Читать книгу Zurück auf Gestern - Katrin Lankers - Страница 8

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»Pünktlisch um ssehn, verstanden?«

»Jaha.« Lulu schlängelte sich als Erste aus dem Auto und ich folgte ihr. Lucas, der vorne gesessen hatte, holte bereits seine Sachen aus dem kleinen Kofferraum des alten Twingo, den Lulus Eltern angeschafft haben mussten, als sie gerade frisch verheiratet gewesen waren.

Für zwei Menschen, die sich sehr gern hatten, hatte der babyblaue Twingo vermutlich die optimale Größe. Drei Teenager, eine Gitarre, einen Verstärker und vier riesige Tupperdosen mit Törtchen darin unterzubringen, war eine sportliche Herausforderung, die vor allem darin bestand, beim Aussteigen aus dem Zweitürer nicht sämtliche Tupperdosen auf den Bordstein vor dem Schultor fallen zu lassen. Erst hielt ich die Dosen, dann reichte ich sie Lulu nach draußen, die beinahe hinter dem Tupperturm auf ihrem Arm verschwand.

»Und wenn isch ssehn sage, meine ich ssweiundswanssisch Uhr nach deutsche Seitverständnis, nicht nach portugiesische. Also nicht ssehn nach ssehn und nicht sswansig nach ssehn, sondern Punkt ssehn!« Auch wenn Marisas Zunge lustig über die vielen Z stolperte, bestand kein Zweifel daran, wie ernst sie es meinte. Lulus Mutter war in vielen Punkten entspannt, zum Beispiel, was das Chaos in Lulus Zimmer betraf oder ihren kreativen Kleidungsstil. Aber wenn Lulu nur fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit nach Hause kam, herrschte bei den da Costas Gewitterstimmung.

»Ich warte hier an die Tor.«

»Jaha«, wiederholte Lulu mit Nachdruck.

»Viel Spaß«, rief Marisa uns noch hinterher, doch Lulu warf bereits mit einem eleganten Schwung ihres Hinterteils die Autotür zu. Sie eilte so schnell Richtung Schule, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihr wenigstens ein oder zwei der Tupperdosen abzunehmen, die sie einer akrobatischen Darbietung ähnlich auf den Armen balancierte.

»Meine Mutter nervt!«, beschwerte meine Freundin sich, während wir durch das Schultor liefen.

»Sie macht sich halt Sorgen«, verteidigte ich Marisa abwesend, weil ich damit beschäftigt war, den Schulhof nach der Gestalt von Lucas abzusuchen. Aber der war bereits in der gegenüberliegenden Sporthalle verschwunden.

»Ja klar«, ätzte Lulu. »Weil eine Schulparty ja auch so wahnsinnig gefährlich ist. Passiert dauernd, dass Teenager auf Schulpartys entführt werden. Quasi jede Woche … Da!« Sie fuhr herum, was den Tupperdosenstapel in eine bedenkliche Schieflage brachte. »Siehst du? Meine Mutter steht immer noch da und schaut uns hinterher. Was glaubt sie eigentlich, wie alt ich bin? Fünf?«

Lulu schnaubte wütend und drückte mir ohne Vorwarnung den Dosenstapel in den Arm, um ihrer Mutter vehement zum Abschied zu winken. Tatsächlich trat Marisa daraufhin so kräftig aufs Gas, dass der babyblaue Twingo unter vernehmlichem Protest losbrauste. Sie hupte dreimal laut zum Abschied und verschwand.

Das bekam ich allerdings nur aus dem Augenwinkel mit. Denn ich war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, die schwankenden Tupperdosen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was leider nicht funktionierte! Die Dosen mit ihrem süßen Inhalt rutschten, stürzten und landeten eine über der anderen mit lautem Poltern auf dem Schulhof. Eine der Boxen verlor prompt ihren Deckel, sämtliche Törtchen kullerten heraus und verteilten sich um meine Füße auf dem Schulhof.

