu.

Das war irgendwie alles ziemlich seltsam!

Und dann fiel mir auf, dass es in den letzten Minuten viel heller geworden zu sein schien. Der Himmel war den ganzen Tag über bedeckt gewesen, eher grau als blau. Doch gerade noch war die Dunkelheit hereingebrochen. Nun aber wirkte es, als hätte jemand den Dimmer wieder auf volle Leistung gedreht.

Das war wirklich sehr, sehr seltsam!

»Ich wusste gar nicht, dass wir statt einer Party ein Picknick veranstalten.« Samuel Micky Maus Sauermann lachte schallend.

»Im Ernst, Mädels, braucht ihr Hilfe?« Er hörte auf zu lachen und lächelte uns stattdessen breit an.

Lulu war sprachlos, was man von ihr in Samuels Gegenwart ja nicht anders kannte. Doch dieses Mal fehlten mir ebenfalls die Worte.

Exakt dasselbe hatte Samuel vorhin auch schon zu uns gesagt. Lange bevor er mit den Doppel-Ds im Arm verschwunden war. Wieso war er überhaupt plötzlich wieder hier? Und warum wiederholten sich heute alle? Das war so was von merkwürdig!

Samuel betrachtete uns irritiert, weil keine von uns beiden ihm antwortete. »Ich geh dann schon mal vor«, erklärte er schließlich und schlenderte ebenfalls Richtung Sporthalle davon.

»Was war das denn?«, stieß ich hervor, als Samuel sich außer Hörweite befand.

»Keine Ahnung.« Lulu guckte wie ein Fragezeichen.

»Wieso sagen alle genau das Gleiche wie vorhin?«

»Und wieso gehen alle rüber zur Sporthalle?«

»Und wieso ist deine Mutter wieder weggefahren?«

»Das ist alles sehr, sehr, sehr seltsam.«

»Seltsam ist gar kein Ausdruck.«

Ich schnappte mir wahllos eins der Sahnetörtchen vom Boden, klopfte grob den Dreck ab und biss hinein. Essen beruhigt bekanntlich die Nerven! Lulu machte den spitzesten Kussmund, den ich je bei ihr gesehen hatte. Und wir starrten beide verwundert zur Sporthalle, von wo die gedämpften Bässe der Band zu uns herüberwehten.

»Hast du auch das Gefühl, im falschen Film zu sein?«, fragte ich meine Freundin.

»Total«, erwiderte Lulu.

»Als hätte jemand alles auf Anfang zurückgespult«, überlegte ich laut.

»So ein bisschen wie in dem Murmeltier-Film, weißt du noch?«

Ich nickte bloß und biss erneut in das Törtchen. Wir hatten den Film vor einiger Zeit bei Lulu angesehen. Ich erinnerte mich nur noch, dass die Hauptfigur immer am Morgen desselben Tages aufgewacht war und dass ein Murmeltier das Wetter vorhersagen sollte.

»Aber das ist natürlich nicht möglich«, stellte Lulu fest. »Ich meine, das war ein Film, oder?«

Ich nickte wieder und schluckte den letzten Bissen vom Törtchen hinunter.

»Das war ein Film«, bestätigte ich. »Und außerdem sehe ich hier nirgends ein Murmeltier.«

Lulu lachte nicht über den schwachen Scherz. Und mir war auch kein bisschen nach Lachen zumute. Ich fand die ganze Situation sehr irritierend. Und beängstigend, um genau zu sein. Wie gesagt: Abenteuer sind nicht so mein Ding.

»Wahrscheinlich ist das alles nur ein Zufall«, erklärte ich deshalb mit mehr Überzeugung, als ich empfand. »Kann doch sein, dass Sophie was Wichtiges in der Sporthalle vergessen hat, und die Doppel-Ds begleiten sie, weil …«

»… sie auch was Wichtiges vergessen haben«, stimmte Lulu mir wenig überzeugt zu. »Und Samuel hat auch was Wichtiges vergessen. Dass er eigentlich mich zu seiner Party eingeladen hatte und nicht die Doppel-Ds, zum Beispiel.«

»Genau.« Ich nickte vehement.

»Klar. Und deshalb haben die Jungs von Echtzeit auch gerade wieder mit ihrem Sound-Check begonnen. Weil alle vergessen haben, dass sie vorhin schon gespielt haben«, bemerkte Lulu unverhohlen skeptisch.

