Читать книгу Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg - Страница 10
ОглавлениеEva wohnte immer noch in dem Haus im Slåtterängsvägen, ein Holzhaus aus den frühen Vierzigern. Nielsen betrachtete das Haus von der Straße aus. Es sah mittlerweile recht mitgenommen aus. Die Farbe war an vielen Stellen abgeplatzt und abgeblättert. Das Ziegeldach schien dringend überprüft werden zu müssen. Selbst der Garten, Evas Hobby, trug Spuren des Desinteresses. Himbeer- und Johannisbeersträucher waren wild gewuchert und bildeten am hinteren Ende des Gartens einen kleinen Dschungel.
Er öffnete das Gartentor. Er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Und Eva hatte er kaum noch gesehen, nachdem sie und Lasse geschieden worden waren, abgesehen von dem kurzen Treffen bei der Beerdigung. Das, was er von ihr heute wusste, war das Wenige, das Lasse erzählt hatte, und meistens ging es um ihre Bitterkeit und ihre Unversöhnlichkeit. Sie hatte auch ihr Bestes getan, das auf ihre Söhne zu übertragen. Alles laut Lasses Erzählungen.
Sie hatte ihn kommen gesehen und öffnete, bevor er klingeln konnte. Fasste ihn rasch am Arm und bat ihn hinein. Er sah sich im Haus um. Es war still.
»Sind die Jungs schon weggefahren?«, fragte er.
Eva nickte.
»Sie waren nur übers Wochenende hier. Erik hatte irgendeine Übung. Und Andreas, ja, er hatte wohl schlicht keine Lust, länger zu bleiben.«
Erik hatte seinen Militärdienst als Gebirgsjäger in Arvidsjaur gemacht und war dann beim Militär geblieben. Andreas war der Rebell der Familie, er war schon nach einem Jahr vom Gymnasium abgegangen und zu Hause ausgezogen. Jetzt wohnte er in Göteborg und arbeitete in einem Hamburgerimbiss.
Eva musterte ihn.
»Du bist nicht mehr ins Restaurant gekommen?«
Nielsen schwieg und begriff, dass sie das mehr oder weniger als einen Verrat ansah.
»Ich hatte keine Lust zu reden«, sagte er schließlich. »Nicht in dem Moment.«
Eva lächelte ihn säuerlich an.
»Dann hättest du gut in die Gesellschaft gepasst. Es war nicht gerade eine Orgie der Gesprächigkeit. Du hättest ja mit uns zusammen schweigen können.«
»Ich wollte ganz einfach allein sein«, sagte er nach einer Weile.
Eva sah ihn unverwandt an, dann zuckte sie mit den Schultern und ging in die Küche.
»Möchtest du einen Tee? Es gibt auch Pulverkaffee, falls du . . .«
Nielsen schüttelte den Kopf.
»Tee ist gut.«
Er folgte ihr, setzte sich auf einen Stuhl an den Küchentisch und schaute sich im Zimmer um, während sie das Teewasser aufsetzte. Er hatte oft hier gesessen. Angefangen zu der Zeit, als Lasse sein Bewährungshelfer war und das neu gekaufte Haus mehr einer Baustelle glich. Dann war er auch weiterhin gekommen, lange nachdem die Bewährung abgelaufen war. Hatte Lasse bei den ständigen Renovierungsarbeiten geholfen. War Babysitter gewesen, als die Jungen noch klein waren. Hatte Eva geholfen, die bleischweren, kaum essbaren Sauerteiglaibe zu kneten, als sie in ihrer makrobiotischen Phase war. Und hatte Tee getrunken. Eva war eine fanatische Teetrinkerin, die es fast als einen moralischen Defekt ansah, wenn man ihre Leidenschaft nicht teilte. Und er vermutete, dass sich daran nichts Entscheidendes geändert hatte.
Sie goss den Tee auf und stellte eine Platte mit frisch gebackenen Scones auf den Tisch. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was willst du eigentlich, Johnny? Denn du bist nicht hergekommen, um mich zu sehen, oder? Das habe ich schon verstanden, als du angerufen hast.«
»Nicht nur«, gab er zu.
Er nippte am Tee.