»Achtung, die Schwerkraft ist heute wieder besonders heimtückisch«, vernahm ich eine mir nur allzu vertraute Stimme. Und schon wehte meine Stiefschwester Sophie in einer süßlichen Parfümwolke durch das Schultor herein, dicht gefolgt von ihren zwei unvermeidlichen Begleiterinnen, Doreen und Daphne. Lulu und ich hatten Sophies Schatten der Einfachheit halber die Doppel-Ds getauft, was sowohl ihrem gut gepolsterten Brustumfang als auch ihrer Intelligenz – doppelt doof – entsprach.

Eigentlich passten die beiden gar nicht zu meiner Stiefschwester. Ich vermutete, sie waren nur mit ihr befreundet, weil sie sie gelegentlich die Hausaufgaben abschreiben ließ. Und Sophie konnte froh sein, überhaupt Freundinnen zu haben.

»Um deine feinmotorischen Fähigkeiten würde dich jede Dampfwalze beneiden.« Mit hocherhobener Nase schritt Sophie an mir und dem Törtchendesaster vorbei. Die Doppel-Ds folgten ihr kichernd, dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht wussten, was feinmotorische Fähigkeiten überhaupt waren.

»Und auf deine emotionale Intelligenz wäre jeder Zombie neidisch«, rief Lulu Sophie hinterher, aber meine Stiefschwester streckte bloß ihr Näschen noch etwas höher gen Himmel und klapperte Richtung Sporthalle davon, von wo bereits die gedämpften Bässe des Soundchecks zu uns drangen. Dass Sophie es sogar auf hohen Hacken schaffte, grazil wie eine Primaballerina herumzutrippeln, war ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass wir aus komplett unterschiedlichen Genpools stammten.


Sophie und ich waren am ersten Tag in der Grundschule nebeneinandergesetzt worden. Sie war diejenige mit den geflochtenen Bauernzöpfen, aus denen am Ende des Vormittags keine einzige Strähne herausstand. Ich war diejenige, die den Pausenkakao über sich schüttete. Sie war die mit dem Querflötenunterricht, ich diejenige, die selbst mit einer Blockflöte überfordert war. Sie war diejenige, die den Lük-Kasten im Akkord löste. Ich war diejenige, die vier Schulstunden lang den Vögeln vor dem Fenster beim Loopingfliegen zuschauen konnte. Und sie war dann diejenige, die bei unserer Klassenlehrerin petzte, dass ich versucht hatte, die Rechenaufgaben bei ihr abzuschreiben. Es dürfte nun wirklich niemanden überraschen, dass Sophie und ich uns vom ersten Tag an nicht ausstehen konnten.

Dummerweise war es meinem Vater und Sophies Mutter völlig anders ergangen, als sie sich beim Elternabend über den Weg gelaufen waren. Und sie hatten sogar geglaubt, uns etwas Gutes zu tun, als sie nur ein knappes Jahr später den Bund der Ehe eingegangen waren.

Ich versuchte, mich seither mit dem Gedanken zu trösten, dass auch viele andere Menschen es nicht leicht in ihrem Leben haben. Manche haben eine Warze im Gesicht, andere kreisrunden Haarausfall, und es gibt zahllose Menschen auf der Welt, die unter wirklich schweren Krankheiten, Armut und Hunger zu leiden haben.

Und ich hatte eben Sophie. Ich bemühte mich, diese Prüfung positiv zu betrachten. Ihre täglichen Sticheleien zu ertragen, verschaffte mir langfristig bestimmt ein paar Karma-Pluspunkte, sodass ich vielleicht irgendwann mal als Schmetterling statt als Regenwurm wiedergeboren werde.

