Читать книгу Zurück auf Gestern - Katrin Lankers - Страница 9
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ОглавлениеEs gibt Situationen, in denen man glaubt, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen kann. Aber dann passiert kurz darauf garantiert etwas, das einen vom Gegenteil überzeugt. Wenn du im strömenden Regen dem Bus hinterherrennst, zum Beispiel, und der Fahrer vor deiner Nase die Türen schließt, brettert natürlich direkt hinter dem Bus ein Auto durch die Pfütze im Rinnstein, sodass du von oben bis unten nass gespritzt wirst.
Oder wenn du unbedingt eine Drei in Mathe schreiben musst, um deine Halbjahresnote zu retten, und dann leuchtet dir eine rote Vier entgegen. Dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass Frau Dr. No dir das falsche Heft zurückgegeben hat und unter deiner Mathearbeit eine Fünf steht.
Dieser Augenblick auf der Schulparty, als ich Sophie auf der Bühne neben Lucas entdeckte, war genau so ein Fall. Das wurde mir natürlich erst kurz darauf klar, nämlich als der Auftritt der Band vorbei war und Lucas zum Buffet kam – Seite an Seite mit Sophie. Lulu war immer noch irgendwo verschwunden, und ich hatte gerade beschlossen, sie zu suchen, um ihr zu sagen, dass ich den Bus nach Hause nehmen würde, als die beiden auftauchten.
Vor dem Buffet herrschte großes Gedränge und Lucas schien mich gar nicht zu bemerken, anders jedoch Sophie. Meine Stiefschwester steuerte direkt auf mich zu und Lucas folgte ihr brav.
»Hi, Claire«, begrüßte sie mich zuckersüß, als hätte sie nicht erst vorhin auf dem Schulhof spitze Bemerkungen über mein gestörtes Verhältnis zur Schwerkraft fallen lassen.
»Das ist Lucas.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie uns einander vorstellen. »Aber das weißt du ja bestimmt.« Manchmal war meine Stiefschwester wirklich nicht zu toppen. Tat so, als müsste sie mich mit dem Bruder meiner besten Freundin bekannt machen. Dabei ging es ihr ganz offensichtlich bloß darum, mir unter die Nase zu reiben, dass sie neuerdings dicke Kumpel waren. Oder sogar mehr … Ich fragte mich bloß, warum! Denn eigentlich konnte Sophie nichts von meinem bestgehüteten Geheimnis wissen.
»Lucas hat mich nach dem Weihnachtskonzert gefragt, ob ich bei Echtzeit mitmachen möchte, weißt du«, fuhr sie erbarmungslos fort.
Das Weihnachtskonzert, na klar! Dabei waren der Schulchor und das Orchester, in dem Sophie natürlich spielte, zusammen mit Lucas’ Band aufgetreten. Ich persönlich hätte mich für nichts auf der Welt überreden lassen, ebenfalls dort zu stehen. Mich öffentlich vor Publikum zu präsentieren, grenzte für mich an schwere Folter. Was vermutlich der Grund war, warum Sophie nun bei Echtzeit mit dabei sein durfte und Lucas mich niemals wahrnehmen würde.
Dabei sang ich gerne, aber ich tat das ausschließlich und exklusiv unter der Dusche. Lulu war die Einzige, die mich jemals gehört hatte, als ich bei ihr übernachtet hatte und dachte, dass sie noch schlief. Und obwohl sie immer wieder darauf beharrte, dass ich so ähnlich klang wie Adele und mindestens so begabt sei, weigerte ich mich strikt, auch nur in die Nähe einer Probe unseres Schulchors zu kommen.
»Jedenfalls fand ich, dass es eine gute Idee sein könnte, vor allem, weil Lucas extra dieses Lied für mich geschrieben hat.« Sie lächelte in seine Richtung und ich hätte am liebsten laut geschrien. Dass Lucas diesen wunderschönen Song extra für Sophie geschrieben haben sollte, fühlte sich an wie ein Dorn, der sich mir direkt ins Herz bohren wollte.
Lucas bekam von all dem nichts mit, denn er war schwer damit beschäftigt, Löcher in die Luft neben meinem Kopf zu starren. Unser Gespräch beziehungsweise Sophies Monolog schien ihn nicht übermäßig zu interessieren.
»Ich hol mir mal was zu trinken«, erklärte er und ging weg, drehte sich aber nach ein paar Schritten noch einmal um. »Soll ich dir was mitbringen?«, fragte er Sophie – nicht mich natürlich.
»Eine Cola light, bitte.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, in das eine Gurke quer gepasst hätte.
Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen, und mein Blick glitt zu Boden, weil ich Sophies selbstzufriedenes Gurkengrinsen nicht ertrug. Da entdeckte ich das Mohn-Sahnetörtchen, das ich Samuel vorhin aus der Hand geschlagen hatte, direkt neben der Spitze von Sophies hochhackigen Sandalen.
Was hätte ich darum gegeben, wenn Sophie in diesem Moment einen kleinen Schritt zur Seite gemacht hätte. Sahnecreme, die durch die Riemchen der Sandalen quoll, wäre genau der Anblick gewesen, der die Qualen meiner Seele ein klein wenig hätte lindern können. Aber natürlich machte sie keinen Schritt zur Seite. Meiner Stiefschwester passieren solche Missgeschicke einfach nicht.
Ich bückte mich, um das Törtchen aufzuheben und bei nächster Gelegenheit im Müll zu entsorgen. Eine willkommene Ablenkung, um dem Gurkengrinsen noch einen Moment länger zu entgehen, aber als ich wieder nach oben kam, war es noch ein bisschen breiter geworden.
»Bist du etwa so süchtig nach Süßigkeiten, dass du jetzt sogar schon das isst, was auf dem Boden gelandet ist?«, fragte Sophie spitz. »Du solltest wirklich ein bisschen mehr auf deine Figur achten, sonst wird sich nie ein Junge wie Lucas für dich interessieren.«
»Pah«, machte ich und bemühte mich um ein unbeteiligtes Gesicht, obwohl mein Herz bis in den Hals hämmerte und ich den beinah unbändigen Drang niederkämpfen musste, Sophie das Sahnetörtchen in ihr Grinsegesicht zu drücken.
»Kein Wunder, dass du so auf dein Äußeres bedacht bist, denn ein Herz hast du nicht zu bieten. Deswegen mag dich auch niemand. Nicht mal Omili hatte dich wirklich lieb, sonst hätte sie dir bestimmt auch etwas vererbt.« Wie zum Beweis hielt ich den Anhänger hoch. Okay, das war nicht nett von mir, aber Sophie hatte mit ihren Sticheleien nun mal einen empfindlichen Nerv getroffen.
»Im Übrigen«, schob ich hinterher, »ist es mir völlig gleichgültig, ob sich ein Junge wie Lucas für mich interessiert. Denn wenn er sich für dich interessiert, kann er keinen besonders guten Geschmack besitzen.« Das war natürlich gelogen, aber es fühlte sich gut an, es zu sagen, vor allem, weil Sophies Augen sich bei meinen Worten zu schmalen Schlitzen verzerrten und das Gurkengrinsen zu einer Grimasse verrutschte.
»Glaubst du wirklich, dass ich dir das abnehme?«, gab sie wütend zurück. »Ich weiß genau, dass du bis über beide Ohren in Lucas verknallt bist. Weil ich nämlich den Zettel gefunden habe, auf den du seinen Namen geschrieben und Millionen von Herzchen dazugemalt hast. Was übrigens echt kindisch ist, aber wen wundert’s?«
»Den Zettel hab ich ganz unten in meinem Schreibtisch versteckt«, erwiderte ich, zu perplex, um zu leugnen.
»Nicht schwer zu finden …« Das Gurkengrinsen war zurück und wirkte irgendwie teuflisch.
Ich hätte gerne erwidert, dass sie eine miese Schnüfflerin war und in meinem Zimmer rein gar nichts verloren hatte, doch leider bekam ich keinen Ton mehr heraus. Denn in diesem Moment entdeckte ich Lucas, der mit zwei Gläsern Cola in den Händen hinter Sophie stand. Er hatte einen schwer zu deutenden Gesichtsausdruck, der allerdings keinen Zweifel daran ließ, dass er unseren Streit mit angehört hatte. Zumindest die entscheidenden Passagen. Die, in denen es um meine Gefühle für ihn ging.
Ich las Überraschung in seinem Blick und noch etwas anderes, das ich nicht deuten konnte. Ganz leicht schüttelte er den Kopf, als wollte er mir stumm sagen: Das kann nicht dein Ernst sein. Wo in aller Welt war das Loch im Boden, das sich in solchen Momenten auftun sollte?
