Читать книгу Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg - Страница 9

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Nielsen sah auf die Uhr. Vier. Die Schmerzen in der Hüfte und das linke Bein hinab weckten ihn immer früher. Eine Weile blieb er noch liegen, vor allem aus Sturheit, dann setzte er sich auf, verließ das Bett, drehte hüpfend ein paar Runden im Zimmer. Meistens half das für den Augenblick, die Schmerzen ließen nach, und er konnte noch eine Stunde schlafen. Aber dieses Mal nicht. Der Schmerz führte ein Eigenleben, kroch nach unten, sandte schreiende Signale von Nervenbahnen aus, die es nicht mehr gab.

Er setzte sich auf den Fußboden. Dehnte, massierte und begann, das Trainingsprogramm durchzugehen, das ihm sein letzter Krankengymnast zusammengestellt hatte. Das Programm war für ungefähr zwanzig Minuten gedacht, aber er hatte es bereits geschafft, die Zeit auf kaum mehr als fünf Minuten zu senken. Körperliches Training war nie eine seiner großen Leidenschaften gewesen. Er stand wieder auf, hüpfte in die Dusche. Stand eine Viertelstunde dort, bis er wieder ins Schlafzimmer ging, die Prothese nahm, sie befestigte und sich anzog. Die Zeitung war gekommen, er nahm sie und ging in die Küche. Er sah hinein, während der Kaffee kochte.

Draußen wurde es schon hell. Frostiges Weiß lag auf der Erde zwischen den fünfstöckigen Häusern, der Himmel darüber blassblau. Er hob den Blick zu einem Flugzeugrumpf, der dort oben aufblitzte. Wie immer vermittelte ihm der Anblick das Gefühl, dass er eigentlich irgendwohin unterwegs sein sollte, etwas tun sollte, ja, dass er etwas versäumt hatte . . .

Als das Telefon klingelte und die wohlbekannte Nummer auftauchte, reagierte er zuerst mit dem Rückenmark, wartete für einen Sekundenbruchteil darauf, Lasses Stimme zu hören, als er den Hörer abhob.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Gisela. »Wir müssen uns treffen.«

Es war bereits zehn Uhr, als er klingelte, ihm geöffnet wurde und er ihr in die Wohnung folgte. Die Luft darin war stickig. Ein unverkennbarer Geruch von altem Müll drang aus der Küche. Er blieb einen Augenblick stehen, dann ging er zur Terrassentür und machte sie auf. Er ging an Gisela vorbei in die Küche, zur Spüle und kümmerte sich um Berge ungespülten Geschirrs. Spülte es ab und stellte es in die Spülmaschine.

Gisela war ihm gefolgt und schaute ihn eine Weile an.

»Was machst du da eigentlich?«, sagte sie, ihre Stimme klang plötzlich wütend.

Er ordnete schweigend das Geschirr in die Maschine.

»Versuchst du irgendwie, tüchtig zu sein?«

Er wandte den Kopf, sah sie an.

»Das steht hier, seit Lasse gestorben ist, oder? Und du warst seit der Beerdigung auch nicht mehr vor der Tür, nehme ich an?«

Sie starrte ihn an, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Ich musste nachdenken, allein sein. Ich musste versuchen, das hier zu begreifen, was passiert ist. Ist das so seltsam?«

»Und du hast hier drin geschlafen?«, fuhr er fort und nickte in Richtung des Zimmers zwischen Wohnzimmer und Küche.

Durch die halb offene Tür sah er eine Matratze und verstreute Bettwäsche.

Gisela sagte nichts und nickte nur.

»Ja. Ich konnte einfach nicht da oben bleiben. Im Bett schlafen. Das ging einfach nicht . . .«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der oberen Etage, wo sich das Schlafzimmer befand.

»Ich konnte auch kaum hier unten bleiben«, fuhr sie fort. »Nicht in der Wohnung. Ich habe ihn die ganze Zeit gesehen. Dachte immer nur daran, wie er dort gelegen hat, als ich nach Hause kam. Und wie kalt er war . . .«

Sie schlang die Arme um den Brustkorb, atmete ein paar Mal tief ein.

»Ich habe eine Matratze runtergetragen. Habe mich da drinnen eingerichtet. Im Arbeitszimmer. Ich habe auch den Fernseher dahin geschleppt. Ich weiß nicht, wie lange ich darauf gestarrt habe. Das war wohl das Einzige, was ich gemacht habe. Ich habe kaum mit jemandem gesprochen. Bin nicht ans Telefon gegangen.«

Sie schwieg wieder.

»Hier sieht es schrecklich aus, ich weiß«, fuhr sie fort. »In der Küche. Ja, in der ganzen Wohnung.«

Nielsen stellte die letzten Teller hinein und richtete sich auf.

»Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«

Er blickte ins Leere, dachte daran, wie er nach einer unbestimmten Zeit aufgewacht und gezwungen war, sich durch Berge von Müll und Leergut zu kämpfen, die Spüle war unter all dem Geschirr gar nicht mehr zu sehen gewesen. Das lag zwar schon eine Weile zurück, aber er hatte es nicht vergessen.

»Hast du es deswegen Eva überlassen, sich um die Beerdigung zu kümmern? Weil du es nicht geschafft hast? Du hättest mich fragen können . . .«

Aber sie schüttelte den Kopf und unterbrach ihn.

»Es war nicht nur deswegen. Ich dachte auch an die Jungs. Dass es sich für sie sicher besser anfühlen würde, wenn Eva alles entschied.«

Sie machte ein paar Schritte zur Seite.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich komme schon klar. Am Montag gehe ich wieder zur Arbeit. Danach muss ich sehen, wie ich alles regeln werde. Ob ich überhaupt hier wohnen bleibe . . .«

Sie begann zu nuscheln.

»Aber ich habe dich nicht angerufen, weil ich Gesellschaft brauche oder Hilfe beim Spülen. Es gibt da ein paar Sachen, die ich dich fragen wollte.«

Einen Augenblick lang starrte sie vor sich.

»Erinnerst du dich daran, dass du gefragt hast, ob mir vorher irgendetwas an Lasse aufgefallen war? Und ich habe gesagt, dass er genau wie immer gewesen ist? Das stimmte nicht, selbst wenn er nicht direkt krank gewirkt hat. Aber er war auch nicht so wie sonst, seit einem Monat. Er stand irgendwie unter Druck. Er hat nie etwas davon erzählt. Aber ich habe es natürlich gespürt. Es war einfach so, dass irgendetwas nicht stimmte.«

Sie verzog das Gesicht.

»Und später . . . Ja, da habe ich mir Vorwürfe gemacht, habe mich schuldig gefühlt. Dachte, dass ich etwas hätte tun sollen, etwas hätte sagen sollen, ihn wenigstens dazu hätte bringen sollen, sich untersuchen zu lassen. Bin das so oft durchgegangen, bis ich fast verrückt geworden bin. Schließlich habe ich seinen direkten Vorgesetzten angerufen und ihn nach Lasse gefragt. Ja, ich wollte einfach, dass er mir sagt, dass er ihm nichts angemerkt hat, dass alles normal schien, dass er mich sozusagen freisprechen sollte . . .«

Sie holte tief Luft, sah Nielsen direkt an.

»Was er gesagt hat, war, dass Lasse die Wochen vor seinem Tod gar nicht richtig bei der Arbeit gewesen ist, nur sporadisch. Zuerst hatte er ein paar Tage frei genommen und Überstunden abgefeiert. Dann ist er nicht mehr zurückgekommen, hat gesagt, dass er noch eine Woche Ferien brauchte, für Familienangelegenheiten.«

Gisela verstummte.

»Ich wusste nicht, was ich sagen sollte oder tun. Ich habe angefangen, seine Sachen zu durchsuchen. Ja, ich habe mich wie eine hysterische, blöde Kuh gefühlt, aber ich musste etwas tun! Versuchen, eine Erklärung zu finden, sonst wäre ich wahnsinnig geworden. Ich habe seine Schubladen durchsucht, seine Kleider. Alles. Und dann habe ich sein Handy abgehört.«

Sie ging zum Küchentisch, holte das Handy, das dort lag, und gab es Nielsen.

»Hier. Hör dir die Nachrichten an.«

Er nahm es und blätterte bis zur Mailbox. Fünf Nachrichten, alle von derselben Person, einer Frau. Die ersten drei waren nur kurze Aufforderungen, sich zu melden, während die späteren eindringlicher waren. Die letzte klang wie ein Notruf. »Lasse, wir müssen reden! Jetzt sofort. Wo zum Teufel bist du?«

Er schaute auf die Zeit. Alle waren nach Lasses Tod eingegangen.

»Und das hier befand sich in der Innentasche seines Jacketts.«

Gisela hob ein Foto auf, das ebenfalls auf dem Küchentisch lag. Nielsen nahm es und betrachtete es. Darauf sah man Lasse und eine Frau, die sich umarmten. Aber ein junger Lasse Henning, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Frau war noch jünger, fast ein Teenager. Er drehte das Foto um, las den Text auf der Rückseite. »Für den süßesten Bullen der Welt! Von Chrissy.«

Gisela sah ihn forschend an.

»Du hast Lasse von allen am besten gekannt, glaube ich. Und ihr habt euch lange gekannt. Ich dachte, dass du wissen müsstest, wer sie ist.«

Nielsen sah sich das Foto noch eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich erkenne sie nicht wieder. Und es ist ein altes Bild. Es muss zwanzig Jahre her sein, als es gemacht wurde.«

Gisela schwieg, die Augen halb geschlossen.