Leider trafen Sophies Sticheleien regelmäßig ins Schwarze, zum Beispiel, was meine motorischen Fähigkeiten anging. Um die war es gelinde gesagt eher bescheiden bestellt. Für den Sportunterricht brauchte ich mir inzwischen keine Entschuldigungen mehr auszudenken, weil Herr Helmich, unser Sportlehrer, fast dankbar zu sein schien, wenn ich am Rand sitzen blieb. Wenn ich versuchte, Sport zu treiben, brachte ich grundsätzlich mich oder andere in Lebensgefahr. Immerhin gingen bereits zwei Platzwunden auf mein Konto, eine an meinem eigenen Kopf (Barren) und eine am Kopf von Samuel Sauermann (Badmintonschläger).

»Die gehen noch, man muss nur den Dreck ein bisschen abkratzen.« Lulu kniete zu meinen Füßen, sammelte die verstreuten Törtchen ein und legte sie zurück in die Tupperdose.

»Meinst du wirklich? Das ist doch irgendwie eklig.« Ich hockte mich zu ihr und hob eins der Sahnetörtchen mit spitzen Fingern vom dreckigen Boden auf. Es war so über und über mit Schotter gesprenkelt, dass es aussah wie ein Mohnmuffin.

»Quatsch. Dreck reinigt den Magen.« Lulu brach eine Ecke von einem Kokostörtchen ab, die besonders matschig wirkte, und stellte es neben das Mohn-Sahnetörtchen.

»Na ja.« Ich beschloss, die Tupperdose heimlich verschwinden zu lassen, bevor Lulu sie auf dem Buffet platzieren konnte. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass unsere Mitschüler eine Lebensmittelvergiftung erlitten.

»Ich wusste gar nicht, dass wir statt einer Party ein Picknick veranstalten.«

Ich sah an den Beinen in Baggy Jeans hinauf, die neben mir aufragten, und direkt in Samuel Sauermanns Gesicht, der schallend über seinen eigenen schwachen Scherz lachte.

»Im Ernst, Mädels, braucht ihr Hilfe?« Samuel hörte auf zu lachen und lächelte uns stattdessen breit an.

»Brauchen wir Hilfe?« Ich schaute Lulu herausfordernd an, aber die hatte wie immer, wenn Samuel irgendwo auftauchte, kurzzeitig das Sprechen verlernt.

Alle Mädchen in unserer Klasse waren in Samuel Sauermann verliebt. Alle außer mir. Sogar Lulu fand ihn traumhaft, was er nach allen Maßstäben der Mister-Dream-Skala vermutlich auch war. Samuel sah spitzenmäßig aus – wie eine Mischung aus Austin Butler (der Mund), Liam Hemsworth (die Augen) und Manuel Neuer (das breite Kreuz). Seit dem Badmintonschlägerattentat hatte er eine kleine Narbe an der rechten Braue, die ziemlich sexy wirkte. Samuel war außerdem sportlich, sehr sportlich um genau zu sein. Er schwamm in der ersten Wettkampfmannschaft seines Vereins und hatte bereits jede Menge Medaillen gewonnen. Weil durch den Sport die Schule manchmal etwas kurz kam, musste er letztes Jahr eine Klasse wiederholen. Deshalb war Samuel ein Jahr älter als wir und schien der Phase, in der alle Jungs sich verhielten wie minderbemittelte Kleinkinder, schon entwachsen zu sein.

Man könnte jetzt glauben, dass Samuel arrogant wäre und sich mit uns nicht abgeben wollte, aber das Gegenteil war der Fall. Er war bei allen beliebt und zu jedem nett, sogar zu mir, obwohl ich ihn mit dem Badmintonschläger attackiert hatte. Er hielt nur seitdem einen gewissen Sicherheitsabstand zu mir ein, wenn er in meine Nähe kam.

Das Einzige, was an Samuel nicht perfekt war, war seine minimal zu hohe Stimme. Wenn er den Mund aufmachte, klang es, als hätte er versehentlich einen Zug aus einer Heliumflasche inhaliert. Ein bisschen wie Micky Maus. Niemanden außer mir schien das zu stören, auch nicht Lulu. Sie war heftig und bis auf Weiteres unglücklich in Samuel verliebt, und mir war es unter Androhung der Todesstrafe verboten, ihn Mister Micky Maus zu nennen.

