Читать книгу Zurück auf Gestern - Katrin Lankers - Страница 6

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Bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag verlief mein Leben verhältnismäßig normal. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass es langweilig gewesen wäre. Wenn man mit Luisa Emilia da Costa Moreira – genannt Lulu – befreundet ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, sich zu langweilen, etwa bei eins zu einer Billion. Zum Vergleich: Die Wahrscheinlichkeit, durch das Anziehen einer Hose im Krankenhaus zu landen, liegt bei eins zu zehntausend. Und die, vom Blitz getroffen zu werden, bei eins zu sechs Millionen.

Ich habe das übrigens gerade gegoogelt, nicht dass ihr glaubt, ich hätte eine Ahnung von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Im Gegenteil. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in Mathe schon wieder eine Fünf im Zeugnis bekomme, dürfte über hundert Prozent betragen.

Aber zurück zur Normalität meines Lebens. Ich bin von Natur aus ein eher zurückhaltender Mensch. Abenteuer sind nicht mein Ding. Ich schätze, das liegt daran, dass meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, als ich noch ein Baby war. Schuld waren zu hohes Tempo, Blitzeis und ein Baum.

Keine Sorge, ich bin davon nicht schwer traumatisiert oder so. Ich kann mich ja nicht einmal daran erinnern. Und ich hatte trotzdem eine glückliche Kindheit. Meine Großmutter wohnte bei uns und kümmerte sich um mich, wenn mein Vater auf Geschäftsreisen unterwegs war. Wenn er nach Hause kam, unternahmen wir tolle Sachen zusammen, und er erfüllte mir jeden Wunsch.

Aber die Sache mit dem Autounfall hat wohl dazu geführt, dass die beiden ganz besonders gut auf mich aufpassen wollten. Deshalb habe ich ziemlich häufig Sätze gehört wie »Sei vorsichtig«. Und deshalb habe ich vermutlich insgeheim immer ein bisschen Angst vor zu hohem Tempo, Blitzeis und Bäumen. Entsprechend habe ich mich aus allem herausgehalten, was auch nur im Entferntesten nach Abenteuer aussah. Zumindest bis Lulu vor einem Jahr meine beste Freundin wurde.

Gegensätze ziehen sich an – so heißt es doch. Auf Lulu und mich trifft das definitiv zu. Für Lulu ist Angst ein ebensolches Fremdwort wie Langeweile. Sie kommt ständig auf verrückte Ideen, die sie dann auch sofort in die Tat umsetzt. Lulu liebt es, im Regen zu tanzen, wie in diesem uralten Schwarz-Weiß-Tanzfilm (sie liebt uralte Tanzfilme), auf dem Spielplatz Kinderkarussell zu fahren, bis die Welt sich dreht (und der Magen), eine Sahneschlacht in unserer Küche zu veranstalten (meine Stiefmutter hätte mich fast mit der Sprühsahnedose erschlagen) und anderen Leuten schräge Streiche zu spielen, zum Beispiel im Supermarkt wahllos Sachen in fremde Einkaufswagen zu legen (zum Totlachen, wenn der Rocker in Lederkluft an der Kasse den Weichspüler entdeckt).

Aber am schönsten sind unsere Freundinnenaktionen. Wir haben mal unsere Anfangsbuchstaben mit einem Herz in eine Parkbank geritzt (und sind gerannt, als eine alte Dame mit Dackel vorbeikam). Wir haben einen Tag lang so getan, als wären wir die jeweils andere (sogar in der Schule). Wir haben einen meterlangen Schal gestrickt und um unsere Hälse gewickelt (also ein Schal um beide Hälse). Und wir haben einen ganzen Tag lang nicht gesprochen, sondern versucht, uns alles gegenseitig von den Lippen abzulesen (was die anderen wahnsinnig gemacht und zu einigen witzigen Missverständnissen geführt hat). Solche Aktionen. Wir machen das am 28. eines jeden Monats, denn an einem 28. fing unsere Freundschaft an. Genauer gesagt am 28. Mai – der Tag, an dem wir beide Geburtstag haben!


Lulu kam mitten im Schuljahr neu in unsere Klasse, weil ihre Eltern sich getrennt hatten und ihre Mutter wegen ihres Jobs in die Stadt gezogen war. Bis dahin hatte ich mich zwar regelmäßig mit einigen Mädchen aus meiner Klasse getroffen, eine allerbeste Freundin hatte ich aber nicht. Inzwischen glaube ich, dass ich einfach auf Lulu gewartet habe. Sie faszinierte mich sofort. Mit ihren farbenfrohen, außergewöhnlichen Outfits und ihrem selbstbewussten Auftreten war sie ganz anders als all die anderen Mädchen. Natürlich hätte ich mich nie getraut, sie einfach anzusprechen. Doch dann stand sie eines Tages in der großen Pause vor mir.