»Gestern beim Mittagessen«, sagte sie schließlich, »da klingelte es an der Tür. Ich wollte zuerst nicht antworten. Aber dann habe ich es doch getan. Jemand fragte nach Lasse. Eine Frau . . .«

Sie schloss die Augen.

»Ich habe nur geschrien. Einfach so. Ich konnte nicht anders. Ich stand da und schrie wie eine Verrückte. Habe nicht geöffnet. Habe nicht nachgesehen, wer es war.«

Sie schwieg.

»Und du glaubst, es war dieselbe Frau?«, sagte Nielsen nach einer Weile. »Diejenige, die die Nachrichten hinterlassen hat? Und die auf dem Foto?«

»Ja, warum nicht? Oder sollte das alles nur ein Zufall sein, meinst du?«

Nielsen zuckte mit den Schultern.

»Es gibt wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung. Das ist meistens so.«

Gisela ging ans Fenster, blieb dort stehen und sah hinaus.

»Vielleicht kannst du hierfür auch eine ganz einfache Erklärung finden?«, sagte sie nachdem sie einen Augenblick lang geschwiegen hatte. »Nach dem Klingeln bin ich zu unserer Nachbarin von gegenüber gegangen. Eine alte Dame, fast achtzig. Sie achtet immer darauf, was im Haus passiert. Und sie steht wohl am Spion, sobald jemand das Haus betritt, nehme ich an. Ich wollte fragen, ob sie etwas weiß. Ob Lasse tagsüber hier Besuch gehabt hatte . . . was ich eigentlich wissen wollte, war natürlich, ob eine Frau hier gewesen ist . . .«

Sie seufzte.

»Aber der einzige Besucher, den sie gesehen hat, war ein Mann, hat sie gesagt. Und nur ein einziges Mal. Am selben Tag, an dem Lasse gestorben ist, am Nachmittag. Sie erinnerte sich deswegen so genau daran, weil ein paar Stunden später der Krankenwagen kam und so viel los war. Ein Mann, der geklingelt hat und eingelassen wurde, das hat sie gesehen. Sie hatte daran gedacht, es mir zu sagen, hatte aber Angst, dass ich glauben könnte, sie wolle sich einmischen.«

Sie schwieg wieder.

»Und du hast keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«, fragte Nielsen schließlich.

Gisela schüttelte den Kopf.

»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es der letzte Mensch sein muss, der Lasse lebend angetroffen hat.«

Nielsen runzelte die Stirn.

»Was willst du mir eigentlich sagen? Dass das alles etwas mit Lasses Tod zu tun hat?«

Gisela sah aus dem Fenster. Dann drehte sie sich um und schaute Nielsen an.

»Das habe ich gedacht, als ich das erfahren habe. Ist das so merkwürdig? Mit all dem, was sonst noch ans Licht gekommen ist. Dass Lasse sich frei genommen hat, ohne mir gegenüber ein Wort zu verlieren. Die Nachrichten auf dem Handy. Das Foto. Der Besuch . . . Ja, ich dachte, dass er eine Affäre hatte und dass es einen Ehemann oder einen Freund gibt, der davon erfahren hat und hergekommen ist . . . und dann . . . ja . . .«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung.

»Ja, ich weiß schon! Du brauchst nichts zu sagen. Ich habe den Obduktionsbericht gelesen. Und ich habe mit dem Arzt gesprochen. Ich weiß, dass es ein Herzinfarkt war. Aber nachdem ich nun von all den anderen Dingen weiß, wirkte alles irgendwie seltsam. Es gibt bestimmt eine Erklärung, wie du sagst. Ich . . . ich begreife einfach nichts mehr . . . weiß nicht mehr, was ich glauben soll . . .«

Nielsen nickte und betrachtete noch einmal das Foto.

»Kann ich das mitnehmen?«, fragte er schließlich.

»Nimm alles«, sagte Gisela und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Handys. »Ein paar Dinge liegen noch auf seinem Schreibtisch.«

Sie ging ins Arbeitszimmer und kam mit einem kleinen Taschenkalender und einem Notizblock zurück, gab Nielsen beides.

»Ich werde sehen, ob ich etwas herausfinden kann«, sagte er. »Wenn es das ist, was du willst?«

Sie wandte sich von ihm ab und starrte aus dem Fenster.

»Ich weiß nicht mehr, was ich will.«

Dann holte sie tief Luft und nickte.

»Ja, mach das«, sagte sie. »Vielleicht ist das gut. Zumindest um zu erfahren, was er vorhatte, warum er nicht zur Arbeit gegangen ist. Damit ich das loslassen kann.«

Vom selben Blut - Schweden-Krimi

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