Читать книгу Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg - Страница 13

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Lindståhls volles Haar war fast ganz weiß, genau wie die buschigen Augenbrauen. Er war groß, drahtig und hatte immer noch einen geraden Rücken. Wie er so da stand, hinter dem Gartentor auf dem Grundstück des Hauses, kerzengerade und reglos, erinnerte er Nielsen an einen Rasierpinsel.

Er sagte nichts und sah Nielsen aus seinen blassblauen Augen starr an.

»Komm, Bengt. Bringen wir unseren Gast nach drinnen.«

Eine Frau im selben Alter wie Lindståhl tauchte aus einem anderen Teil des Gartens auf und nahm seine Hand.

»Dann haben Sie wohl angerufen. John Nielsen? Kommen Sie nur. Wir gehen hinein. Es ist ein bisschen zu kühl, um noch draußen zu sitzen, finde ich. Zumindest für uns alte Leute.«

Sie ging auf das Haus zu und führte ihren Mann, den sie fest an der Hand hielt.

Sie saßen an einem Tisch im Wohnzimmer. Lindståhl sah ab und zu auf Nielsen, aber meist beobachtete er die Bewegungen seiner Frau, während sie den Tisch deckte.

»Nun, ich habe Ihnen ja erzählt, wie es aussieht. Und dass es wohl keine gute Idee ist, ihn nach irgendetwas zu fragen. Jedenfalls kann man keine Antwort erwarten.«

Sie schenkte Kaffee ein. Die Tasse ihres Mannes hatte sie bereits zur Hälfte mit Milch gefüllt. Er griff fast sofort danach und leerte sie mit einem Schluck, dann hielt er sie ihr wieder hin.

»Ich muss aufpassen, dass er sich nicht schwer verbrennt«, fuhr sie entschuldigend fort, »oder sich verschluckt. Er hat kein Gefühl mehr für solche Dinge. So, Bengt. Jetzt ist es genug. Du bekommst stattdessen das hier.«

Sie stellte die Tasse außer Reichweite für ihn, nahm eine Zimtschnecke vom Kuchenteller, brach ein Stück ab und reichte es ihm.

»Auf der Beerdigung hat man kaum etwas gemerkt«, sagte Nielsen.

»Rein körperlich ist er immer noch in guter Verfassung. Ich würde sagen, besser als die meisten in seinem Alter. Und wenn sich jemand um ihn kümmert, dann geht es eigentlich gut. Er ist meistens umgänglich, tut, was man ihm sagt. Und wenn man es nicht weiß, ist es schwer zu glauben, dass ihm etwas fehlt. Das merkt man erst, wenn man versucht, mit ihm zu sprechen.«

Sie goss Kaffee und Milch in Lindståhls Tasse und stellte sie vor ihn. Beobachtete ihn, während er danach griff und sie wieder gierig leerte.

»Es ist nicht einfach, das zu begreifen«, sagte sie. »Jemand, mit dem man über vierzig Jahre zusammengelebt hat. In guten und schlechten Tagen. Und dann verschwindet dieser Mensch einfach, Stück für Stück. Das, was man gemeinsam hatte, gibt es nicht mehr. Sachen, über die man gesprochen hat. Sachen, die man gemeinsam erlebt hat. Ja, es ist, als verschwände auch das eigene Leben . . .«

Lindståhl hatte sich wieder nach vorn gelehnt, sah seine Frau an, öffnete den Mund, und einen Augenblick lang hatte Nielsen das Gefühl, einen Funken von etwas anderem in seinem Blick zu erkennen. Etwas Lebendiges, Waches, Gequältes. Gleichzeitig verzerrte sich das Gesicht in einer Art heftiger Kraftanstrengung, als versuchte er verzweifelt, sich an etwas zu erinnern. Dann blieb sein Blick an dem Teller mit den Zimtschnecken hängen, und der Funke erlosch genauso schnell wieder. Er streckte die Hand aus, doch seine Frau nahm sie und führte sie freundlich, aber bestimmt zur Seite, sie brach ein Stück von der bereits begonnenen Schnecke ab und gab es ihm.

