Читать книгу Zurück auf Gestern - Katrin Lankers - Страница 12

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Schon ein normales Sonntagsfrühstück im Hause Fischer war eine anstrengende Angelegenheit. Es war das einzige Frühstück mit der ganzen Familie, weil mein Vater unter der Woche meist auf Dienstreise war und meine Stiefmutter und Sophie dann bloß einen giftgrünen Power-Smoothie zu sich nahmen.

Sonntags deckte Sylvia den Tisch, als würde sie einen Reporter von »Schöner Wohnen« erwarten, um meinen Vater mit gestärkten Servietten und üppigen Blumen über das magere Angebot hinwegzutäuschen. Und der tat ihr zuliebe so, als hielte er Null-Prozent-Fett-Käse und Hundert-Prozent-Vollkorn-Brötchen für einen Hochgenuss.

Sophie ernährte sich ohnehin ausschließlich von Obst, und rechnete mir bei jedem Bissen vor, wie viele Kalorien ich zu mir nahm. Vermutlich hätte ich das Frühstücken längst aufgegeben, wenn es dabei nicht doch etwas zu essen gäbe.

An diesem Tag aber gab es zusätzlich zu viele Tretminen, die das Potenzial hatten, dieses spezielle Frühstück in eine absolute Katastrophe zu verwandeln: das Törtchenattentat. Die Übernachtungslüge. Und natürlich die Sache mit dem magischen Anhänger.

Man kann sich also vorstellen, dass ich ziemlich angespannt war, als ich mich auf meinen Platz neben Paps setzte. Der drückte mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, holte ein großes Glas Schokocreme hinter seinem Rücken hervor und platzierte es mitten in Sylvias Null-Prozent-Zucker-Hundert-Prozent-BioIdylle.

»Das habe ich für meine Süßen aus der Schweiz mitgebracht.« Er zwinkerte mir zu.

»Du weißt genau, dass wir so etwas nicht essen, Bernd. So viel Zucker ist nicht gesund für uns.« Demonstrativ stieß meine Stiefmutter einen spitzen Finger in den winzigen Bauchansatz meines Vaters. Ich unterdrückte ein Seufzen und spürte, dass Lulu stumm kicherte.

»Nun sei mal nicht so, Sylvieschatz. Ist doch eine absolute Ausnahme.« In der Prä-Sylvia-Ära gab es bei uns eine Schokoschublade, die niemals leer war. Heutzutage hielt sich Paps leider meist an Sylvias Null-Zucker-Politik – wie auch sonst an so ziemlich jede Regel, die sie aufstellte. Wobei ich ihn im Verdacht hatte, sich seine Dosis einfach in den Hotels zu holen, in denen er übernachtete.

Mein Vater arbeitete für eine Firma, die hochspezielle Dichtungssysteme herstellte. Er verdiente sein Geld damit, Unternehmen im Ausland davon zu überzeugen, dass sie genau diese Dichtungen brauchten. Ich fragte mich manchmal, weshalb er all diese Kunden von der Notwendigkeit exakt dieser Dichtungen überzeugen konnte, nicht jedoch seine eigene Frau von der überlebenswichtigen Notwendigkeit von Schokolade.

»Pff«, machte Sylvia. Es klang, als wäre eine ihrer Dichtungen nicht ganz dicht, aber wenigstens ließ sie die Schokocreme stehen. Schnell schnappte ich mir das Glas, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. Lulu goss sich Kaffee in meine Tasse ein.

»Ich bin etwas überrascht, dich zu sehen.« Sylvia stand auf und holte ein weiteres Gedeck, das sie mit einem gekünstelten Lächeln vor Lulu hinstellte. »Ich dachte, ihr hättet Streit.«

»Ich konnte nicht schlafen wegen des Streits. Deshalb war ich ganz früh da, um mich mit Claire zu versöhnen«, log Lulu und machte ein übertrieben unglückliches Gesicht. Ich hoffte bloß, dass Sylvia das nicht auffiel.

»Guten Morgen.« Sophie wehte herein, frischer als der Sommerblumenstrauß auf dem Tisch. Sie lächelte meinen Vater und Sylvia an, ignorierte Lulu und bedachte mich mit einem mörderischen Blick.

»Wie war denn die Party?« Mein Vater schob mir die Schokocreme wieder zu, nachdem er sein Brötchen bestrichen hatte. Ich hielt die Luft an.

»Der Auftritt der Band war ein voller Erfolg.« Sophie schnitt einen Apfel in schmale Spalten und ordnete diese auf ihrem Teller in einem Kreis an.

Ich nahm einen großen Bissen von meinem Schokobrötchen.

»Also ich hätte mir das nicht zweimal anhören müssen«, warf Lulu ein.