»Ich glaube, wir haben schon alles aufgesammelt«, antwortete ich an Lulus Stelle.

Samuel streckte seine Hand aus, um mir hochzuhelfen, schien allerdings in letzter Sekunde zu realisieren, dass er die Badmintonschlägerattentäterin vor sich hatte, und schwenkte in Lulus Richtung um. Aber meine Freundin, zu überwältigt von Samuels unverhoffter Aufmerksamkeit, ignorierte das Angebot und kam allein wieder auf die Beine. Die Situation hätte ziemlich peinlich werden können, doch Samuel deutete einfach mit der verschmähten helfenden Hand zum Eingang der Sporthalle und erklärte: »Ich geh dann schon mal vor.«

Als Lulu und ich kurze Zeit später beladen mit den vier Tupperdosen ebenfalls die Sporthalle betraten, beendete Echtzeit, die Schulband, bei der Lucas Frontsänger und Gitarrist war, gerade den Soundcheck. Ich beobachtete ihn, wie er seine Gitarre abstellte und von der Bühne stieg, die aus ein paar Paletten zusammengebaut worden war. Überrascht und wenig erfreut bemerkte ich, dass in dem Grüppchen, das dort auf die Bandmitglieder wartete, auch Sophie und die Doppel-Ds herumstanden. Was hatte meine Stiefschwester mit Lucas und seinen Kumpels zu schaffen?

Lulus Ellenbogen landete unsanft in meinen Rippen, und mir wurde im Wortsinn schmerzhaft bewusst, dass Frau Dr. No abwartend neben uns stand.

Ihr Gesicht war wie immer starr wie eine Maske – zu viel Botox, wurde in unserer Klasse gelästert – nur ihre schmalen Brauen, die aussahen wie mit dem Bleistift gemalt, hatte sie fast bis zum Haaransatz hochgezogen. Darunter betrachtete sie mich ungeduldig, als erwarte sie von mir die Lösung für irgendeine komplizierte Gleichung.

Frau Dr. Nowottny – von uns bloß Frau Dr. No genannt – unterrichtete unsere Klasse seit Anfang des Schuljahres in Mathe. Und sie hatte es innerhalb weniger Tage geschafft, sich bei allen unbeliebt zu machen. Bei allen außer meiner Streberstiefschwester Sophie natürlich.

Das lag daran, dass Frau Dr. No am Anfang jeder Stunde eine Reihe komplizierter Gleichungen an die Tafel schrieb und jemanden nach vorne bat, der die Aufgaben dann vor der ganzen Klasse lösen musste. Lulu und mich hatte das auf die Idee gebracht, die Tafel mit Schmierseife zu wischen. Wir fanden es einfach witzig, uns vorzustellen, wie sie auf der eingeseiften Tafel vergeblich versuchen würde, die Aufgaben anzuschreiben.

Später stellte sich leider heraus, dass das Ganze keine wirklich witzige Idee war, weil Frau Dr. No unglücklich auf einer Pfütze ausrutschte und drei Wochen lang in einem Gips herumhumpeln musste. Auch wenn sie nie beweisen konnte, dass wir für den Seifenanschlag verantwortlich waren, fürchtete ich, dass sie einen Verdacht hegte. Und das verbesserte unser Verhältnis nicht unbedingt.

»Ich sagte, ihr könnt den Kuchen da vorne aufs Buffet stellen.«

Ihr Blick bohrte sich in meinen, wanderte hinab zu den Tupperdosen, schien einen Moment zu lang knapp über meinem Herz zu verweilen und kehrte zu meinem Gesicht zurück. Unter den Augen von Frau Dr. No fühlte ich mich immer wie in einem Nacktscanner am Flughafen. Prompt hatte ich Sorge, die Antwort nicht zu kennen, dabei hatte sie mir gar keine Frage gestellt.

»Viel Spaß, ihr zwei«, sagte sie genau in dem Moment, als Lulu und ich es endlich schafften, uns aus ihrem Bannblick zu lösen und zum Buffet zu steuern.

