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Der wütende Mob
ОглавлениеGegen Ende Mai wartete unsere Einrichtung auf Anweisungen des liberianischen Gesundheitsministeriums bezüglich unserer Quarantänestation, die wir wieder auflösen wollten. Zweiundvierzig Tage, also zwei ganze Inkubationszeiten, waren vergangen, seit der letzte Ebola-Fall im Land gemeldet worden war.
Unser Plan war gewesen, die Isolierstation nur für die Unterbringung von Patienten zu nutzen, nicht für deren Behandlung. Wenn bei einem Patienten Ebola diagnostiziert würde, wollten wir ihn ins John F. Kennedy Medical Center (JFK) verlegen, das große staatliche Krankenhaus in Monrovia.
Aber als Dr. Brown das Gesundheitsministerium fragte, ob wir unsere Isolierstation wieder auflösen könnten, wussten wir nicht, dass die Quarantänestation im JFK bereits aufgelöst und die kmplette Ausrüstung eingelagert worden war. Man sagte Jerry, dass die Person, die über unsere Station entscheiden würde, nicht im Lande sei und wir einstweilen alles so lassen sollten, wie es war.
Am Samstag, den 31. Mai, kam spätabends ein sehr kranker Patient in unsere Notaufnahme. Ich stellte die Diagnose einer akuten Pyelonephritis mit Sepsis – einer schweren Niereninfektion mit Eiter in der Niere. Wir begannen, den Mann mit viel Flüssigkeit und intravenös verabreichten Antibiotika zu behandeln. Obwohl wir den Patienten mit ausreichend Flüssigkeit versorgten, produzierte er keinen Urin, sodass ich akutes Nierenversagen vermutete. Dies war schwierig zu behandeln, weil wir ihm wegen der Sepsis und seines niedrigen Blutdrucks weiter Flüssigkeit verabreichen mussten.
Manchmal ging ich nachts für ein paar Stunden nach Hause, um zu schlafen, wenn ich von Samstag bis Montag Wochenenddienst hatte. Aber mit diesem schwerkranken Mann in der Notaufnahme und anderen stationären Patienten, um die ich mich kümmern musste, blieb ich die ganze Nacht im Krankenhaus und überwachte ihren Zustand.
Während der Nacht entwickelte der Patient Zuckungen der Gesichtsmuskulatur. Ich überprüfte seine Kaliumwerte und stellte fest, dass sie gefährlich hoch waren. Wir verabreichten ihm Glukose und Insulin, denn dies war die einzige Methode, die uns zur Verfügung stand, um den Kaliumwert schnell zu senken. Die Zuckungen hielten an und verstärkten sich zu ruckartigen Bewegungen. Ich wies die Pflegekraft an, dem Mann Diazepam – Valium – zur Beruhigung zu geben, damit er weniger litt. Später bemerkte ich, dass er aus den Einstichwunden der Injektion blutete. Als das Zucken wieder begann, fing er auch an, im Mund, an der Zunge und am Zahnfleisch zu bluten. Es war offensichtlich, dass sein Zustand immer kritischer wurde und er sich dem Ende seines Lebens näherte. Wir konnten nicht mehr für den Mann tun – uns standen keine Kardioüberwachung, keine Dialyse, kein Beatmungsgerät und keine Vasopressoren wie Adrenalin zur Verfügung.
Am Sonntagmorgen kam eine Patientin zu uns, bei der ich Eklampsie, Baby in Steißlage und eine Fehllage der Plazenta diagnostizierte – drei Diagnosen, die jede für sich schon eine Herausforderung waren. Ich rief Dr. Debbie, unsere allgemeine Chirurgin, an und bat sie, mich bei einem Kaiserschnitt zu unterstützen, für den Fall, dass wir dabei eine Hysterektomie – eine Entfernung der Gebärmutter – vornehmen mussten. Während die Patientin vorbereitet wurde, saßen Dr. Debbie und ich im OP. Ich erzählte ihr von dem schwierigen Fall in der Notaufnahme, von der Möglichkeit, dass der Patient etwas anderes haben könnte, und davon, dass ich allmählich fürchtete, es handele sich um Ebola.
„Dann lass uns etwas unternehmen“, sagte sie.
Wir gingen zur Notaufnahme und erkannten, dass der Mann im Sterben lag. Wir konnten nichts tun, um sein Leben zu retten. Er lag in einem Bett in der Ecke neben dem Hinterausgang, und wir wiesen die Pflegekräfte an, um ihn herum die Vorhänge zu schließen und ihn nicht zu berühren, niemanden zu ihm zu lassen und zu verhindern, dass jemand die Hintertür benutzte.
Während der Operation an der schwangeren Frau – eine erfolgreiche Prozedur, die Mutter und Baby wohlbehalten überstanden – starb der Mann in der Notaufnahme.
In volle Schutzkleidung gehüllt, fuhren wir den Toten mitsamt seinem Bett zum Hinterausgang hinaus und über den Rasen zu einem Zelt, in dem wir Patienten unterbrachten, bei denen der Verdacht auf Ebola bestand.
Wir ordneten an, dass die Notaufnahme mit der Lösung aus Bleiche und Wasser desinfiziert wurde, während wir den Leichnam des Mannes in mehrere Plastikplanen wickelten und jede Lage sowie sein Bett mit der Flüssigkeit einsprühten. Dann meldeten wir dem Gesundheitsministerium, wir hätten einen verdächtigen Todesfall, möglicherweise durch Ebola, damit sie eine postmortale Blutprobe entnehmen konnten.