Ich verschluckte mich beinahe an dem Brötchen. Mein Vater runzelte irritiert die Stirn. Verstohlen trat ich Lulu unter dem Tisch gegen das Schienbein.

»Die Jungs wollen mich unbedingt beim Auftritt im Alten Wartesaal nächste Woche dabeihaben.« Sophie nahm sich eine Handvoll Erdbeeren, halbierte jede davon und drapierte sie hoch konzentriert auf den Apfelspalten. Doch ich hatte den Eindruck, dass sie mich verstohlen dabei beobachtete. Ich schluckte schwer und biss erneut in das Brötchen.

»Was ist das für ein Auftritt?«, erkundigte sich meine Stiefmutter wenig begeistert und nippte an ihrem grünen Tee. »Solltest du jetzt nicht besser für das Mathematik-Kolloquium lernen?«

»Ach, Mama, das findet doch erst in drei Wochen statt.« Sophie rundete die Obstdekoration mit mehreren Scheiben Honigmelone ab. Das Ganze sah aus wie eine exotische Blume, und ich fragte mich, ob sie es essen oder öffentlich ausstellen wollte.

»Trotzdem.« Sylvia wiegte den Kopf hin und her. »Du hast es bis in die Finalrunde geschafft. Darauf solltest du dich bestmöglich vorbereiten, oder nicht?«

»Ja, natürlich, Mama.« Sophie schob die Melonenstücke auf ihrem Teller hin und her.

Ich rollte mit den Augen. Der Mathematikwettbewerb war aktuell Sylvias Lieblingsthema. Frau Dr. No hatte Sophie angemeldet. Und nachdem meine Stiefschwester sich durch die ersten beiden Runden gerechnet hatte, würde sie nun gegen die größten Nerds des ganzen Landes antreten.

Der Wettbewerb fand im Rahmen des Jahrestreffens der Deutschen Mathematischen Gesellschaft statt, das in diesem Jahr in unserer Stadt abgehalten wurde. Eine Veranstaltung, die im Normalfall komplett an mir vorbeigegangen wäre.

Doch Frau Dr. No war irgendwie an der Organisation des Treffens beteiligt. Deshalb hatte sie in unserer Klasse gefragt, wer sich mit einem Job an der Garderobe oder im Service ein bisschen Geld dazuverdienen wollte. Lulu fand, das wäre eine gute Gelegenheit, um unser Erspartes aufzubessern, und hatte mich schließlich dazu überredet. Auch wenn ich mit meinem Taschengeld eigentlich auskam – im Gegensatz zu Lulu, die wegen ihrer Shoppingsucht ständig knapp bei Kasse war –, wollte ich ihr den Gefallen nicht abschlagen.

»Ich kann trotzdem für das Kolloquium üben«, versuchte Sophie, ihre Mutter zu überzeugen. »Auf den Bandauftritt muss ich mich ja nicht vorbereiten.«

»Nun lass ihr doch den Spaß, Sylvieschatz«, ergriff mein Vater für Sophie Partei.

»Dass du sie unterstützt, war ja klar«, entgegnete Sylvia bissig. »Du weißt eben nicht, was es bedeutet, wenn das eigene Kind hochbegabt ist. Das ist eine große Verantwortung.«

»Natürlich.« Wieder zwinkerte mein Vater mir zu. Mein Paps hatte in der Schule eine Ehrenrunde gedreht – aus purer Faulheit, wie er betonte.

»Was ist eigentlich mit dem Anhänger passiert?«, fragte Sophie plötzlich. Vermutlich wollte sie vom Thema ablenken. Mit spitzem Finger deutete sie erst auf meine und dann auf Lulus Brust. »Habt ihr ihn etwa schon kaputt gemacht?«

Ich wollte protestieren, doch ich hatte den ganzen Mund voller Schokobrötchen. Ich schluckte eilig, um zu widersprechen, aber natürlich verirrte sich ein Krümel in meine Luftröhre und statt einer schlagfertigen Antwort kam nur ein ersticktes Röcheln heraus, gefolgt von einem keuchenden Husten.

»Blödsinn«, mischte Lulu sich schnell ein, als sie meine Notlage erkannte, und hämmerte mir unsanft auf den Rücken. Mein Vater hielt mir ein Glas Wasser hin.

»Ich habe mich nur gefragt, ob Claire vorsichtig genug mit einem so wertvollen Familienerbstück umgeht«, hörte ich Sophie zwischen zwei Hustenanfällen. »Und weil ich die Verantwortungsbewusstere bin, dachte ich …«

Ich hatte es geahnt! Das war ihre Rache für die Törtchenattacke, noch viel hinterhältiger und gemeiner, als ich es erwartet hatte.