»Ich hab gehört, dass du heute in einer Woche Geburtstag hast«, sagte sie.

Ich nickte und fragte mich, wo sie das aufgeschnappt haben mochte.

»Ich auch«, fuhr sie fort. »Wollen wir zusammen feiern?«

Ich konnte bloß wieder erstaunt nicken.

Die Party zu meinem vierzehnten Geburtstag wurde dann die beste meines bisherigen Lebens.

In unserem Garten hatte Lulus Mutter Marisa ein Buffet aufgebaut, auf dem sich fantastische Kuchen nach Rezepten aus ihrer Heimat Portugal stapelten. Etwas so Zuckerigleckeres hatte ich nicht mehr gegessen, seit meine Omili ausgezogen war, die mir zu meinen Kindergeburtstagen immer Regenbogentorten gebacken hatte. Da Sylvia, meine Stiefmutter, eine strenge Verfechterin gesunder Ernährung ist, hatte es auf meinen Geburtstagen seither immer nur Obstigel, Gurkenschlangen und Möhrenkuchen gegeben, die ohne ein einziges Gramm Zucker auskommen mussten. Ich schwebte also auf Kuchenwolke sieben.

Allerdings schwebte ich dort nur so lange, bis mir ganz schrecklich schlecht wurde, weil ich sogar für meine Verhältnisse unvernünftige Mengen gegessen hatte. Und während draußen im Garten die Partyspiele losgingen, lag ich ganz allein drinnen auf dem Sofa und kämpfte gegen die Sahnetörtchen, die in meinem Bauch eine eigene Party veranstalteten. Doch plötzlich tauchte Lulu auf und ließ sich neben mich auf den Fußboden plumpsen.

»Hey du«, sagte sie. »Die anderen spielen Wahrheit oder Pflicht, aber ich würde das viel lieber mit dir spielen.«

»Ich glaube nicht, dass ich gerade in der Lage bin, irgendwelche Aufgaben zu erfüllen.« Ich grinste matt.

»Egal, Wahrheit ist eh viel spannender.« Auch Lulu grinste. »Erzähl mir die peinlichste Situation deines Lebens.«

»Du meinst, eine andere als diese hier?«

Wir lachten beide. Und dann erzählten wir uns immer abwechselnd alle peinlichen Situationen, in die wir jemals geraten waren. Wir hatten so viel Spaß dabei, dass mir der Bauch am Ende nicht mehr vom Kuchen, sondern vom vielen Lachen wehtat. Und dabei vergaßen wir ganz, dass die eigentliche Party draußen stattfand.

»Weißt du was?«, sagte Lulu irgendwann. »Ich hab das Gefühl, dich schon ewig zu kennen. Als wären wir schon immer befreundet. Verrückt, oder?«

»Ziemlich verrückt«, erwiderte ich und mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. »Aber mir geht’s genauso.«

Seit diesem Tag sind Lulu und ich unzertrennlich. Mit Lulu befreundet zu sein, fühlt sich an, als hätte ich endlich mein fehlendes Puzzlestück gefunden. Wir sind wie Yin und Yang. Wie Aronal und Elmex. Wie Ben und Jerry’s. Wie … Ihr wisst, was ich meine!

Langweilig war mein Leben also seit einem Jahr absolut nicht mehr. Mit Lulu zusammen erlebte ich eine ganze Menge spannender Sachen. Aber es waren allesamt normalspannende Sachen, die jedem beliebigen Teenager passieren könnten. Zumindest jedem, der eine so besondere Freundin wie Lulu hat.

Man kann sagen, dass ich ein ganz normales Leben mit ganz normalen Problemen führte. Und dass ich damit mehr oder minder ganz zufrieden war. Zumindest war das so bis zu meinem – oder besser gesagt unserem – fünfzehnten Geburtstag.


»Hallo, Herzensmensch.« Ich drückte meine rechte Hand aufs Herz, hob die Finger an meine Lippen und warf Lulu einen Luftkuss zu. So wie wir es immer taten, wenn wir uns trafen. Lulu erwiderte die Begrüßung, wandte sich dann aber dem Spiegel zu.