»Es geht um Lasse.«
Er erzählte von Lasses Abwesenheit am Arbeitsplatz während des Monats vor seinem Tod. Dass anscheinend niemand wusste, was er getan hatte, worum es ging.
Eva sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.
»Lasse und ich hatten so gut wie keinen Kontakt mehr, das weißt du doch?«, sagte sie, als er schwieg. »Das bisschen kam nur über die Jungs. Deshalb habe ich keine Ahnung, was er gemacht hat.«
»Du hast auch keine Vermutung?«
Sie lehnte sich vor und sah ihn verbissen an.
»Wir waren fünfzehn Jahre lang verheiratet. Wussten alles voneinander. Sagten einander alles. Das glaubte ich zumindest. Ich habe ihm so verdammt vertraut. Hatte gedacht, wir wären irgendwie Geschwisterseelen. Dass wir, egal, was passieren würde, alles durchstehen würden. Und dann kommt er eines Tages einfach so nach Hause und verkündet, dass er eine andere getroffen hat und sich scheiden lassen will. Die Beziehung war da bereits ein Jahr lang am Laufen. Und ich dumme Gans hatte es nicht gemerkt, nichts begriffen, stand da wie ein dämlicher Idiot, der ich auch war . . . Nein, ich weiß eigentlich gar nichts von Lasse Henning. Das habe ich damals begriffen.«
Nielsen hörte zu. Er wusste, dass Lasses Version ganz anders gewesen wäre, dass es darin um eine Beziehung gegangen wäre, die mit jedem Jahr bitterer und festgefahrener geworden war, um eine Ehe, die sich zu einem stetigen Schützengrabenkrieg entwickelt hatte.
Aber er sagte nichts, hatte keine Lust zu beurteilen, wer im Recht war, hatte keine Lust, Stellung zu beziehen. Das hatte er damals nicht getan und tat es heute noch weniger.
Er nahm das Foto aus der Tasche und legte es vor sie hin.
»Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?«
Sie sah einen Augenblick auf das Bild und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie knapp.
Sie schaute noch einmal.
»Deswegen bist du also gekommen? Um herauszufinden, wer da an ihm hängt? Und sie hat dich geschickt, oder nicht? Gisela. Sie muss es doch wissen? Obwohl es vor einer Million Jahren aufgenommen worden sein muss!«
Sie sah Nielsen unverwandt an und holte Luft.
»Kannst du mir sagen, was das bedeuten soll, jetzt damit zu kommen? Findest du nicht, dass alles schon schlimm genug ist? Ich habe kein Interesse daran, hier zu helfen. Lasse ist tot. Das kann man nicht ändern. Und ich werde ganz bestimmt nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um herauszufinden, was er gemacht hat, weder während des letzten Monats noch vor dreißig Jahren. Ich habe schlicht und einfach keine Lust. Ich will nichts wissen!«
Sie schwieg und blickte an Johnny vorbei.
»Glaub bloß nicht, dass er mir nicht fehlt«, fuhr sie etwas leiser fort, »aber ich bin ja daran gewöhnt, es ist schon lange so, dass ich ihn abwechselnd vermisst und gehasst habe. In den letzten Jahren vor allem gehasst, das muss ich zugeben. Aber ich will nicht mehr daran denken. Ich will all das nicht noch mal hervorzerren. Ich will, dass es vorbei ist. Endlich. Verstehst du das?«
Nielsen überlegte.
»Gab es denn damals, während der Siebziger, Achtziger Jahre jemanden, mit dem er Kontakt hatte, der etwas wissen könnte?«, fragte er dann. »Einen Kollegen?«
Eva sah ihn kurz an.
»Das weiß ich nicht. Im Moment fällt mir jedenfalls niemand ein.«
»Lindståhl, der auch bei der Beerdigung war?«
Eva rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Lindståhl war ja sein Chef. Sie hatten privat nichts miteinander zu tun. Ich bezweifle, dass er sonderlich viel darüber weiß, was Lasse in seiner Freizeit gemacht hat.«
Nielsen nickte, nahm das Foto an sich und ließ es in seine Tasche gleiten. Dann stand er auf.