»Sie wollten etwas über Lasse Henning fragen?«, sagte sie, während sie Lindståhl beim Essen zusah.

»Ja«, nickte Nielsen. »Ich frage mich da etwas, und ich hatte gehofft, dass Ihr Mann vielleicht etwas weiß.«

»Es ist traurig wegen ihm, wegen Lasse«, sagte die Frau. »Es hat mich sehr getroffen, als ich es erfahren habe. Und ich glaube sogar, dass Bengt auch etwas von dem, was geschehen ist, begriffen hat, man hat es ihm angemerkt, als wir nach der Beerdigung nach Hause kamen. Er hat Lasse immer gemocht. Nicht wahr, Bengt?«

Sie klopfte ihrem Mann auf die Hand, und er sah sie aufmerksam an und nickte.

»Ein guter Junge«, sagte er. »Du bist ein guter Junge.«

Sie sah Nielsen mit einem kurzen Lächeln an.

»Er sagt selten etwas anderes.«

Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster in den Frühlingsabend.

»Und das kann man wohl leicht erklären. Die Truppe bedeutete ihm viel. Seine Jungs, wie er sagte. Wir haben ja nie eigene bekommen.«

Nielsen nickte. Er hatte Geschichten über Lindståhl gehört, sowohl von Lasse Henning als auch von anderen. Darüber, wie er sich für seine Untergebenen einsetzte, in so gut wie allen Situationen. Aber auch über seine Vorstellung von Loyalität und seine Strenge, wenn sie angebracht war. »Hart, aber ungerecht«, wie Lasse ihn mal mit einem schiefen Lächeln beschrieben hatte.

»Ich wollte nach der Frau auf diesem Foto fragen«, sagte er, holte das Foto heraus und legte es auf den Tisch. »Ob er etwas über sie weiß.«

Er drehte das Bild so, dass Lindståhl es sehen konnte. Der alte Polizist sah von Nielsen auf das Bild, zunächst ohne erkennbare Reaktion. Dann zuckte sein Gesicht, und er schlug mit den Händen so heftig auf den Tisch, dass das Kaffeeservice in die Höhe hüpfte.

»Ein guter Junge! Nein, nein, nein!«

Seine Frau beugte sich vor und berührte seinen Arm.

»Aber Bengt, beruhige dich doch . . .«

Doch er schob ihre Hand energisch zur Seite, drehte sich um und marschierte zum Fenster. Dort blieb er stehen, von ihnen abgewandt, die Hände auf dem Rücken, und trat auf der Stelle.

»Das Foto hat ihn aufgeregt«, sagte Nielsen. »Haben Sie eine Ahnung, warum?«

Die Frau betrachtete den Rücken ihres Mannes. Sie sprach zögerlich, leise.

»Ich erkenne sie. Es war ein Mädchen, dass ein paar Polizisten beschuldigt hat, sie vergewaltigt zu haben . . . Es ist schon lange her, aber das ist ja auch ein altes Foto, oder?«

Nielsen beugte sich vor.

»Und Lasse Henning hatte etwas damit zu tun?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Ja, er war ein Teil des Durcheinanders.«

»Sind Sie sicher, dass es dieses Mädchen war?«

Sie blickte noch einmal auf das Foto.

»Sie war hier«, sagte sie nach einem Augenblick, »einmal, sie hat Bengt gesucht. Ich erinnere mich an ihr Gesicht. Und ich erinnere mich auch, dass Bengt ziemlich aufgebracht war, als er das erfuhr. Er fand, dass es ein Eindringen in sein, ja, in unser Privatleben war.«

Sie bekam einen abwesenden Gesichtsausdruck und schüttelte leicht den Kopf.