»Erinnere mich daran, nie wieder Rot zu kaufen!«, jammerte sie, während ich die Zimmertür schloss, und betrachtete sich missmutig in dem großen Spiegel neben ihrem Kleiderschrank. Durch eine schwindelerregende Drehung ihres Kopfes versuchte sie, einen Blick auf ihren eigenen Rücken zu erhaschen.

»Hey, du bist keine Eule«, warnte ich sicherheitshalber.

»Am Po sitzt das Teil überhaupt nicht«, ignorierte meine beste Freundin meine Warnung. »Guck dir mal diese Beulen an.« Sie zupfte an einer eingebildeten Falte am unteren Rücken herum. »Und diese Farbe! Darin sehe ich aus wie eine Scheibe Toastbrot!«

Als ob Lulu mit ihren südländischen Genen jemals blass aussehen könnte! Das schaffte nicht einmal dieses zugegeben sehr knallrote und zudem ziemlich knallenge Minikleid, das sie vermutlich in einer stockdunklen Umkleidekabine anprobiert hatte. Eine andere Entschuldigung konnte es für diesen Missgriff eigentlich nicht geben.

»Das ist der Fehlkauf des Jahrhunderts«, nörgelte meine Freundin. »Und jetzt habe ich nichts anzuziehen. Ausgerechnet heute!«

Lulus Verzweiflung hatte einen einfachen Grund: Es war nicht nur unser Geburtstag, heute fand auch die große Schulparty statt. Mit einem abgrundtiefen Seufzen ließ sie sich neben den himalayahohen Kleiderberg auf ihr Bett fallen. Ich setzte mich zu ihr, sorgsam darauf bedacht, keins der Kleidungsstücke zu zerdrücken. Zwei der bunten Kissen, von denen sich mindestens zwanzig auf der Patchwork-Decke türmten, plumpsten auf den Boden.

»Warum ziehst du nicht einfach eine Jeans an? Und ein schönes Shirt?«, schlug ich vor.

»Weil das laaangweilig ist«, meckerte Lulu und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, dass ich in genau diesem Outfit neben ihr saß.

»Entschuldige, allerliebste Claire. Warum kann ich bloß nie nachdenken, bevor ich losquassele?«

»Schon gut«, beschwichtigte ich sie.

»Nein, wirklich, ich bin manchmal so ein Trampel«, beharrte meine Freundin zerknirscht. »Kannst du mir verzeihen?«

»Immer wieder gern«, erwiderte ich.

Lulu ist eine waschechte Drama-Queen! Und eigentlich finde ich das meistens liebenswert und amüsant.

»Okay, vergessen wir die Klamottenfrage für einen Moment.« Lulu ist nicht nur eine Drama-Queen, sie wechselt auch schneller zwischen zwei Gemütszuständen hin und her, als ein normaler Mensch das Wort Gemütszustand aussprechen kann. »Es gibt doch wirklich Wichtigeres! Geschenke zum Beispiel.«

Lulu sprang vom Bett und drei weitere Kissen gingen zu Boden. Ohne darauf zu achten, fing sie an, in ihrem Schreibtisch herumzuwühlen, wobei sie fortwährend Wo ist es denn nur? murmelte. Lulu hat viele besondere Talente. Sie ist witzig und nie lange schlecht drauf, sie kann bühnenreif tanzen und sich mit dem dicken Zeh hinterm Ohr kratzen. Sie schafft es, in nur fünf Minuten einen Schokokuchen in der Mikrowelle zu backen, in den man sich reinlegen möchte. Und sie ist immer, wirklich immer, für mich da.

Ordnung zu halten, zählt allerdings nicht zu Lulus Stärken. Zum Glück besitzen ihre Sachen die Fähigkeit, an den erstaunlichsten Orten von selbst wieder aufzutauchen. Ihr Haustürschlüssel zum Beispiel, den wir einen ganzen Nachmittag lang gesucht hatten, lag unbekümmert in ihrer Sockenschublade, die Lulu eigentlich nur öffnete, weil sie ihre Lieblingsohrringe darin vermutete, die sie völlig überraschend drei Tage später im Vorratsschrank hinter den Schoko-Pops entdeckte, wo sie eigentlich ihr Hausaufgabenheft zu finden hoffte, das jedoch irgendwie den Weg zwischen die Schminksachen ihrer Mutter gefunden hatte, wo Lulu vermutlich niemals danach geschaut hätte, wenn sie nicht auf der Suche nach ihrem Lipgloss gewesen wäre …

»Ha!«, machte Lulu zufrieden und holte ein kleines Päckchen aus der Tonne mit der schmutzigen Wäsche. »Bitte schön!«

Das Geschenk war flach, in mattgoldenes Papier gewickelt und mit einer überdimensionalen schwarzen Schleife geschmückt. Ich grinste, als sie es mir hinhielt, angelte neben dem Bett nach meinem Rucksack und zog ein identisch verpacktes Geschenk heraus.