Ich fühlte mich, als müsste ich auf der Stelle losheulen. Aber das hätte meine Lage vermutlich nicht verbessert. Also drängte ich die Tränen mit heftigem Blinzeln zurück, murmelte etwas Unverständliches, in dem das Wort Toilette vorkam, zwang meine Beine, sich zu bewegen, und flüchtete. Unter Einsatz meiner Ellbogen arbeitete ich mich durch die Menge vor dem Buffet und stürmte vorbei an Frau Dr. No und Herrn Helmich, die Türdienst hatten, hinaus ins Freie. Erst als ich mich in der dunkelsten Ecke des Schulhofs auf eine Bank hatte fallen lassen, bemerkte ich, dass ich noch immer das verdreckte Törtchen in der Hand hielt. Ich würde es später entsorgen, wenn ich mich aufraffen konnte, wieder aufzustehen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder in der Lage war, halbwegs klar zu denken. Die ganze Zeit flimmerten Standbilder dieser unendlich peinlichen Szene durch meinen Kopf. Sophies teuflisches Gurkengrinsen. Lucas’ verständnisloser Blick. Mist! Mist! Mist! Von allen peinlichen Situationen, in denen ich jemals gesteckt hatte, war das mit Abstand die schrecklichste!
Angestrengt überlegte ich, was ich tun konnte, um diese ganze beschämende Szene ungeschehen zu machen oder wenigstens Lucas’ Erinnerung daran auszulöschen. Leider stellte ich nach reiflicher Überlegung fest, dass es rein gar nichts gab, was ich diesbezüglich unternehmen konnte – außer mir irgendwelche Medikamente zu verschaffen, die die Erinnerung auslöschten, und diese Lucas irgendwie zu verabreichen.
Mehrmals kam ich zu dem Schluss, dass es das Beste war, den Bus nach Hause zu nehmen, mich in meinem Bett unter zehn Decken zu vergraben und nie wieder aufzustehen. Aber das bedeutete, dass ich zurück in die Turnhalle gehen musste, um Lulu zu suchen und ihr Bescheid zu sagen. Und das bedeutete, dass ich Gefahr lief, Lucas noch einmal zu begegnen. Deshalb brauchte ich etwa hundert Anläufe, bis ich mich endlich dazu aufraffen konnte. Doch als ich gerade auf die Turnhalle zusteuerte, kam Lulu mir direkt entgegen.
»Hey, Süße, ich hab dich schon überall gesucht. Ist alles okay?« Sie trug die vier großen Tupperdosen – offensichtlich hatte sie auch die mit den Dreck-Törtchen unter dem Buffet gefunden – und dazu einen leicht verklärten Ausdruck im Gesicht.
»Zeit aufzubrechen, fürchte ich«, erklärte sie. »Es ist schon fünf nach zehn. Meine Mutter dreht durch, wenn wir nicht langsam auftauchen.« Sie nickte zum Schultor, wo ich tatsächlich den kleinen blauen Twingo mit eingeschalteten Scheinwerfern entdeckte.
»Was?« Überrascht checkte ich die Uhr in meinem Anhänger, die wirklich kurz nach zehn anzeigte. Zur Sicherheit zog ich mein neues Handy aus der Hosentasche und kontrollierte die Zeit. Tatsache. Es waren fast zwei Stunden seit dem Streit mit Sophie vergangen, in denen ich wie ein Zombie mit einem verdreckten Törtchen in der Hand auf dem Schulhof gesessen und darüber nachgegrübelt hatte, wie ich mir bewusstseinsverändernde Medikamente beschaffen konnte.
»Ist wirklich alles in Ordnung?« Lulu musterte mich besorgt.
»Ja, ja, alles bestens«, erwiderte ich, bemüht, nicht allzu deprimiert zu klingen. Natürlich war nichts in Ordnung. Aber leider war meine beste Freundin der allerletzte Mensch, dem ich erzählen konnte, was passiert war. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich sie künftig nie wieder würde besuchen können, weil ich unter allen Umständen vermeiden musste, ihrem großen Bruder über den Weg zu laufen?
»Stress mit Sophie.« Das war immerhin die halbe Wahrheit.
»Oh je. Tut mir echt leid, dass ich dich so lange allein gelassen hab«, entschuldigte Lulu sich, während wir Richtung Schultor gingen. »Ich habe völlig die Zeit vergessen, weil ich mich mit Samuel unterhalten habe.« Sie errötete leicht. »Ich glaube, er mag mich. Krass, oder? Er hat sogar gefragt, ob ich Lust habe, nach der Party mit zu ihm zu kommen. Die wollen dort mit der Clique weiterfeiern. Ich wäre echt gerne mitgegangen, und er wirkte richtig enttäuscht, als ich Nein gesagt habe. Aber dann hätte meine Mutter mich garantiert umgebracht.«
Lulu redete ohne Unterbrechung, doch mir war das nur recht. Dann konnte sie mir wenigstens keine unangenehmen Fragen stellen. Und außerdem freute ich mich für sie. Wirklich. Sehr.
