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»Oh nein! Claire, es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid, Clairchen. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Wie gesagt: Lulu ist eine Drama-Queen! Sie schlug sich die Hände vor den Mund, raufte sich die Haare und schüttelte dann fortwährend den Kopf, sodass ihre langen Locken flogen.

Ich hingegen war nicht in der Lage, überhaupt irgendetwas zu tun, außer die beiden Teile des zerbrochenen Anhängers auf der bunten Patchwork-Decke anzustarren.

Paps’ Stimme klang mir in den Ohren: »Deine Großmutter hat gesagt, dass du unbedingt gut auf ihn achtgeben sollst.« Und dann Sophie: »Dafür hat sie sich ja genau die Richtige ausgesucht!« Meine besserwisserische Streberstiefschwester hatte recht behalten: Ich hatte es nicht einmal einen Tag lang geschafft, gut auf das Geschenk aufzupassen. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und wischte sie ärgerlich mit dem Handrücken fort.

»Hey, nicht weinen.« Lulu rutschte neben mich und legte mir unsicher einen Arm um die Schultern, wahrscheinlich dachte sie, ich wäre wütend auf sie, weil der Anhänger kaputtgegangen war. Dabei gab ich einzig und allein mir selbst die Schuld daran.

»Es ist nur …« Ich schluckte kräftig und zog die Nase hoch.

So ganz war ich über Omilis Tod noch immer nicht hinweg, obwohl sie mittlerweile seit drei Jahren nicht mehr lebte. Als ich klein war, hatte sie, wie gesagt, bei uns gewohnt und auf mich aufgepasst, wenn mein Vater unterwegs war. Doch als er Sylvia geheiratet hatte, wurde es ziemlich eng in unserem Haus. Und Omili räumte ihr Zimmer für meine blöde Stiefschwester, weil die natürlich ein eigenes benötigte.

Mein Vater hatte noch vorgeschlagen, Sophie und ich könnten uns ja ein Zimmer teilen. Aber darauf hatte Sylvia sehr bestimmt erklärt, dass wir jeder ein eigenes Zimmer bräuchten, um in Ruhe unsere Hausaufgaben erledigen zu können. Ich wurde bis heute den Verdacht nicht los, dass sie bloß einen Vorwand suchte, damit Omili auszog. Und die tat ihr natürlich den Gefallen.

Damit unserem »Patchwork-Glück« nichts im Wege stand, behauptete meine herzensgute Großmutter, sie sei ganz froh, wieder allein leben zu können. Aber sie nahm sich eine Wohnung, die nah genug bei uns war, damit ich zu ihr gehen konnte, wann immer ich das wollte. Und das war oft. Eigentlich fast jeden Tag.

Mit meiner Omili konnte ich über alles reden, ihr jeden Kummer und jede Frage anvertrauen. Und auch wenn sie nicht auf alles eine Antwort hatte, so hatte sie es stets geschafft, mich am Ende wieder zum Lachen zu bringen.

Sie hatte immer gesagt, dass sie eines Tages in ihrem Bett einschlafen und nicht wieder aufwachen wollte, und genau so war es gekommen. Doch so schön ich das für sie auch fand, hätte sie sich für meinen Geschmack mit dem Sterben noch viel, viel mehr Zeit lassen können.

»Du vermisst sie, oder?« Lulu zog mich fest an sich und drückte mich. Ich nickte bloß, weil ich meiner Stimme nicht traute, und atmete tief ein.

Lulu roch immer ein bisschen nach Schokolade, weil sie Schoko-Lipgloss benutzte. Ich fand den Duft tröstlich.

»Okay, lass mal sehen.« Lulu ließ meine Schultern los und nahm behutsam die beiden Hälften des Anhängers in die Hand. »Vielleicht kann man es ja reparieren. Bestimmt sogar. Ich meine, wir haben ja nicht mit einem Hammer draufgehauen oder so. Er ist einfach auseinandergefallen. Wir bringen ihn zu Schnick-Schnack, bestimmt kriegt Alexa das wieder hin … Oh, schau mal!«, unterbrach Lulu sich selbst und hielt mir ihre Handfläche mit der zerbrochenen Kugel unter die Nase. »Das ist ja krass!«

»Was ist denn?« Ich rieb mir über die Augen. Zur Feier des Tages hatte ich Wimperntusche benutzt – aus Sylvias Schminkkoffer, ich gebe es zu – und mittlerweile vermutlich großflächig in meinem Gesicht verteilt.