»Du … bist …«, presste ich hervor. Aber die Worte »hinterhältig« und »gemein« gingen in einem erneuten Hustenanfall unter.

»Stimmt das?« Mein Vater maß mich mit einem intensiven Blick. »Habt ihr den Anhänger wirklich zerbrochen?«

Wieder schluckte ich. Und dieses Mal hörte das Husten zum Glück endlich auf.

»Natürlich nicht«, erklärte ich so überzeugend wie möglich.

»Es waren von Anfang an zwei Hälften«, sprang Lulu mir bei. »Sie waren nur …«

» … ineinander verhakt«, vollendete ich schnell den Satz, bevor Lulu von Magnetismus und Magie anfangen konnte.

»So, so.« Mein Vater legte den Kopf schräg und blickte von mir zu Lulu und wieder zu mir zurück.

»Wirklich«, betonten wir einstimmig.

»Ich habe dir gleich gesagt, dass so ein altes Familienerbstück nicht in die Hände einer unreifen Fünfzehnjährigen gehört«, mischte sich nun zu allem Überfluss auch noch meine Stiefmutter ein. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie fand, dass solch ein Familienerbstück ausschließlich in ihre eigenen Hände gehörte.

»Ja, das hast du.« Mein Vater tätschelte ihren Arm. »Und ich weiß deine Besorgnis zu schätzen. Doch wie ich dir bereits erklärt habe, ist das nicht meine Entscheidung.«

Sylvia verzog den Mund zu einem schmalen Strich. Offenbar hatte es bereits eine Diskussion über den Anhänger gegeben. Vermutlich hatte sie versucht, Paps zu überreden, das Schmuckstück lieber Sophie statt mir zu schenken.

»Mama hat in ihrem Testament eindeutig festgelegt, dass Claire diesen Anhänger bekommen soll. Und nicht Sophie.« Paps warf meiner Stiefschwester ein entschuldigendes Lächeln zu. »Übrigens«, fuhr er an mich gewandt fort, »ich habe den Brief deiner Großmutter in meinen Unterlagen gefunden.«

Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und verließ das Zimmer. Die zähe Stille, die sich daraufhin über den Tisch senkte, hätte man mit dem Buttermesser schneiden können. Die Blicke, die mich von allen Seiten trafen, waren dafür umso aussagekräftiger. Zum Glück kam mein Vater schnell zurück.

»Hier.« Er überreichte mir einen wattierten Umschlag, auf dem in der gestochenen Handschrift meiner Großmutter mein Name stand. Ich schluckte erneut.

»Danke.« Kaum hielt ich den Umschlag in Händen, hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte so schnell wie möglich einen Blick hineinwerfen.

»Ich hab keinen Hunger mehr«, erklärte ich deshalb und schob den Teller mit der zweiten, unangetasteten Brötchenhälfte von mir weg.

»Das ist ja mal was ganz Neues«, raunte Sophie, aber ich ignorierte sie einfach.

»Ist es okay, wenn ich aufstehe?«, fragte ich. Und noch bevor mein Vater nickte, stand Lulu ebenfalls schnell auf.

»Ich bin auch fertig.« Sie deutete auf ihren unbenutzten Teller. »Wie man sieht.«

Im Nullkommanichts rannten wir die Treppe hinauf und warfen uns wieder auf mein Bett.

»Das ist so wahnsinnig aufregend«, sagte Lulu gespannt. »Los, mach schon auf!«

Doch nun zögerte ich plötzlich. Für mich war es nicht einfach nur aufregend. Für mich war dieser Brief das letzte Vermächtnis meiner Großmutter.

»Sie hat gewollt, dass du ihn öffnest.« Lulu spürte meine Stimmung, legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich fest an sich.

Ich wog den Umschlag in der Hand und roch daran. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich einen Hauch von Omilis Parfüm wahrnahm oder ob ich mir das nur einbildete. Ich presste den Brief gegen mein Herz und atmete tief durch.

»Willst du ihn nicht lesen?«, fragte Lulu vorsichtig.

»Doch.« Natürlich wollte ich ihn lesen. Aber gleichzeitig wollte ich den Moment noch ein kleines bisschen hinauszögern.

Lulu drückte mich erneut an sich, und ich spürte ihre Ungeduld, die sie mühsam für mich zu bändigen versuchte. Doch schließlich hielt ich es selbst nicht länger aus.

Vorsichtig schob ich meinen Zeigefinger unter das Dreieck auf der Rückseite des Umschlags, der mit rotem Siegellack verschlossen worden war, und löste behutsam den Lack. Einfach zerreißen wollte ich den Umschlag nämlich auf keinen Fall. Ebenso behutsam zog ich den dicken, gefalteten Briefbogen heraus. Doch noch bevor ich ihn auseinanderfalten konnte, fielen drei Fotos heraus und landeten auf meinen Beinen.