»Keine Ahnung. Vielleicht wollen sie noch mal auftreten. Und deshalb ist Sophie auch zurückgegangen, um wieder Flöte zu spielen.« Erneut durchfuhr mich ein Stich der Eifersucht bei der Erinnerung daran. »Und sie hat die Doppel-Ds angerufen, damit die zuhören. Und die haben Samuel wieder mitgebracht. Und …« Ich unterbrach mich, weil mir selbst langsam die Erklärungen ausgingen.

»Klar«, wiederholte Lulu. »Klingt alles total logisch.«

Mehrere Leute kamen durchs Schultor, musterten verwundert die beiden Mädchen, die zwischen Tupperdosen auf dem Schulhof hockten, und liefen weiter zur Sporthalle. Energisch sprang Lulu auf, als hätte sie soeben einen Entschluss gefasst, und sammelte die Tupperdosen ein, die – wie ich ungläubig bemerkte – bis oben hin voll mit Törtchen waren.

»Wir gehen da jetzt rein«, erklärte sie entschieden. »Dann werden wir ja sehen, was los ist.«

»Okay«, erwiderte ich zögernd, bewegte mich aber nicht von der Stelle.

»Claire«, rief Lulu ungeduldig. »Komm schon. Was soll denn passieren?«

Keine Ahnung, wollte ich erwidern und Lulu sagen, dass genau da das Problem lag. Aber dann riss ich mich zusammen. Es war albern anzunehmen, dass überhaupt etwas Außergewöhnliches passieren würde. Es musste eine einfache Erklärung für all das geben, und die würden wir nur finden, wenn wir zurück in die Sporthalle gingen. Also folgte ich meiner Freundin.

Am Eingang stand noch immer Frau Dr. No Wache.

»Ihr könnt den Kuchen da vorne aufs Buffet stellen«, erklärte sie uns, kaum hatten wir die Halle betreten. Mit offenen Mündern starrten wir sie an.

»Ich sagte, ihr könnt den Kuchen da vorne aufs Buffet stellen«, wiederholte Frau Dr. No streng.

Ich packte Lulu am Arm und zog sie ohne ein Wort zum Buffet.

»Viel Spaß, ihr zwei«, rief Frau Dr. No uns hinterher.

»Das ist so gruselig«, raunte ich Lulu zu, während wir die Dosen auf dem Buffet platzierten.

»Ziemlich«, erwiderte Lulu, im Gegensatz zu mir klang sie jedoch, als würde ihr das gefallen.

Ich riskierte einen Blick Richtung Bühne, und wie ich bereits befürchtet hatte, entdeckte ich dort auf Anhieb Sophie und Lucas, die gemeinsam lachten. Immerhin war ich dieses Mal auf den Anblick vorbereitet, was ihn natürlich nicht besser machte.

»Lecker, ich mag Mohn!«

Ohne dass ich ihn bemerkt hatte, war Samuel neben Lulu und mir am Buffet aufgetaucht. Na klar. Und genau wie vorhin griff er nach dem dreckigen Sahnetörtchen, das ich an diesem Abend schon ein paarmal vom Boden aufgesammelt hatte. Mist!

»Stopp!«, rief ich, ohne darüber nachzudenken, und schlug Samuel das Törtchen zum zweiten Mal an diesem Tag aus der Hand. Aber dieses Mal konnte ich ihn unmöglich noch einmal mit der Erklärung abspeisen, dass die Mohntörtchen für die Lehrer reserviert waren.

»Die sind, äh, gar nicht gut für deine Figur«, improvisierte ich schnell. »Als Sportler musst du doch besonders darauf achten, was du isst, oder? Proteine und so, Low-Carb, was weiß ich, auf jeden Fall keinen Zucker. Und diese Törtchen enthalten massenweise Zucker!«

»Ach, echt?« Samuel grinste leicht ironisch. »Na ja, recht hast du ja. Danke. Morgen hätte ich das bestimmt bereut.«

»Äh, gern geschehen«, erwiderte ich perplex, als Samuel sich umdrehte, um auf die Tanzfläche zu gehen. Und erst, als ich mich zu Lulu wandte, die Samuel mit düsterer Miene hinterherschaute, machte es in meinem Kopf klick.