»Zwei Blöde, ein Gedanke.« Lulu grinste ebenfalls.

»Happy Birthday«, sagten wir gleichzeitig und tauschten die Geschenke aus.

»Von Schnick-Schnack?«, erkundigte sich meine Freundin und hielt das Geschenk hoch, das ich ihr überreicht hatte.

»Klar«, erwiderte ich und hob meins hoch. »Das auch?«

»Klar.«

Schnick-Schnack-Schmuck war unser Lieblingsgeschäft für Schmuck und jede Menge Schnickschnack, den man eigentlich nicht brauchte, der aber viel zu schön war, um ihn nicht zu haben. Der Laden gehörte Alexa, der besten Freundin meiner Großmutter, und bereits als ich noch klein war, hatten wir dort viele Stunden verbracht. Bei Alexa zu sein, erinnerte mich an meine Omili, und schon deshalb ging ich gern dorthin. Dass Lulu das Geschäft genauso mochte wie ich, machte es nur umso besonderer für mich.

»Also auf drei«, schlug Lulu vor.

»Einverstanden. Eins. Zwei …«

Und schon riss Lulu das Papier auseinander. Geduld gehört auch nicht unbedingt zu ihren Stärken.

»Das ist nicht wahr …« Lulu lachte erneut, als sie das Geschenk hervorholte, das ich für sie ausgesucht hatte. Es war eine lange Kette oder besser gesagt zwei, die fest umeinander gedreht waren. Zwillingskette hatte Alexa das Schmuckstück genannt, als sie es mir gezeigt hatte, und erzählt, dass sie davon gerade erst zwei Stück angefertigt hatte.

Mir war sofort klar gewesen, dass ich diese Kette für Lulu kaufen wollte. Aber jetzt fragte ich mich, ob Lulu sie nicht doch zu schlicht fand.

»Gefällt sie dir nicht?«, fragte ich unsicher. »Ich dachte, es wäre passend, weil wir auch Zwillinge sind, als Sternzeichen meine ich, und irgendwie auch Herzenszwillinge … oder?«

Doch meine Freundin schüttelte bloß den Kopf. »Pack einfach aus.«

Also entfernte ich vorsichtig das Papier von meinem Päckchen … und hielt schließlich die exakt gleiche Kette in der Hand wie Lulu.

»Zwei Blöde, ein Gedanke«, wiederholte ich und lachte nun ebenfalls.

»Als Alexa sie mir gezeigt hat, wusste ich sofort, dass es das perfekte Geschenk für dich ist.«

Gegenseitig hängten wir uns die Ketten um den Hals und nahmen uns dann fest in den Arm.

»Witzig, dass Alexa uns beiden die gleiche Kette empfohlen hat«, meinte Lulu, als wir uns schließlich wieder losließen.

»Na ja, aber auch irgendwie logisch, oder?«, erwiderte ich. »Sie weiß doch, dass wir allerbeste Freundinnen sind.«

»Stimmt natürlich.«

»Ich muss dir übrigens unbedingt noch etwas zeigen.« Wieder wühlte ich in meinem Rucksack, bis ich das kleine Säckchen aus rotem Samt fand. Vorsichtig knotete ich das Band auseinander, mit dem es oben zusammengehalten wurde, und ließ den Inhalt in meine Hand gleiten.

»Was ist das?« Lulu beugte sich über die Kugel, die ich ihr entgegenstreckte.

»Ein Geschenk von meiner Großmutter«, sagte ich und spürte augenblicklich die gleiche Mischung aus Traurigkeit und Freude mit einem Hauch von Ehrfurcht wie am Morgen, als ich das Päckchen ausgepackt hatte.