»Ich glaube, der Anhänger ist gar nicht kaputt.«

»Wie, nicht kaputt?«Vorsichtig nahm ich Lulu die beiden Stücke aus der Hand, ängstlich, dass ich wieder einen Stromschlag bekommen würde. Aber dieses Mal blieben alle elektrischen Spannungen aus.

»Das ist eine Uhr«, stellte ich erstaunt fest.

»Na ja, eher zwei Uhren, würde ich sagen.«

»Stimmt.« Ich betrachtete die beiden Halbkugeln, die ich jeweils zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, genauer. Sie waren exakt gleich. Die Kugel hatte sich genau in der Mitte geteilt, als wäre sie einfach auseinandergeklappt. Jede der Halbkugeln besaß sogar eine eigene Öse. Dadurch, dass die Kugel sich geöffnet hatte, hatte sie zwei Zifferblätter enthüllt, die sich zuvor in ihrem Inneren verborgen hatten. Die Zifferblätter wirkten sehr alt, mit römischen Zahlen und schmalen Zeigern.

»Sieht aus wie eine Taschenuhr«, überlegte ich.

»Ja, aber eine ziemlich komische, oder?«, wandte Lulu ein. »Wer braucht denn zwei Zifferblätter?«

»Vielleicht jemand, der viel verreist?«, rätselte ich. »Damit man den Zeitunterschied einstellen kann und immer weiß, wie spät es gerade zu Hause ist? Mein neues Handy kann das auch.«

»Meinst du?« Lulu zog schon wieder einen Kussmund. »Und wie klappt man die beiden Teile jetzt wieder zusammen? Ich sehe keine Scharniere oder so etwas.«

»Keine Ahnung.« Ich drehte die Kugelhälften hin und her und legte die glatten Flächen schließlich aufeinander, sodass wieder eine vollständige Kugel entstand. Die beiden Zifferblätter waren so eingearbeitet, dass sie sich dabei nicht im Wege waren. Trotzdem ließen sich die zwei Hälften nicht mehr aneinander befestigen.

»Komisch. Vorhin hingen sie doch noch fest zusammen.« Ich drückte und drehte, aber jedes Mal, wenn ich die Hände ein Stück auseinandernahm, lösten sich auch die Hälften voneinander. Während ich zuvor noch den Eindruck gehabt hatte, eine solide Kugel in Händen zu halten, schienen die beiden einzelnen Teile nun alles andere als gewillt, sich wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.

»Sehr komisch«, bestätigte Lulu. »Vielleicht eine Art Magnetismus?«

»Wenn es ein Magnetismus ist, dann funktioniert er jedenfalls nicht mehr.« Ich zuckte mit den Schultern. Die Tatsache, dass die beiden Hälften offenbar von Anfang an getrennt gewesen waren, wir den Anhänger also nicht zerbrochen hatten, beruhigte mich so sehr, dass ich mich nun nicht darum sorgte, wie man sie wieder miteinander verbinden konnte. Ich würde den Anhänger in den nächsten Tagen zu Alexa bringen und ihn reparieren lassen, falls das möglich war. Vielleicht konnte mir Omilis Freundin sogar mehr über dieses besondere Schmuckstück erzählen. Immerhin kannte sie sich mit Schmuck aus.

Und dann hatte ich plötzlich eine Idee.

»Gib mir mal deine Kette«, bat ich Lulu.

»Wieso?«

»Gib einfach her.«

Zögerlich zog sie sich die gedrehte Kette über den Kopf, die ich ihr erst kurz zuvor umgehängt hatte, und reichte sie mir.

»Was hast du vor?«

»Versuch es doch wenigstens mal für einen kleinen Moment mit Geduld«, wimmelte ich sie ab, legte die eine Halbkugel auf meinem Schoß ab und fädelte die Kette von Lulu in die andere.