Was, dachte ich plötzlich, wenn das hier gerade wirklich die Wiederholung wäre? Was, wenn Samuel gerade nicht zum zweiten Mal versucht hätte, das dreckverseuchte Törtchen zu essen, sondern zum ersten Mal? Was, wenn Frau Dr. No nicht unter Demenz litt, sondern sich nur deshalb nicht daran erinnern konnte, dass sie uns bereits viel Spaß gewünscht hatte, weil sie es noch gar nicht getan hatte? Was, wenn Sophie und die Doppel-Ds nicht zurückgekommen waren, sondern gerade zum ersten Mal angekommen waren, als sie ihre dummen Sprüche machten?

Was, wenn das hier tatsächlich so eine Murmeltier-Sache war?

Wenn das so war, dann hatte meine Freundin gerade die Chance verpasst, mit dem Jungen zu tanzen, den sie seit Monaten still und heimlich anbetete. Und das womöglich bloß, weil ich mich anders verhalten hatte als beim ersten Mal. Obwohl ich nicht ganz so viel von Mr. Micky Maus hielt wie sie, wollte ich auf keinen Fall riskieren, ihr diese einmalige Chance verdorben zu haben.

»Geh ihm nach.« Ich schob Lulu Richtung Tanzfläche.

»Was?« Lulu stemmte sich gegen meine Hände. »Und was soll ich ihm sagen?«

»Gar nichts. Du sollst nur mit ihm tanzen.«

»Aber was, wenn er nicht will?«

»Na, vorhin wollte er doch, oder? Warum sollte er also jetzt nicht wollen?«

Ich schob energischer.

»Lulu«, sagte ich eindringlich. »Ich hab keine Ahnung, was hier gerade passiert. Doch so wie es aussieht, kriegst du eine zweite Chance. Alles richtig zu machen, meine ich.«

Lulu nickte langsam, als würde es nun auch bei ihr klick machen.

»Du hast recht«, sagte sie und ihre Augen begannen zu leuchten. Dann drückte sie mir einen schnellen Kuss auf die Wange und eilte endlich ihrem Schwarm hinterher.

Ich lehnte mich gegen das Buffet und konnte nicht aufhören, den Kopf über diese ganze seltsame Situation zu schütteln. Die Band spielte exakt dieselben Songs, die sie auch schon zuvor gespielt hatte, was man sich natürlich auch damit erklären konnte, dass das ihr übliches Bühnenprogramm war. Aber ich glaubte nicht mehr, dass das der Grund war …

Ich nahm den Anhänger in die Hand und betrachtete ihn. Die Uhr zeigte Viertel vor acht, genau wie die große Sporthallenuhr. Was war hier bloß los? Mit dem Finger zeichnete ich die verschlungenen Gravuren nach und dachte daran, wie sich Lulus und mein Anhänger für einen kurzen Augenblick verbunden hatten, als wir uns umarmten. An den Stromschlag, der uns erwischt hatte. Und ich überlegte, ob das damit zusammenhängen konnte, dass irgendetwas Komisches mit der Zeit passiert war …

Was war das für ein seltsames Schmuckstück, das meine Großmutter mir da hinterlassen hatte?

In diesem Moment begann die Band, eine Ballade zu spielen. Ich ahnte bereits, was mich erwartete. Es war dasselbe Lied, das mir zu Beginn der Party bereits den ganzen Abend verdorben hatte. Ich seufzte.

Das war der mit Abstand schrägste und zugleich schlimmste Geburtstag meines Lebens. Das Ganze war ein Albtraum! Ich kniff mich selbst in den Arm. Autsch! Nein, es war natürlich kein Traum.

Doch dann machte es noch mal klick in meinem Kopf. Und plötzlich hatte ich eine ganz vage Idee. Was hatte ich Lulu gesagt: Das hier ist deine zweite Chance … Wenn das stimmte, also, wenn diese ganzen seltsamen Ereignisse so eine Murmeltier-Sache waren, dann bedeutete das womöglich, dass ich auch eine zweite Chance bekam!

Und dass ich mir keine bewusstseinsverändernden Medikamente besorgen musste, um Lucas’ Erinnerung an die größte Peinlichkeit meines Lebens auszulöschen. Sondern dass ich einfach nur verhindern musste, dass sie erneut passierte. Die Frage war bloß: wie?