»Grüß die Jungs von mir. Und pass auf dich auf.«
»Du auch«, antwortete sie.
Er stand auf, blieb im Türrahmen stehen und drehte sich um.
»Wir sollten vielleicht versuchen, uns noch einmal zu treffen? Unter etwas angenehmeren Umständen?«
Sie sah ihm in die Augen, schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Tu doch nicht so, Johnny. Warum sollten wir das? Wir haben doch eigentlich gar keinen Grund mehr dafür, wenn wir ehrlich sind. Und das wolltest du doch immer sein, wenn ich mich recht erinnere?«
Er fuhr auf der E4 in nördlicher Richtung, geriet in den Nachmittagsverkehr, der langsam vorankroch und manchmal ganz still stand. Er dachte immer noch an Evas Abschied, konnte das, was sie gesagt hat, einfach nicht vergessen. Und er musste zugeben, dass es ihn verletzt hatte, er fühlte sich gekränkt. Und erniedrigt.
Er hatte außerdem das Gefühl, dass sie gelogen hatte. Vielleicht nicht, als sie sagte, dass sie keine Lust hatte, ihn noch einmal zu treffen, aber was das Mädchen auf dem Bild anging. Der kurze Blick auf das Foto und dann das sofortige Verneinen, dabei hatte sich ihr Körper angespannt und etwas Verteidigungsbereites angenommen. Sie wusste mehr über das Foto, als sie sagen wollte.
Es musste in den achtziger Jahren gemacht worden sein, dachte er. Und eher am Anfang als später. Er erinnerte sich an die Koteletten und die halblangen Haare, nichts davon sonderlich dienstkonform. So war Lasse Henning nach dem Unfall ins Krankenhaus gestiefelt. Nielsen sah ihn immer noch vor sich: diese etwas jugendliche Schlaksigkeit, die er trotz seiner Körpergröße hatte, die hellen Haare, die bis über den Hemdkragen reichten, die Koteletten.
Er beugte sich vor, strich mit der Hand über die Prothese, die fünf Zentimeter unter dem Kniegelenk begann. Der Unfall war fast zwanzig Jahre her. Er hatte in einem gestohlenen Auto gesessen, kurz vor Nyköping, die Tachonadel stand kurz unter hundertvierzig, wegen der tiefstehenden Abendsonne hatte er schützend die Hand vor die Augen gehalten. Dann war da nichts mehr. Eine traumartige, verschwommene Sequenz vom Unfall selbst. Sonst nur Dunkelheit. Nein, nicht einmal das. Einfach nichts. Gar nichts. Bis er nach über einer Woche mit gebrochenen Armen, Rippenbrüchen, einer punktierten Lunge und Knochenbrüchen im Gesicht aufwachte. Außerdem hatte man sein linkes Bein direkt unter dem Knie amputieren müssen.
Er spürte, wie sein Gesicht etwas Verbissenes bekam, wie immer, wenn er an den Unfall dachte. Als erinnerte er sich an ein altes Unrecht. »Dank stattdessen deinem Schutzengel«, hatte Lasse Henning irgendwann mal säuerlich kommentiert. »Du bist davongekommen. Und du hast eine zweite Chance bekommen. Sieh das mal so. Und hör auf zu jammern.«
Aber die Bekanntschaft mit Lasse reichte noch weiter zurück. Bis in die späten Siebziger. »Ich habe dich doch als Erster unterstützt, damals, als du der Klügste der Welt warst, nicht wahr?«, erinnerte Lasse ihn immer wieder augenzwinkernd. »Ja, du hast mir sehr genau erklärt, wie dumm alle Bullenschweine waren, besonders der Unterzeichnende, trotz der Bauchlandung, die du hingelegt hast. Erinnerst du dich?«
Er war damals siebzehn und von Lasse Henning bei einem unglaublich ungeschickten Einbruchsversuch ertappt worden. Und ihre Wege sollten sich immer wieder kreuzen.
Als der Unfall passierte, war er dreiundzwanzig und hatte es geschafft, mehrere Male erwischt und verurteilt zu werden. Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch. Und er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals versucht hatte, den Teufelskreis aus neuen Verbrechen und neuen Verhaftungen zu durchbrechen, oder dass er auch nur darüber nachgedacht hätte. Da war etwas, das ihn unwiderstehlich mitriss.