»Äh, danke«, brachte ich entgeistert heraus.

»Was war das denn?«, raunte Lulu mir zu.

»Keine Ahnung, womöglich ein unerwarteter Anflug von Freundlichkeit«, antwortete ich, als wir uns weit genug von Frau Dr. No entfernt hatten, damit sie es nicht mehr hören konnte.

»Vielleicht hat sie sich aber auch was eingefangen«, mutmaßte Lulu. »Aktuell soll ein fieser Virus rumgehen.«

»Hm«, machte ich, hatte aber Frau Dr. No bereits wieder vergessen. Denn quer durch die Halle beobachtete ich Lucas, der sich neben Sophie stellte und etwas zu ihr sagte, woraufhin meine Stiefschwester zu lachen anfing und dabei ihren Kopf mit einer Bewegung zur Seite drehte, die ihre langen blonden Haare von einer Schulter zur anderen schwingen ließ. Jetzt lachte auch Lucas. Er hatte ein wirklich schönes Lachen, das wusste ich, obwohl ich es in diesem Moment nicht hören konnte, und ich fand, dass es an jemanden wie Sophie vollständig vergeudet war. Schwungvoll knallte ich die Tupperdosen aufs Buffet.

»Weißt du, was Lucas mit Sophie zu schaffen hat?«, fragte ich Lulu, die ihre Dosen bereits abgestellt hatte und sich in der Sporthalle umschaute, die sich nach und nach mit immer mehr Leuten füllte.

»Nee, wieso?« Lulu betrachtete jetzt ebenfalls die Gruppe vor der Bühne und zog einen kleinen, spitzen Kussmund. »Aber ich finde, die zwei passen super zusammen. Mein blöder Bruder und deine fiese Schwester, ein echtes Traumpaar. Und sie lebten unausstehlich bis ans Ende ihrer Tage …« Lulu grinste.

Ich fand das überhaupt nicht lustig, doch das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Also beschränkte ich mich auf ein weiteres »Hm« und feuerte ein paar böse Blicke in Sophies Richtung, die eigentlich ihren Schädel hätten durchbohren und ihr grauenhafte Schmerzen hätten verursachen müssen, wovon sie leider nichts zu spüren schien.

»Hey, Mädels, da seid ihr ja wieder.« Samuel Sauermann tauchte neben uns am Buffet auf. »Habt ihr den Kuchen eingefangen?« Er ließ seine Finger über den Tupperdosen kreisen und griff dann gezielt nach dem Törtchen mit den schwarzen Sprenkeln.

»Lecker, ich mag Mohn!«

Mist! Ich hatte mich von Sophie und Lucas ablenken lassen und darüber ganz vergessen, die Dose mit den verseuchten Törtchen klammheimlich unter dem Buffet verschwinden zu lassen.

»Stopp«, rief ich in letzter Sekunde und hängte mich an Samuels Arm, sodass ihm der kleine Kuchen aus der Hand fiel und er mit offenem Mund und einem ziemlich perplexen Gesichtsausdruck zurückblieb.

»Sorry, aber die mit Mohn sind ausschließlich für die Lehrer vorgesehen«, stammelte ich, was zugegeben eine ziemlich abstruse Ausrede war, doch auf die Schnelle fiel mir keine bessere ein.

»Okay«, erwiderte Samuel zweifelnd und betrachtete mich mit einem Blick, als wäre ihm bereits seit der Sache mit dem Badmintonschläger klar, dass er eine Verrückte vor sich hatte, die man nicht übermäßig aufregen durfte.

»Hier, nimm eins mit Kokos.« Ich griff in die Box mit den Törtchen, die nicht auf dem Boden gelandet waren. »Oder eins mit Marzipan. Oder magst du lieber eins mit Mandeln? Oder hier, mit Bohnen?«

Mit jedem Törtchen, das ich aus der Box nahm, weiteten sich Samuels Augen ein bisschen mehr vor Verwunderung. Wahrscheinlich hörte ich mich an wie eine hysterische Bäckereifachverkäuferin.