»Bengt sprach nicht viel über die Arbeit. Aber dieses Mal sah er sich wohl gezwungen, da sie hier bei uns aufgetaucht war. Außerdem glaubte er anscheinend, dass die Sache auch in die Presse kommen würde. Er war damals in den Fünfzigern und gerade zum Chef ernannt worden. Und es ging um Leute, die unter ihm arbeiteten. Daher trug schlussendlich er die Verantwortung.«

»Und was ist passiert?«

»Nichts. Soweit ich mich erinnere, stellte sich heraus, dass alles erfunden war. Lügen. Es war ein Mädchen aus dem Drogenmilieu und . . . ja, sie wurde wohl nicht als sehr glaubwürdig angesehen. Und in den Zeitungen stand auch nichts, man war dort wohl derselben Meinung.«

»Wissen Sie, wie sie hieß?«, fragte Nielsen.

Lindståhls Ehefrau schüttelte den Kopf.

»Nein. Das wurde nie erwähnt. Bengt hat sich immer sehr genau an die Schweigepflicht gehalten. Aber ich weiß, dass er gesagt hat, dass man sie später nicht mehr erreichen konnte, als man ihre Angaben genauer prüfen wollte.«

Nielsen sah zu Lindståhl am Fenster. Er trat immer noch auf der Stelle, atmete geräuschvoll, fast asthmatisch.

»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, sagte die Frau. »Vielleicht beruhigt er sich dann. Es ist lange her, dass ich ihn so aufgebracht gesehen habe.«

Nielsen nickte und stand auf.

»Gibt es sonst noch jemanden, der etwas über das hier wissen könnte?«

»Es ist ja lange her«, sagte sie. »Und vielleicht nichts, über das man gerne befragt wird. Aber Sie können es bei Fred versuchen. Fredrik Edling. Kennen Sie ihn?«

Nielsen schüttelte den Kopf.

»Nicht? Er und Lasse standen einander sehr nahe, soweit ich weiß. Zumindest früher. Ich glaube, dass sie fast gleichzeitig bei der Truppe angefangen haben. Und beide haben unter Bengt gearbeitet.«

Sie nickte in Richtung Lindståhls Rücken am Fenster.

»Fred hat die Polizei dann verlassen. Aber er hat den Kontakt weiterhin gehalten. Er besucht uns ab und zu, hilft uns bei schweren Arbeiten, geht mit Bengt raus, so dass ich ein bisschen frei habe. Es war Fred, der ihn zu Lasses Beerdigung mitgenommen hat . . .«

Nielsen musterte Lindståhls Frau.

»Was halten Sie selbst hiervon? War es eine Lüge, was das Mädchen behauptet hat?«

Sie sah ihm in die Augen.

»Woher soll ich das wissen?«

Dann schaute sie wieder auf ihren Mann, und ihre Miene verhärtete sich.

»Aber es war insgesamt nicht einfach für Frauen, dass man ihnen in solchen Situationen Glauben schenkte. Und wenn es dann auch noch um Polizisten ging . . . ja, das können Sie sich ja denken. Es spielte vielleicht keine große Rolle, ob es wahr war oder nicht.«

Sie wandte sich wieder Nielsen zu.

»Und hat das heute noch eine Bedeutung? Lasse Henning ist fort. Bengt wird bald fort sein. Und was auch geschehen ist, es ist vor über zwanzig Jahren passiert, und heute kann man nichts mehr dagegen tun. Welchen Sinn hat es eigentlich, deswegen nachzubohren?«

Nielsen zuckte leicht mit den Schultern.

»Die Wahrheit hat wohl immer eine gewisse Bedeutung. Selbst wenn sie spät kommt.«

Aber auf dem Weg zum Auto gab er ihr größtenteils Recht. Das Ganze war anscheinend ziemlich sinnlos. Niemand würde dadurch glücklicher werden. Niemand würde sich bei ihm bedanken. Und niemand würde von den Toten auferstehen.