»Samuel ist so witzig. Wir haben total viel gelacht. Und fast hätte er mich geküsst. Ehrlich. Er hat zwei total süße Grübchen in den Mundwinkeln. Ist dir das schon mal aufgefallen? Hier und hier.«
Sie hob den Tupperdosenberg in die Höhe, um mit den Daumen anzudeuten, wo genau sich Samuels süße Grübchen befanden. Ich sah das Unglück kommen, war aber nicht schnell genug, um die Boxen aufzufangen, bevor sie allesamt zu Boden schepperten.
»Ach, Shit, nicht schon wieder!«, fluchte Lulu, als sich eine Dose öffnete und die ohnehin schon schmutzigen Törtchen über den Schulhof kullerten. Und zum zweiten Mal an diesem Abend hockten wir uns hin, um die Törtchen wieder einzusammeln.
»Also doch ein Picknick«, ertönte über uns die Stimme von Samuel, gefolgt von einem schallenden Lachen, in das Lulu sogleich einstimmte. Mit einem strahlenden Lächeln blickte sie zu ihm auf. Und dann konnte man beobachten, wie dieses Lächeln langsam bröckelte und abfiel. Denn Samuel war nicht allein. Nicht nur fünf Jungs aus seiner früheren Klasse waren bei ihm, sondern auch die Doppel-Ds, die Samuel anstrahlten wie zwei Tausend-Watt-Scheinwerfer. Und um jede von ihnen hatte er einen Arm gelegt.
»Schönen Abend noch«, wünschte er uns, bevor er inmitten der Gruppe zum Schultor steuerte.
»Aber, aber …«, stotterte Lulu. Dann brach sie unvermittelt in Tränen aus. »Aber er hatte mich gefragt«, schluchzte sie. »Mich!«
»Ist ja gut.« Ich legte Lulu tröstend die Hand auf die Schulter. »Das mit den Doppel-Ds ist doch im Leben nichts Ernstes. Er will dich bloß eifersüchtig machen.« Nicht dass ich selbst glaubte, was ich sagte, aber ich wollte Lulu gern trösten. Leider war sie untröstlich. Ganz Drama-Queen.
»Warum habe ich Nein gesagt, als er mich gefragt hat, ob ich noch mitgehe? Hätte ich doch bloß Ja gesagt! Ja! Ja! So schwer ist das doch nicht! Dann hätte meine Mutter mich halt umgebracht, na und? Was bedeutet schon der sichere Tod, wenn man vorher einen Abend mit Samuel verbringen kann?«
Lulu schniefte lautstark, und ich spürte, dass mir selbst ebenfalls ein Kloß im Hals steckte, der langsam, aber sicher unbedingt in Form von Tränen nach oben wollte. Was für ein Katastrophenabend war das? Definitiv der furchtbarste aller Geburtstage!
Der babyblaue Twingo hupte.
»Ach, verflucht!« Lulu schniefte wieder. »Hinterher ist man immer schlauer. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich garantiert Ja gesagt! Manchmal wünschte ich, dass man die Zeit zurückdrehen könnte.«
»Und ich erst«, seufzte ich.
Sie nahm den Uhrenanhänger, der um ihren Hals baumelte, in die Hand und begann, mit dem Zeigefinger und großer Geste an den Zeigern zu drehen. Es war bühnenreif, typisch Lulu eben.
Der Twingo hupte zwei Mal.
»Komm, Süße, lass das.« Ich schluckte kräftig, um den Kloß im Hals loszuwerden. »Wir müssen los.«
Ich beugte mich zu meiner Freundin und nahm sie fest in den Arm. Immerhin hatten wir uns. Sollten die Jungs dieser Welt uns doch einfach gestohlen bleiben!
Und dann passierte es.
Es war nicht spektakulär. Es gab keine Blitze und es brach auch keine plötzliche Finsternis herein. Es gab kein Erdbeben, kein Donnern und Tosen, nicht mal einen klitzekleinen Schwindelanfall verursachte es. Es fühlte sich bloß wieder wie ein winziger Stromschlag an, als ob man nach dem Haarebürsten die Türklinke berührt, nur dass das Gefühl ganz kurz den gesamten Körper erfasste.
»Autsch«, sagte Lulu und stieß mich von sich weg. »Was war das denn?«
Da sahen wir es.
Zwischen uns hingen die beiden Ketten und verbanden sich in der Mitte, wo sich die zwei Hälften des Anhängers zu einer ganzen Kugel zusammengefügt hatten. Die Kugel vibrierte für den Bruchteil einer Sekunde, dann fielen die beiden Hälften wieder auseinander.
»Ups«, machte ich, als der Anhänger gegen meinen Brustkorb schlug.
Ich hörte den Twingo dreimal laut hupen, und als ich zum Schultor schaute, sah ich ihn davonbrausen.