Dummerweise sah ich Sophie mit Lucas im Schlepptau auf mich zusteuern, bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte, geschweige denn eine Antwort auf diese drängende Frage gefunden hatte.

»Hi, Claire«, begrüßte sie mich zuckersüß. »Das ist Lucas.«

Ich seufzte. Der Satz wurde im zweiten Anlauf nicht gerade intelligenter.

»Lucas hat mich nach dem Weihnachtskonzert gefragt, ob ich bei Echtzeit mitmachen möchte, weißt du«, fuhr Sophie fort. Als sie anfing, mir die Geschichte mit dem Song, den Lucas extra für sie geschrieben hatte, noch mal unter die Nase zu reiben, beschloss ich, einfach zu gehen.

»Sorry«, sagte ich und wollte mich an Sophie vorbeischieben. »Das ist echt eine spannende Story, aber ich muss mal.« Leider drängelten sich mittlerweile so viele Leute vor dem Buffet, dass mir die Flucht nicht so einfach gelang.

»Ich hol mir mal was zu trinken«, sagte Lucas und ging weg, drehte sich aber nach ein paar Schritten noch einmal um. »Soll ich dir was mitbringen?«, fragte er Sophie.

»Eine Cola light, bitte«, antwortete Sophie.

Und dann, ich konnte es kaum glauben, schaute Lucas mich unvermittelt an.

»Möchtest du auch etwas?«

Wie bitte? Hatte ich mich verhört?

»Äh, ich nehme dasselbe«, stammelte ich perplex über diese überraschende Wendung.

Doch kaum war Lucas zum Getränkestand verschwunden, fuhr Sophie in ihrem Drehbuch fort: »Ist er nicht einfach großartig?«

Ich hätte ihr so gern ihr Gurkengrinsen aus dem Gesicht gewischt. So schrecklich gern. Oder sie einfach stehen lassen. Aber das konnte ich schlecht machen, nachdem ich Lucas gebeten hatte, mir eine Cola mitzubringen. Was würde er von mir denken, wenn ich jetzt einfach abhaute?

Ich schaute auf den Boden, um Sophies Gurkengrinsen nicht länger ertragen zu müssen. Und was entdeckte ich da? Das Sahnetörtchen! Natürlich! Es grenzte wirklich an ein Wunder, dass noch niemand das arme kleine Törtchen zu Matsch getreten hatte. Ich bückte mich und hob es auf, um es dieses Mal wirklich zu entsorgen. Irgendwie hatte ich inzwischen eine gewisse Verbundenheit mit diesem Törtchen entwickelt.

»Bist du so süchtig nach Süßigkeiten, dass du jetzt sogar schon das isst, was auf dem Boden liegt?«, zog Sophie mich erneut auf, kaum stand ich wieder vor ihr. »Wenn du nicht ein bisschen mehr auf deine Figur achtest, wird sich nie ein Junge wie Lucas für dich interessieren.«

Ich atmete tief durch. Leider hatten Sophies Worte auch im zweiten Durchgang noch die gleiche vernichtende Wirkung auf mich. Ich hätte meine Stiefschwester erwürgen können, doch gleichzeitig musste ich den Kloß in meinem Hals hinunterwürgen, weil ich insgeheim befürchtete, dass sie damit recht hatte.

»Wenn Lucas sich tatsächlich bloß für Äußerlichkeiten interessiert, dann ist er bei dir ja genau an der richtigen Adresse«, fuhr ich meine Stiefschwester an. »Denn ein Herz sucht er bei dir vergeblich.« Und damit schob ich mich endgültig an ihr vorbei.

Aber Sophie war offenbar noch nicht mit mir fertig.

»Er mag mich wirklich, weißt du«, rief sie, lief mir hinterher und baute sich erneut vor mir auf. »Lucas, meine ich.«

»Schön. Mir egal.« Wieder drängte ich mich an ihr vorbei. Wieder schob sie sich vor mich.

»Glaubst du wirklich, dass ich dir das abnehme?«, zischte sie. Und mich packte das blanke Entsetzen. Denn genau in diesem Moment tauchte Lucas mit drei Cola-Gläsern hinter ihr auf. Mein Blick flackerte zu ihm, dann zurück zu Sophie, die für ihren nächsten Satz tief Luft zu holen schien. Sie hatte Lucas offensichtlich noch nicht bemerkt.

Laut fuhr sie fort: »Ich weiß genau …«

Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass alles in Zeitlupe ablief.