»Ich glaube, ich hab doch keinen Hunger«, sagte er schließlich. Und ich war sehr dankbar, dass Echtzeit genau in diesem Moment zu spielen anfing.

Lulu, die noch immer keinen Ton herausgebracht hatte, fing sofort wie ferngesteuert an, im Takt der Musik mitzuwippen.

Lulu tanzt für ihr Leben gern und sie tanzt wie gesagt fantastisch, im Gegensatz zu mir – ich sehe auf der Tanzfläche aus, als stünde ich unter Starkstrom.

»Hast du vielleicht Lust zu tanzen?«, fragte Samuel sie, ganz klar in dem Bestreben, so schnell wie möglich von mir wegzukommen.

Lulu warf mir einen fragenden Blick zu, und als ich heftig nickte, lächelte sie Samuel glücklich an und steuerte mit ihm Richtung Tanzfläche. Somit hatte meine peinliche Aktion wenigstens etwas Gutes gehabt.

Als die zwei zwischen den vielen Leuten verschwunden waren, die mittlerweile die Tanzfläche verstopften und mir den Blick auf die Bühne versperrten, ließ ich als Allererstes die Tupperdose mit den Törtchen des Grauens unter dem Tisch verschwinden. Zwei weitere – saubere Törtchen – wanderten in meinen Mund.

Schließlich lehnte ich mich gegen das Buffet, betrachtete das Gedränge und wusste plötzlich nichts mehr mit mir anzufangen. Aus meiner Klasse konnte ich niemanden entdecken, mit dem ich Lust gehabt hätte zu quatschen. Ich wollte aber auch nicht von meinem Platz am Buffet weggehen, weil ich Sorge hatte, dass Lulu mich ansonsten nicht mehr finden würde.

Also lauschte ich dem Konzert von Echtzeit und sang im Kopf jeden einzelnen Song mit, denn ich konnte alle Texte auswendig. Abwesend spielte ich währenddessen mit der Halbkugel, die an der Kette um meinen Hals baumelte. Sacht fuhr ich mit dem Finger über die verschlungenen Gravuren und musterte sie erneut. Sie sahen wirklich aus wie Geheimzeichen aus Strichen und Punkten, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie zu bedeuten hatten. Vielleicht waren sie ja auch bloß als Verzierung gedacht. Das Zifferblatt zeigte Viertel vor acht, genau wie die große Uhr, die an der Querseite der Sporthalle hing.

Verstohlen seufzte ich. Ich hatte mich so auf die Party gefreut und darauf, unseren Geburtstag mit Lulu gemeinsam zu feiern. Doch jetzt war meine Freundin von Samuel entführt worden. Nicht dass ich es ihr missgönnte – im Gegenteil! Aber mir war, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig.

In diesem Moment begann die Band, ein neues Lied zu spielen, das ich noch nicht kannte. Es war eine langsame Ballade, die gerade perfekt zu meiner Stimmung passte. Ich lauschte Lucas’ toller tiefer Stimme und, ja, mein Herz fing schon wieder an zu flattern, obwohl ich Lucas wegen der vielen Leute gar nicht sehen konnte.

Gerade, als ich überlegte, ob ich mich doch lieber nach vorne drängen sollte, setzte eine Flöte ein. Sie griff die Melodie auf und trug sie sanft über die Köpfe hinweg zu mir. Ich wunderte mich. Die Jungs von Echtzeit spielten selbst geschriebenen Gitarren-Pop-Rock. Ich konnte mir keinen von ihnen mit einer Flöte vorstellen …

Doch dann machten ein paar Leute einen Schritt zur Seite, sodass ich einen Blick auf die Bühne erhaschen konnte. Und dort neben Lucas stand, mit geschlossenen Augen, als würde sie sich ganz der Musik hingeben: meine Stiefschwester.

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