»Das ist für mich ein Fremdwort und mit Fremdwörtern hab ich es nicht so«, moserte Lulu. Doch ihr skeptischer Gesichtsausdruck wich einem breiten Lächeln, als ich ihr die Kette zurückgab, an der nun eine der Halbkugeln baumelte.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Ich mache das nur, um zu verhindern, dass du in diesem knallroten Ding auf die Schulparty gehst«, erwiderte ich, nahm meine eigene Kette ab und fädelte die andere Halbkugel darauf, bevor ich sie mir wieder über den Kopf zog. »Du hast gesagt, wenn du den Anhänger tragen darfst, würdest du in Jeans und T-Shirt gehen. Und ich nehme dich beim Wort.«

»Okay, schon gut.« Lulu streckte mir die Zunge raus. »Ich habe verstanden, Miss Stil-Ikone. Ach, und übrigens: danke! Das ist unfassbar lieb von dir.«

Lulu drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. Dann schälte sie sich aus dem Kleid und schlüpfte stattdessen in einen ausgewaschenen Jeansrock mit einem breiten pinken Lackgürtel sowie in ein schwarzes Shirt mit einem pinken Stern aus Pailletten. Von meinem Jeans-und-T-Shirt-Outfit war sie damit natürlich Lichtjahre entfernt, doch im Gegensatz zu der Version Bratschlauch in Rot war sie darin ein Hingucker im besten Sinne.

»Jetzt aber mal ehrlich.« Lulu ließ sich wieder neben mich aufs Bett fallen. »Willst du wirklich, dass wir diese Anhänger heute Abend tragen?« Ihre Finger betasteten vorsichtig die Halbkugel. »Keine Angst mehr, dass sie kaputtgehen?«

»Kaputt sind sie ja nun schon.« Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es richtig ist«, versuchte ich zu erklären. Tatsächlich hatte ich plötzlich sogar das seltsame Gefühl, dass meine Großmutter genau das gewollt hätte. »Diese beiden Halbkugeln sind wie Freundschaftsanhänger. Wie diese Herzen, die man in der Mitte durchbricht, und dann steht darauf Beste Freundinnen oder für immer oder so was. Nur dass unsere Anhänger nicht annähernd so kitschig sind, sondern etwas Besonderes.«

»So wie wir.« Lulu nahm meine Hand und drückte sie.

In diesem Moment flog die Zimmertür auf und knallte gegen Lulus Kleiderschrank.

»Seid ihr bald fertig?« Lucas’ Kopf erschien im Türrahmen. »Wir müssen langsam mal los!«

»Raus!« Lulu schnappte sich ein Kissen und warf es Richtung Tür, aber ihr Bruder war schon wieder verschwunden, nicht ohne die Tür lautstark ins Schloss krachen zu lassen.

»Kannst du nicht anklopfen?«, brüllte Lulu ihm hinterher. »Was, wenn ich nackt gewesen wäre?«

Ein kräftiges Klopfen ließ die Tür erzittern.

»Idiot«, grummelte Lulu. »Sei bloß froh, dass du keinen so blöden Bruder hast wie ich.«


Lieber fünf Brüder wie deinen als eine Stiefschwester wie Sophie, hätte ich widersprechen können. Aber ich hielt sicherheitshalber den Mund. Ich versuchte grundsätzlich, jedes Gespräch mit Lulu über ihren Bruder zu vermeiden. Denn leider war Lucas das einzige Geheimnis, das zwischen Lulu und mir existierte. Beziehungsweise: meine Gefühle für ihn.

Es war wenige Tage nach der Geburtstagsparty passiert, auf der Lulu und ich beste Freundinnen geworden waren. Man muss dazu erklären, dass Lulu an diesem Tag nicht in der Schule gewesen war, sondern mit einer Sommergrippe zu Hause im Bett gelegen hatte. Ansonsten wäre die ganze Sache vermutlich anders abgelaufen.

Ich hatte überraschend meine Tage bekommen und natürlich trug ich eine weiße Jeans, klar … Als ich in der Pause bemerkte, was los war – ich erspare euch an dieser Stelle die buchstäblich blutigen Details –, rannte ich kopflos in die nächste Toilette. Dort hockte ich ziemlich verzweifelt auf dem Klodeckel und grübelte, wie ich diese Kabine je wieder verlassen konnte, ohne mich vor der gesamten Schule zu blamieren. Als ich bemerkte, dass es nicht einmal Toilettenpapier gab, begannen meine Tränen zu laufen. Da hörte ich, dass jemand hereinkam. Na, toll!