»… dass du …«

Lucas kam einen Schritt näher. Ganz sicher konnte er jetzt deutlich verstehen, was Sophie sagte.

»… bis über beide Ohren …«

Er stand neben ihr. Schaute aber aus irgendeinem Grund mich an. Ich hörte Sophies Stimme und wusste ganz genau, was sie jede Sekunde sagen würde. Und mir wurde klar, dass ich keine Chance mehr hatte, rechtzeitig zu verschwinden. Außer ich schaffte es, mich in Luft aufzulösen.

»… in …«, fuhr Sophie unbarmherzig fort und auf ihrem Gesicht breitete sich wieder das teuflische Gurkengrinsen aus. Ich spürte mein Herz rasen. Mein Wunsch, ihr das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, überwog noch den Wunsch, mich in Luft aufzulösen. Auf jeden Fall musste ich verhindern, dass Sophie mein Geheimnis noch einmal ausplauderte. Und zwar ziemlich schnell. Und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich machte einen Schritt nach vorn, hob in der Bewegung meine Hand, in der ich das dreckige Törtchen hielt, und drückte es meiner Stiefschwester mit einer für meine Verhältnisse erstaunlichen Zielsicherheit direkt in den Mund.

»Ups, sorry«, sagte ich. »Ich muss gestolpert sein. Ich habe heute wohl wirklich ein Problem mit der Schwerkraft.« Dann drehte ich mich auf dem Absatz meiner Sneakers um und drängte mich zwischen den Umstehenden hindurch. In meinem Rücken brach Sophie in einen unverständlichen Wutanfall aus.

Das hatte gutgetan! Aber so was von! Während ich mich über die Tanzfläche kämpfte, um Lulu zu suchen, spürte ich ein Gefühl des Triumphs. Ich hatte Sophie sprachlos gemacht. Und damit das Schlimmste verhindert. Gut, meine Stiefschwester kannte zwar mein Geheimnis. Aber ich hoffte, dass sich so schnell keine Gelegenheit mehr ergeben würde, bei der sie es Lucas verraten könnte.

Jetzt musste ich nur noch Lulu finden und dann würden wir endlich gemeinsam feiern! Es war bloß schade, dass ich Lulu nichts von dem, was gerade passiert war, erzählen konnte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Freundin schließlich fand. Auf der Tanzfläche war sie nämlich nicht. Stattdessen hatten sie und Samuel sich in die dunkelste Ecke neben dem Buffet verdrückt, und was sie dort taten, sah für mich ganz und gar nicht nach einer tiefgründigen Unterhaltung aus.

Ich räusperte mich so lange lautstark, bis Lulus Lippen sich schließlich von Samuels Mund lösten.

»Hey, Süße«, begrüßte Lulu mich und schaute mich mit einem Blick an, als befände sie sich gar nicht in unserer Welt. »Alles klar?« Es schien ihr schwerzufallen, sich von Samuel zu trennen, und sei es nur für ein paar Sekunden, doch dann kam sie zu mir und zog mich ein Stück zur Seite.

»Du guckst irgendwie komisch«, stellte sie fest. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles in Ordnung«, erwiderte ich mit Nachdruck und bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Meine Freundin kannte mich einfach zu gut, aber ich konnte ihr wirklich nicht erzählen, was gerade passiert war. Leider. »Und bei dir?«

»Siehst du doch.« Lulus Gesichtsausdruck war alles andere als neutral, als sie zu Samuel schaute, der neben dem Buffet auf sie wartete.

»Weißt du was?« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, dabei hätte Samuel sie über die laute Musik hinweg ohnehin kaum verstehen können. »Diese seltsame Murmeltier-Sache ist der Hammer! Es ist alles sogar noch viel besser als beim ersten Mal. Er hat mich sogar geküsst!«

»Ja, das war nicht zu übersehen!« Ich lachte über Lulus grenzdebilen Gesichtsausdruck. »Süße, dich hat’s echt erwischt, oder?«

Lulu nickte bloß vehement.

»Und er hat mich wieder gefragt, ob ich noch mit zu seiner Party komme«, raunte sie mir ins Ohr.

»Läuft.« Ich streckte ihr die Hand zum Abklatschen hin und sie schlug ein. Ich hatte recht gehabt. Diese Murmeltier-Sache gab uns beiden eine zweite Chance.