Und er wusste auch, dass die Wahrheit kaum seine stärkste Triebkraft war, um herauszufinden, was damals vor zwanzig Jahren passiert ist oder eben nicht. Das, was ihn antrieb, war viel simpler. Er wollte wissen, wer Lasse wirklich gewesen war, wollte versuchen, ihn noch einmal zu sehen. Das Bild von ihm war schwer greifbar und widersprüchlich geworden. Wie in einem Spiegel im Tollhaus: Er zeigte jemand anderen, niemanden, den man wiedererkannte.

In Fredrik Edlings Stimme hörte er Verwunderung, gemischt mit einer guten Portion Misstrauen, als er sein Anliegen erklärte.

»Sie haben meinen Namen also von Gun Lindståhl, sagen Sie?«

»Ja«, bestätigte Nielsen. »Sie dachte, dass Sie mir helfen könnten.«

Edling brummte.

»Es wäre schon nett gewesen, wenn sie zuerst mit mir darüber gesprochen hätte«, sagte er, »bevor sie meine Dienste großzügig verspricht.«

»Ich wollte nur fragen, ob Sie etwas über diese Geschichte wissen«, sagte Nielsen. »Angeblich haben Sie Lasse ziemlich gut gekannt.«

Es wurde still in der Leitung.

»Können wir uns treffen?«, fuhr Nielsen fort. »Dann könnten Sie sich das Foto ansehen . . .«

Aber Edling unterbrach ihn unwirsch.

»Ich brauche es nicht zu sehen. Ich weiß, worum es geht. Ich weiß nur nicht, ob ich mit Ihnen darüber reden will.«

Er schwieg wieder einen Moment.

»Eriksson«, sagte er schließlich, »Christine. So hieß sie, wurde Chris genannt oder Chrissy.«

»Und was war passiert?«, fragte Nielsen, als Edling keinerlei Anstalten machte fortzufahren.

»Nichts. Das kam schließlich heraus. Hat Gun das nicht gesagt?«

»Das ist Quatsch, und das wissen Sie«, sagte Nielsen.

Es dauerte etwas, bis Edlings Stimme wieder zu hören war.

»Ich will eigentlich nicht mehr darüber reden. Was wollen Sie überhaupt? Mist über jemanden ausgraben, der sich nicht mehr wehren kann?«

»Ich will in Erfahrung bringen, was passiert ist«, sagte Nielsen knapp.

»Da gibt es nichts in Erfahrung zu bringen. Schließlich ist nie etwas passiert. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Nielsen schwieg einen Augenblick.

»Was ist aus ihr geworden? Wissen Sie das?«, fragte er.

»Sie sind doch der Journalist, nicht ich. Wenn Sie mit ihr reden wollen, müssen Sie wohl anfangen zu arbeiten.

Und ich habe wirklich anderes zu tun, als hier zu sitzen und mit Ihnen zu sprechen . . .«

»Das scheint ein ziemlich empfindliches Thema zu sein?«, unterbrach Nielsen und versuchte, ihn noch etwas am Apparat zu halten. »Hatten Sie vielleicht selbst etwas damit zu tun?«

Er hörte, wie Edling nach Luft schnappte.

»Das ist nicht empfindlicher als irgendwas anderes. Ich finde bloß, dass ich keinen guten Grund habe, mich mit Ihnen hinzusetzen und darüber zu quatschen. Wir kennen uns nicht, und ich weiß nicht, was Sie wollen.«

»Sie ist danach also verschwunden?«, beharrte Nielsen.

Edling lachte auf.

»Ja, aber es hat sie jedenfalls niemand irgendwo vergraben. Das wollten Sie doch andeuten, nehme ich an? Aber vor ein paar Jahren lebte die fragliche Dame noch. So viel weiß ich.«

Er war wieder einen Augenblick lang still, bevor er fortfuhr: »Der Prozess gegen Bjarne Sohlberg, falls Sie sich daran erinnern, Mitte der Neunziger. Da ist sie aufgetaucht.«

»Bjarne Kingo-Sohlberg?«, sagte Nielsen. »Der König?«

»Genau der«, antwortete Edling. »Und mehr kann ich Ihnen wohl kaum helfen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Nielsen.

Aber Edling hatte bereits aufgelegt.

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