»He, was ist los?«, fragte der Jemand. Von einer Sekunde auf die andere wurde mein Elend noch elendiger. Dieser Jemand war ein Junge! Als wäre die ganze Situation nicht schon schlimm genug, war ich aus Versehen in die Jungentoilette gestürmt.

Ich antwortete nicht, sondern zog bloß geräuschvoll die Nase hoch. Hoffentlich ging der Typ weg, wenn ich ihn ignorierte. Doch natürlich wurde mir dieser Wunsch nicht erfüllt.

»Brauchst du Hilfe? Soll ich vielleicht einen Lehrer holen?«, ließ er nicht locker.

»Nein«, quietschte ich. »Auf keinen Fall.«

»Du bist ja ein Mädchen«, stellte der Jemand überrascht fest.

»Sag bloß«, erwiderte ich ironisch und seufzte.

»Und was machst du hier drin?«

»Mädchenprobleme.«

»Oh.« Der Jemand hatte offensichtlich verstanden, um welche Art von Problem es sich handelte. »Kann ich dir trotzdem irgendwie helfen? Brauchst du vielleicht irgendwas?«

»Falls du nicht eine Binde und eine frische Jeans dabeihast, nein, danke«, erwiderte ich mit dem Mut der Verzweiflung.

»Leider nicht.« Der Jemand klang, als täte es ihm tatsächlich leid. »Aber ich könnte dir ein paar Papierhandtücher anbieten. Und meinen Hoodie. Den kannst du dir vielleicht um den Bauch knoten …«

»Ehrlich jetzt?« Plötzlich fühlte ich mich ein bisschen weniger schrecklich.

Statt einer Antwort reichte er mir eine Handvoll Papiertücher und einen Kapuzenpulli über die verschlossene Tür. Einen ziemlich gut riechenden Pulli, wie ich flüchtig bemerkte.

»Danke.« Als ich mir den viel zu großen Hoodie umwickelte, ertönte der Schulgong zum Ende der Pause.

»Kommst du dann jetzt raus?«, fragte der Jemand.

»Ehrlich gesagt, lieber nicht.« So nett der Junge auch gewesen war, war es mir trotzdem viel zu peinlich, ihm persönlich gegenüberzutreten.

»Ich schätze, ich erkenne dich ohnehin an dem Hoodie, oder?«, gab er zu bedenken. »Außerdem hätte ich ihn gerne bei Gelegenheit wieder, ist nämlich mein Lieblingspulli.«

»Oh, richtig.« Er hatte recht, ich würde nicht darum herumkommen, ihm irgendwann ins Gesicht zu sehen. Und so nett, wie er gerade gewesen war, stand wohl auch nicht zu befürchten, dass er mich auslachen würde, wenn ich nun herauskam.

Vorsichtig öffnete ich die Kabinentür. Davor wartete dieser Junge. Etwas älter als ich – wie sich später herausstellte, war er eine Klasse über mir. Etwas zu lange Haare, die ihm in die fast schwarzen Augen fielen. Eine minimal schiefe Nase. Und ein breites Lächeln, das seine Augen blitzen ließ. Es war nicht spöttisch oder gar herablassend. Nein, es war genau die Sorte Lächeln, von der einem ganz warm im Bauch wird.

»Steht dir«, sagte er und deutete auf den Pulli, den ich mir wie einen Rock um die Hüfte geschlungen hatte. In exakt diesem Augenblick verliebte ich mich in Lucas Manuel da Costa Moreira.

Wie er hieß und dass er Lulus Bruder war, erfuhr ich natürlich erst später. Genauer gesagt am nächsten Tag, als ich meine grippekranke Freundin zum ersten Mal zu Hause besuchte. Sie hatte mich vorher schon ausgiebig vor ihrem blöden Bruder gewarnt.

»Lucas glaubt, er wäre der Chef im Haus. Seit meine Eltern sich getrennt haben, ist er nicht mehr auszuhalten. Bildet sich wer weiß was darauf ein, dass er ein Jahr älter ist. Ständig will er mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Räum deinen Kram weg. Beeil dich. Komm aus dem Bad raus. Mach deine Hausaufgaben. Hilf mal ein bisschen mehr im Haushalt mit …« So wie Lulu ihn nachäffte, klang ihr Bruder nach einem echten Ekel.