Aber der Unfall veränderte sein Leben. Er war auch die indirekte Ursache für die Freundschaft zwischen ihm und Lasse Henning. Ungefähr ein halbes Jahr später, im Herbst, als Lasse plötzlich Ernst machte und ihn knallhart vor die Wahl stellte: ein Volontariat bei einer Regionalzeitung, Norrtelje Tidning, als Gegenleistung dafür, dass er Lasse als seinen Bewährungshelfer akzeptierte. Er hatte über Beziehungen, ein Cousin war Redaktionsleiter, diese Möglichkeit aufgetan. Ein kleines Wunder, wenn man Nielsens Qualifikationen bedachte. Aber Lasse Henning besaß ein ziemliches Überredungstalent und außerdem ein ausgezeichnetes Fingerspitzengefühl, wenn es um Menschen ging. Irgendwie schien er geahnt zu haben, dass es funktionieren könnte. Und das tat es dann auch.
Fünf Jahre später, gegen Ende der achtziger Jahre, hatte Nielsen die Zeitung verlassen und schrieb freiberuflich weiter, vor allem Reportagen. Mit unterschiedlichem Erfolg, aber gegen Mitte der Neunziger Jahre schrieb er einige große, wichtige Artikel über ungelöste Verbrechen für eine der Abendzeitungen und ein Jahr später eine ganze Serie über ungeklärte Vermisstenfälle. Dadurch war er sehr bekannt geworden, was mit einem Schlag seine Situation verändert hatte: Er hatte keinerlei Schwierigkeiten mehr, das, was er schrieb, unterzubringen, stattdessen musste er Angebote ablehnen, sowohl von der Hauptstadtpresse als auch von Regionalzeitungen.
Lasse Henning hatte eine wichtige, wahrscheinlich entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt. Und nicht nur in seinem: Lasse hatte auch andere Schützlinge gehabt, die er zu unterstützen versucht hatte, mit unterschiedlichen Resultaten. Sie hatten nie viel darüber gesprochen, und Lasse kommentierte seinen Einsatz nicht gerne, außer bei seltenen Gelegenheiten. »Man muss einem das Leben ja nicht schwerer als nötig machen, das ist immer meine Meinung gewesen«, hatte er mit einem spöttischen Gesichtsausdruck gesagt.
Nielsen dachte an die Worte des Priesters bei der Beerdigung über Lasses großes Herz. Was vielleicht eine Erklärung war. Dass er ganz einfach ein netter Mensch gewesen war. Jemand, der versucht hatte, so viel Gutes zu tun, wie er konnte.
Er holte das Foto aus der Tasche und klemmte es zwischen Lenkrad und Mittelfinger, betrachtete es, während die Autoschlange vorankroch. Lasse Henning, in einer bedeutend jüngeren Ausgabe, um die dreißig. Ein breites Lachen im runden Gesicht, an eine Hauswand gelehnt, ins Sonnenlicht blinzelnd. Das Mädchen, das er im Arm hielt, den Kopf an seiner Brust, lächelte ebenfalls. Jung, kaum über siebzehn, schätzte er. Mit markanten Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einem breiten Mund mit vollen Lippen. Die dunklen Augen unter den schmalen Augenbrauen waren fast asiatisch schmal.
Das Foto wurde irgendwann Anfang der Achtziger aufgenommen, da war er sich ganz sicher. Er rechnete nach. Um das Jahr achtzig hatten Lasse und Eva geheiratet, aber da hatten sie schon einige Jahre zusammengewohnt, das wusste er. Er betrachtete noch einmal die beiden auf dem Foto. Lasse sah überglücklich aus, die Arme um die junge Frau gelegt, die in seiner Umarmung fast verschwand. Vielleicht verliebt, dachte Nielsen und sah dem Mädchen ins Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck war schwieriger zu deuten, der Blick aus den dunklen Augen hatte sowohl etwas Herausforderndes als auch etwas Fröhliches, es war schwer zu beurteilen, ob sie das alles ernst nahm.