»Von deiner Großmutter«, echote Lulu verwundert. »Aber die ist …«

»… tot, ich weiß«, beendete ich den Satz für sie. »Mein Paps hat mir das Geschenk von ihr gegeben. Er hat gesagt, sie hätte darauf bestanden, dass ich es an meinem fünfzehnten Geburtstag bekomme.«

»Das ist ja toll«, sagte Lulu. »Und was ist es?«

»Es ist ein Anhänger«, erklärte ich. »Ein Kettenanhänger.«

»Sieht uralt aus.« Lulu rutschte ein Stück näher an mich heran, um ihn genauer betrachten zu können. »Und irgendwie … seltsam.« Erneut schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Hätte ich das jetzt nicht sagen sollen?«

»Quatsch«, beruhigte ich sie und strich mit dem Daumen über die verschlungenen Gravuren, die sich über die kugelige Oberfläche des Anhängers wanden. Er war etwa so groß wie ein Tischtennisball und das Metall fühlte sich kühl an. »Du hast ja recht, er sieht tatsächlich eigenartig aus.«

»Aber warum vermacht deine Großmutter dir ausgerechnet dieses Schmuckstück? Und warum zum fünfzehnten Geburtstag? Warum nicht zum sechzehnten oder zum achtzehnten?«

»Ich habe keine Ahnung.« Als ob ich mir diese Fragen nicht auch schon gestellt hätte! »Ich habe den Anhänger jedenfalls noch nie zuvor gesehen.«


Meine Großmutter hatte Schmuck geliebt, große Ketten mit farbigen Steinen, zu denen sie immer die passenden Armreifen und Ohrringe trug. Als Kind hatte ich ganze Nachmittage damit verbracht, in ihren Schatullen zu stöbern. Aber an diesen Anhänger konnte ich mich nicht erinnern.

»Das ist alles billiger Modeschmuck«, hatte das abfällige Urteil meiner Stiefmutter Sylvia gelautet. Da mein Vater seit seiner Beförderung eigentlich ständig auf Dienstreise war, hatte sie die Wohnung meiner Großmutter nach ihrem Tod ausgeräumt. Mein Vater war wohl ganz froh gewesen, dass Sylvia ihm das abgenommen hatte, und hatte ihr freie Hand gelassen. Und so hatte sie – noch bevor ich Protest einlegen konnte – Omilis Schmuck und den Inhalt ihres Kleiderschranks ins Sozialkaufhaus gegeben, während ich in der Schule war. Mir tat es bis heute leid, dass ich kein Erinnerungsstück an meine Großmutter behalten konnte. Umso bedeutsamer erschien mir nun dieses Geschenk.

»Mein Vater hat gesagt, Omili hat den Anhänger im Banktresor aufbewahrt«, erzählte ich Lulu das Wenige, das ich wusste.

»Krass«, staunte Lulu. »Dann ist er richtig wertvoll?«

»Ich weiß nicht. Es ist wohl ein Familienerbstück. Das sagt zumindest mein Paps. Vielleicht hatte Omili ihn aber auch bloß im Tresor, damit Sylvia ihn nicht in die Finger bekommt.«

»Tststs«, tadelte Lulu mich, wurde dann aber gleich wieder ernst. »Und hat er sonst noch was gesagt?«

»Nicht wirklich. Meine Omili hat ihm wohl noch einen Brief für mich gegeben, aber du kennst ja meinen Vater. Er hat ihn irgendwo zwischen seine Unterlagen gelegt, wo er ihn jetzt nicht mehr findet.«

Mein Vater hatte mir das Päckchen am Morgen überreicht, nachdem ich meine anderen Geschenke ausgepackt hatte: Ein neues Smartphone von ihm, genau wie gewünscht. Einen Kosmetikkoffer von Sylvia, den ich ungefähr so gut gebrauchen konnte wie einen Raumanzug. Und von meiner Stiefschwester Sophie ein Buch mit dem Titel Bedeutende Persönlichkeiten der Weltgeschichte, das sie mir mit der Bemerkung überreicht hatte, sie hoffe, mein Bildungsniveau damit ein klein wenig anheben zu können, auch wenn sie fürchte, dass ihre Bemühungen vergeblich sein würden.

Ich hatte beschlossen, ihr zum nächsten Geburtstag eine »Bravo« zu kaufen, um ihr Normalitätsniveau damit ein klein wenig anzuheben.

Dann packte ich den Anhänger aus. Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten Sophies perfekt geschminkte Gesichtszüge und sie wirkte verletzt. Fast mitleiderregend. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag vor zwei Monaten hatte Sophie nämlich kein Päckchen von Omili bekommen. Was erstaunlich war, denn obwohl Sophie nicht ihre eigene Enkeltochter gewesen war, hatte meine Großmutter sich immer sehr bemüht, uns beide gleich zu behandeln. Und ich glaube, Sophie hatte sie wirklich gerngehabt. Sofern meine Stiefschwester zu solchen Gefühlen fähig war.