Dann öffnete er mir die Wohnungstür. Als er mich sah, wirkte er erst überrascht, doch dann lächelte er wieder dieses Warm-im-Bauch-Lächeln. Vielleicht dachte er, ich wollte ihm seinen Pulli zurückbringen, den ich jedoch als Kopfkissen-Ersatz benutzte.

»Da bist du ja!« Lulu flog mir um den Hals. Besonders krank erschien sie mir nicht mehr. »Tut mir leid, dass du als Erstes meinem blöden Bruder begegnen musstest. Ich war leider nicht schnell genug an der Tür.« Sie schickte einen grimmigen Blick in seine Richtung. Dann sah sie zu mir. Und wieder zu ihm.

»Wieso starrt ihr denn so?«, fragte sie irritiert. »Fall bloß nicht auf sein hübsches Gesicht rein«, fügte sie schnell an mich gewandt hinzu. »Er ist nicht so nett, wie er aussieht.«

»Quatsch, ich steh eh nicht auf dunkelhaarige Typen.« Es war heraus, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte. Ich wollte bloß Lulu damit gefallen. Aber als ich versuchte, einen entschuldigenden Blick in Lucas’ Richtung zu schmuggeln, sah ich, wie ihm sein Lächeln aus dem Gesicht rutschte und einem Ausdruck vollkommener Gleichgültigkeit Platz machte. Was seitdem Lucas’ Grundhaltung mir gegenüber zu sein schien. Nicht einmal seinen Pullover hat er je zurückgefordert.

Nachdem ich eine knappe Million Mal darüber nachgegrübelt hatte, war ich mir inzwischen völlig sicher, dass Lucas’ Lächeln nichts, aber auch wirklich gar nichts zu bedeuten hatte. Nur änderte das leider überhaupt nichts daran, dass mein Herz immer noch nicht kapiert hatte, dass es sich nicht lohnte, schneller zu klopfen, bloß weil Lucas das Zimmer betrat, und mein Magen auch immer noch zu blöd war, um nicht zu flattern, bis mir flau wurde. Immerhin schien man mir das innerliche Geflatter und Geklopfe nicht anzusehen. Lulu hatte jedenfalls noch nichts davon gemerkt.

Anfangs erzählte ich ihr nichts, weil ich fürchtete, dass sie mir sofort wieder die Freundschaft kündigen würde, wenn sie von meiner Schwärmerei für die Person erfuhr, die sie am wenigsten auf der Welt ausstehen konnte. Und dann wurde das Geheimnis irgendwie zur Gewohnheit. Es fand sich einfach nie der richtige Zeitpunkt, um Lulu meine Gefühle für Lucas zu beichten.

Mittlerweile fürchtete ich, sie würde es als Hochverrat an unserer Freundschaft betrachten, wenn sie herausbekam, dass ich Lucas keineswegs so unausstehlich fand wie sie. Und dass ich es ihr die ganze Zeit verschwiegen hatte. Deshalb mussten meine Gefühle ein besser gehütetes Geheimnis bleiben als die Geheimakten der CIA und das Originalrezept von Coca-Cola zusammen. Leicht war das nicht gerade. Denn eigentlich erzählten wir uns alles.


»Nicht, dass ich meinem blöden Bruder recht geben wollen würde, aber ich schätze, wir müssen wirklich langsam los.« Lulu betrachtete den Uhrenanhänger. »Es ist schon kurz vor sechs.«

»Funktionieren die etwa?« Ich begutachtete meinen eigenen Anhänger. Die Zeiger standen ebenfalls auf kurz vor sechs. »Muss man die nicht aufziehen, oder so?«

»Vielleicht sind Batterien drin.« Lulu schwang sich vom Bett und streckte mir die Hände hin, um mir hochzuhelfen. Mir erschien es zwar unwahrscheinlich, dass so alte Uhren mit Batterien betrieben sein sollten, doch ich beschloss, dass es im Moment nicht so wichtig war. Vielleicht hatte Alexa ja auch dafür eine Erklärung.