»Du.« Lulu druckste ein bisschen herum. »Ich würde echt gerne hingehen.«

»Du meinst die Party bei Samuel?«

Wieder nickte Lulu.

»Oookay«, machte ich und schluckte. Ich konnte Lulu gut verstehen. Wirklich. Und ich freute mich auch riesig für sie. Wirklich. Aber ich hatte mich auch darauf gefreut, nach der Schulparty bei ihr zu übernachten und die ganze Nacht mit ihr zu quatschen.

»Du kannst mitkommen. Samuel hat bestimmt nichts dagegen«, schlug Lulu eilig vor, als sie mein Zögern bemerkte. »Und ich fänd’s toll. Ohne dich würde es nur halb so viel Spaß machen!« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie.

»Ach, Süße, das geht doch nicht«, wandte ich ein. »Deine Mutter dreht durch, wenn wir nicht pünktlich um zehn zur Abholung bereitstehen.« Dass ich gar nicht so scharf darauf war, zu Samuels Privatparty zu gehen, sondern viel lieber mit meiner Freundin eine Pyjamaparty feiern wollte, erwähnte ich nicht extra.

»Ich weiß.« Lulu seufzte abgrundtief. »Aber es muss doch eine Möglichkeit geben! Er darf auf gar keinen Fall wieder die Doppel-Ds einladen …«

»Das wird er bestimmt nicht machen«, versuchte ich meine Freundin aufzuheitern. »Jetzt, wo ihr euch schon geküsst habt.«

»Trotzdem.« Lulu wirkte nicht überzeugt. »Ich würde soooo gerne hingehen. Aber weißt du was?« Plötzlich war Lulu ganz aufgekratzt. »Ich hab eine Idee. Wir rufen meine Mam an und sagen ihr, dass wir spontan beschlossen haben, dass ich bei dir übernachte.«

»Oookay«, machte ich wieder. So ganz konnte ich Lulus Plan noch nicht folgen. »Und was bringt das?«

»Na ja, das machen wir natürlich nicht«, erklärte Lulu aufgeregt. »Stattdessen gehen wir zu Samuel. Deine Eltern denken, du schläfst bei mir, und meine Mam glaubt, ich schlafe bei dir. Aber in Wirklichkeit übernachten wir beide bei Samuel! Genial, oder?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich zögerlich.

»Ach, Clairchen, komm schon«, versuchte mich Lulu, die Feuer und Flamme für ihre Idee war, zu überzeugen. »Die anderen übernachten auch alle dort. Es ist also nichts dabei.«

»Und wenn etwas schiefgeht?«, gab ich zu bedenken.

»Was sollte denn schiefgehen?«, fragte Lulu ungeduldig.

»Deine Mutter könnte bei uns anrufen oder meine Eltern bei euch. Und wenn wir dann verschwunden sind, dann rufen die doch sofort die Polizei!«

»Ja, das stimmt.« Lulu warf einen äußerst enttäuschten Blick in Samuels Richtung, der mittlerweile gelangweilt auf seinem Handy herumtippte. Von einer Sekunde auf die andere wirkte sie am Boden zerstört.

»Du möchtest das unbedingt, oder?«, fragte ich.

Lulu nickte bloß unglücklich.

Da gab ich mir einen Ruck.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte ich. »Ich fahre mit dem Bus nach Hause, und du sagst deiner Mutter, dass du bei mir übernachtest. Ich nehme das Telefon einfach mit in mein Zimmer, und falls deine Mam anruft, dann behaupte ich, du würdest tief und fest schlafen.«

»Das würdest du für mich tun?« Lulu sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Wirklich?«

»Klar.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dafür sind beste Freundinnen doch da, oder?«

»Oh, Clairchen!« Lulu fiel mir um den Hals und drückte mich fest. »Du bist einfach die allerallerallerbeste Freundin der Welt!«

»Das mach ich gern für dich.«

Doch plötzlich schien Lulu noch etwas einzufallen. »Aber was sagst du, wenn deine Eltern wissen wollen, wieso du nicht wie geplant bei mir übernachtest?«

»Dann behaupte ich einfach, wir hätten uns gestritten.« Ich zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Als ob das jemals passieren würde!« Lulu lachte übermütig, führte ihre Hand vom Herz an die Lippen und warf mir einen Luftkuss zu.

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