»Deine Großmutter hat in ihrem Testament verfügt, dass nur du ihn bekommen sollst«, hatte Paps mir erklärt. »Und dass du unbedingt gut darauf achtgeben sollst.«

»Dafür hat sie sich ja genau die Richtige ausgesucht«, hatte Sophie in Bühnenlautstärke gemurmelt. Mein Mitleid war augenblicklich wieder dahingeschmolzen.

»Hm.« Lulu spitzte ihre Lippen. Das tat sie immer, wenn sie über etwas nachgrübelte. Es sah aus, als würde sie einen Kussmund formen, was gelegentlich ziemlich unpassend wirkte. Während einer Mathearbeit zum Beispiel. Kussmünder und Mathe passen einfach nicht gut zusammen.

»Hm«, machte Lulu noch einmal.

Ich wartete gespannt. Wenn Lulu »Hm« machte, kamen manchmal überraschend brillante Einfälle heraus.

»Ziemlich mysteriös.«

Ich seufzte. Manchmal auch nicht.

»Der Anhänger sieht auf jeden Fall total schön aus.« Lulu streckte die Hand aus, um mit ihren langen schmalen Fingern über die Kugel zu streichen. »Und fühlt sich auch irgendwie schön an. Diese Gravuren wirken geheimnisvoll, findest du nicht? Wie irgendwelche Zeichen. Oder Buchstaben oder so … Hast du eine Ahnung, was sie bedeuten?«

»Ich … nein«, erwiderte ich abgelenkt. Denn als meine Freundin mit ihren Fingern über die Kugel gefahren war, hatte es sich angefühlt, als würde diese leicht vibrieren. Und ich hatte den Eindruck gehabt, dass das Metall mit einem Mal wärmer geworden war. Schnell schloss ich meine Hand darum zur Faust. Doch es war schon vorbei und vermutlich war es ohnehin bloß Einbildung gewesen. Wieso sollte ein Anhänger vibrieren?

»Los, häng ihn um.«

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Ich sagte, dass du ihn umhängen sollst«, wiederholte Lulu. »Du könntest den Anhänger an der neuen Kette befestigen. Das sieht bestimmt gut zusammen aus. Und würde dein, sagen wir mal, zeitlos schlichtes Outfit ziemlich aufwerten.«

»Ich weiß nicht.« Noch immer hielt ich die Hand zur Faust geschlossen. Bei dem Gedanken, den Anhänger zu tragen, fühlte ich mich nicht wohl. »Der ist doch viel zu groß und auffällig! Was, wenn ich ihn verliere oder wenn er kaputtgeht?«

»Warum sollte er kaputtgehen?« Lulus dunkle Locken wippten, als sie den Kopf schüttelte. »Der Anhänger sieht ziemlich massiv aus. Und warum sollte deine Großmutter ihn dir schenken, wenn sie nicht will, dass du ihn trägst?«

Ich nickte langsam, noch nicht so richtig überzeugt.

»Also, wenn ich so einen coolen Vintage-Anhänger hätte, würde ich nur noch in Jeans und T-Shirt rumlaufen.« Lulu ließ nicht locker. »Komm schon, Clairchen. Trau dich mal was!« Sie nahm meine Hand und begann, sanft meine Finger aufzubiegen.

Ich lächelte und öffnete die Faust. Lulu konnte sehr überzeugend sein. Doch als meine Freundin nach dem Anhänger griff, überkamen mich wieder Zweifel. Reflexhaft schlossen sich meine Finger erneut um Lulus. Ein Ruck ging durch unsere Hände bis in die Arme. Die Kugel vibrierte erneut. Stärker dieses Mal. Gleichzeitig erwischte mich ein Stromschlag. Nicht schlimm, eher als ob man eine Türklinke anfasst, nachdem man sich kräftig die Haare gebürstet hat. Ich hörte ein leises Knirschen und Schaben, als würde Metall über Metall reiben. Ich sah Lulus Augen, die sich weiteten – erst verwundert und dann, als sie begriff, was passiert war, vor Schreck.

Gleichzeitig schnellten unsere Hände auseinander, als hätten wir uns verbrannt. Und zwischen uns aufs Bett fielen die zwei Hälften einer Kugel.

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