»So gehst du mir aber nicht aus dem Haus.« Lulu begutachtete kritisch mein Gesicht. »Auch wenn ich Pandas süß finde.« Sie kramte in ihrem Nachtschränkchen herum und zog schließlich ein Feuchttuch hervor, mit dem sie unter meinen Augen herumzutupfen begann.

»Schon besser«, erklärte sie schließlich zufrieden, schnappte sich ihren Lipgloss vom Nachttisch und verteilte ihn großzügig auf ihrem Scarlett-Johansson-Mund. Sofort stieg mir der verführerische Schokoladenduft in die Nase.

»Ist eigentlich noch was vom Geburtstagskuchen übrig?«, fragte ich hoffnungsvoll. Sylvia hatte sich mit einem zuckerfreien Dinkel-Vollkorn-Zucchini-Kuchen selbst übertroffen und ich lechzte seit dem Morgen nach einem Gebäck mit mehr als zweieinhalb Kalorien auf hundert Gramm.

»Ob noch was da ist?« Lulu lachte laut. »Meine Mutter hat mal wieder genug für ein ganzes Kinderheim gebacken. Bedien dich ruhig. Die Reste müssen wir ohnehin gleich fürs Buffet in die Schule mitnehmen.«

Lulu hatte nicht zu viel versprochen. In der Küche standen auf dem Tisch schon vier Tupperdosen mit den Ausmaßen von Umzugskartons bereit, die bis oben hin mit Törtchen gefüllt waren. Ich öffnete den Deckel einer Box, sog den süßen Duft ein und ließ die Finger darüber kreisen, wie immer unfähig, mich für eins der köstlichen Küchlein zu entscheiden. Schließlich fiel meine Wahl auf die Pasteis de Nata, Blätterteig-Törtchen, deren Namen man »Pasteisch« aussprach, wie ich mittlerweile wusste, und denen ich wegen ihrer sahnigen Cremefüllung nie widerstehen konnte.

»Erst stundenlang stylen und jetzt auch noch futtern … Auf euch zu warten ist schlimmer als auf den Schulgong. Bei dem weiß man wenigstens, dass er irgendwann kommt.« Lucas schlenderte in die Küche und zog ein genervtes Gesicht. Ein hübsches genervtes Gesicht, das ließ sich leider nicht leugnen.

In seiner löchrigen schwarzen Jeans, einem schwarzen Shirt mit verwaschenem Bandlogo und mit den vom Duschen noch feuchten Haaren sah er nicht gerade abstoßend aus. Mein Herz schlug einen kleinen Trommelwirbel. Aber zumindest mein Pokergesicht schien gut zu sitzen, zumindest bemerkte niemand meinen inneren Aufruhr.

»Hör auf zu stänkern«, fauchte Lulu ihren Bruder an. »Nur weil stylen bei dir bedeutet, in die Luft zu spucken und drunter durchzurennen, musst du dich nicht gleich so aufspielen.«

Lucas verdrehte als Antwort die Augen. Im Augenverdrehen erreichte er olympisches Niveau.

»’usch, ’usch, meine Lieben. Es ist an die Seit.« Marisa wehte in die Küche und wedelte wild mit den Händen, um uns hinauszuscheuchen. Sie war eine kleine, kugelige Person mit scheinbar unerschöpflicher Energie und einem starken portugiesischen Akzent. Was sie nicht daran hinderte, doppelt so schnell zu sprechen wie jeder andere Mensch, den ich kannte.

»Ihr seht sauber’aft aus, meine Schätsschen.« Marisa tätschelte ihrer Tochter die Wange, was Lulu mit einem lauten Seufzen quittierte. Aber ich fand es wunderbar, Marisas »Schätsschen« zu sein.

»Und du, Sohn, ssum anbeisen!« Sie strich Lucas die widerspenstigen Haare aus der Stirn.

»Können wir dann endlich? Wir wollen um halb sieben mit dem Soundcheck anfangen!«

Lucas stapfte voraus in den Flur, wo er bereits seine Gitarre geparkt hatte, sodass Lulu und mir nichts anderes übrig blieb, als die vier großen Tupperdosen zu übernehmen.

Zuerst tastete ich aber noch einmal nach dem Anhänger, der mir um den Hals baumelte, und warf einen schnellen Prüfblick darauf. Die Uhr zeigte exakt Viertel nach sechs.

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