Es dauerte mehr als vierundzwanzig Stunden, bis das Gesundheitsministerium jemanden schickte, der die Blutprobe entnahm, und ein weiterer Tag würde verstreichen, bis wir das Ergebnis erfahren sollten.
Die Familie des Mannes war zunächst kooperativ. Aber am Dienstagnachmittag – als verlautbar wurde, dass sich der Leichnam noch immer in unserem Krankenhaus befand – versammelte sich eine Menschenmenge vor der Mauer des Geländes. Die Menschen wurden von Minute zu Minute unruhiger und wütender, und verlangten die Herausgabe der Leiche, damit der Tote einbalsamiert und begraben werden konnte, so wie es ihrer Tradition entsprach. Dr. John Fankhauser rief mich zu Hause an, um mir mitzuteilen, er würde der Familie den Leichnam übergeben.
John und ich sind gute Freunde, wir arbeiten hervorragend zusammen. Aber wie es bei Ärzten so ist, sind auch wir nicht immer einer Meinung, und wenn wir es nicht sind, sagen wir das dem anderen und diskutieren auf professionelle Weise über unsere unterschiedlichen Auffassungen. Letzten Endes respektieren wir die Entscheidung dessen, der entscheidungsbefugt ist, und halten uns daran. Auch wenn wir nicht einverstanden sind, ist es dann unsere Entscheidung.
Ich war dagegen, dass John den Leichnam freigab, ohne dass wir die Ergebnisse des Ebola-Tests kannten. Also ging ich zum Krankenhaus.
Als ich die aufgebrachte Menge sah, trat ich durch den Hintereingang ins Zelt, in dem John in seiner Schutzmontur den Leichnam für die Familie vorbereitete. Er hatte ihnen gesagt, wenn sie einen Sarg brächten, würde er den Leichnam in den Sarg legen lassen und ihn diesen geben.
„Mir ist bei dieser Entscheidung nicht wohl“, erklärte ich John. „Warum machen wir das?“
„Weil sie drohen, uns zu töten“, entgegnete er. „Sie drohen, dass sie das Krankenhaus anzünden und uns alle umbringen, und das ist es nicht wert.“
Vier oder fünf von uns zogen Schutzanzüge an, um John dabei zu helfen, die Leiche in den Sarg zu legen. Ein Beamter vom Gesundheitsministerium erschien und sagte, er wolle mit der Familie sprechen. Der Patient hatte Lassa-Fieber gehabt, das in Westafrika gehäuft auftritt und sich meist durch Rattenkot und -urin ausbreitet. Es gibt im Jahr zwischen 300000 und 500000 Fälle. Die meisten Patienten mit Lassa-Fieber haben entweder gar keine Symptome oder nur schwache und werden ohne ärztliche Hilfe wieder gesund. Aber 10 bis 20 Prozent der Betroffenen müssen stationär behandelt werden, und bei ihnen liegt die Sterblichkeitsrate bei 50 Prozent.
Nachdem die Familie mit dem Beamten gesprochen hatte, zogen wir die Plastikplanen so weit zurück, dass zwei Angehörige das Gesicht des Verstorbenen sehen und ihn identifizieren konnten. Dann legten wir den Leichnam in den Sarg, besprühten alles mit Bleiche und schlossen den Sarg. Auch wenn der Patient nicht an Ebola erkrankt war, waren diese Vorkehrungen nötig, denn in schweren Fällen von Lassa-Fieber kann es eine Übertragung von Mensch zu Mensch geben.
Die Angehörigen gingen hinaus zu den wartenden Menschen, und als sie ohne den Leichnam erschienen, drehte die Menge durch. Ich hörte, wie etwas mit einem lauten Knall auf das große metallene Tor traf. Dann flogen die ersten Steine über die Mauer. Die Leute bewarfen das Krankenhaus mit Geröll und Felsbrocken! Wir standen etwa zwanzig, dreißig Meter von der Mauer entfernt, sodass wir nicht in Gefahr waren, aber die Steine landeten in Pfützen zu unseren Füßen, bis wir uns weiter zurückzogen.
Einer der Hausmeister des Krankenhauses, der ebenfalls in Schutzkleidung gehüllt war, stand bei uns. „Prince“, fragte ich ihn, „hast du so etwas schon mal gesehen?“
„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Prince, während er an sich heruntersah. „Bevor wir bei Dr. Debbie Unterricht hatten, wusste ich nicht einmal, dass es solche Schutzkleidung gibt.“
„Das meine ich nicht“, sagte ich kopfschüttelnd. „Ich rede von der wütenden Menge, die unser Krankenhaus mit Steinen bewirft.“
„Oh ja“, antwortete Prince lachend. „Das sehe ich ständig.“
Die Polizei wurde gerufen und die Menschenmenge verlief sich schnell. Dann schickte das Gesundheitsministerium einen Lieferwagen, lud den Sarg auf und brachte ihn dorthin, wo die Familie ihn begraben wollte.
Auch wenn der Patient kein Ebola gehabt hatte, war dieser Fall für uns ein Warnschuss gewesen … und er erwies sich als Beginn unseres Ebola-Schreckens.
Eine Woche später erschienen Felicia und ihr Onkel in unserem Krankenhaus.