Ich ließ den Brief sinken, um mir zuerst die Bilder anzuschauen. Das erste war schwarz-weiß und hatte einen gezackten Rand wie bei einer Briefmarke. Es zeigte ein kleines Mädchen, das mit ernstem Blick und ohne zu lächeln in die Kamera schaute.

»Das ist sie, glaube ich. Meine Omili.« Ich legte das Foto neben mich und betrachtete das nächste. In verwaschenen Orangetönen zeigte es einen Jungen in braunen Cord-Latzhosen.

»Das ist mein Paps.« Ich musste über das freche Augenzwinkern grinsen, das er offensichtlich schon als Kind perfekt beherrscht hatte. Auch dieses Foto legte ich zur Seite. Als Letztes entdeckte ich ein Bild von mir selbst. Ich erinnerte mich an den Tag, als es gemacht worden war: meine Einschulung.

Zwei blonde Zöpfe standen von meinem Kopf ab, mir fehlten die beiden oberen Vorderzähne, und ich hielt ein riesiges Eis in der Hand, das ich bereits großzügig um meinen Mund verteilt hatte. Mir fiel ein, dass Omili mich auf die Idee gebracht hatte, das Eis durch die Zahnlücke zu saugen, woraufhin ich das halbe Himbeereis über mein neues Einschulungskleid gekleckert hatte. Wir hatten sehr viel gelacht an diesem Tag.

Tränen stiegen mir in die Augen. Wieder drückte Lulu mich ganz fest.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Und jetzt …« Ich atmete tief durch. »Jetzt lese ich wohl am besten mal diesen Brief.«

Meine liebe Kleine,

ich schreibe dir diesen Brief für den Fall, dass ich nicht selbst die Gelegenheit haben werde, dir zu erklären, was es mit unserem besonderen Familienerbstück auf sich hat.

Wenn du dies liest, bin ich nicht mehr bei dir. Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass mir das schrecklich leidtut.

Nicht, weil ich nicht ein ganz wunderbares Leben gelebt habe. Ein Leben, das du noch um so vieles reicher gemacht hast. Sondern nur deshalb, weil ich gern noch ein bisschen länger für dich da gewesen wäre. Wenigstens so lange, bis du selbst erwachsen geworden und aus dem Haus gegangen wärst.

Nun, es sollte wohl nicht sein. Aber ich bin froh um jede Minute, jeden Augenblick, den ich mit dir verbringen durfte. Jeder davon war ein besonderes Geschenk.

Jetzt möchte ich dir sagen, was ich über den speziellen Anhänger weiß, den du zu deinem Geburtstag bekommen hast. Meinen Glückwunsch übrigens, meine Kleine, so groß bist du nun schon.

Es ist Tradition in unserer Familie, dass dieses Schmuckstück immer dann den Besitzer wechselt, wenn die älteste Tochter ihren fünfzehnten Geburtstag feiert. So wurde es festgelegt vor langer Zeit, aber da ich keine eigene Tochter bekommen habe, wie du weißt, sondern nur die Freude hatte, deinen Vater großzuziehen, bist nun du die Nächste in unserer Familie, die den Anhänger erhält. Und solltest du selbst einmal eine Tochter bekommen, dann bitte ich dich, führe die Tradition fort und reiche das Schmuckstück an sie weiter, sobald sie fünfzehn wird.

Wann die Tradition begann und von wem das Schmuckstück stammt, ist eine lange Geschichte, zu lang, um sie in diesem Brief niederzuschreiben. Wenn du mehr darüber erfahren willst, lies Amalias Tagebuch. Darin erfährst du alles über unsere Familienlegende.

Nur so viel: Wenn man den alten Geschichten Glauben schenkt, dann besitzt dieser Anhänger größere Kräfte, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Deshalb pass gut auf ihn auf. Und sei achtsam bei allem, was du damit tust.

Wenn an den Geschichten etwas Wahres ist, dann kann dieser Anhänger dir den Menschen zeigen, der deinem Herzen am nächsten ist. Glaub immer daran, dass es einen solchen Menschen gibt. Einen Menschen, dem du dein volles Vertrauen schenken kannst und der dir das seine schenkt. Der immer für dich da ist. Und mit dem du alles teilst.

Du hast es verdient, einem solchen Menschen zu begegnen, mein Liebling. Und ich bin überzeugt, dass du es eines Tages tun wirst.

Ich liebe dich von ganzem Herzen. Für immer.

Deine »Omili« Olivia

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