Читать книгу Ruthchen schläft - Kerstin Campbell - Страница 3

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Wie immer, wenn Georg bei Frau Lemke klingelte, dauerte es eine Weile, bis sie den langen Flur heruntergegangen war und die Tür öffnete. Zwischendurch blieb sie an der Garderobe stehen, um ihre Frisur zu überprüfen, das wusste er. Meist nahm sie das Haarspray aus der barocken Kommode und sprühte kurz nach. Auch jetzt roch er es, als sie ihm die Tür öffnete, und er sah gleich, dass etwas nicht stimmte. Frau Lemkes Bluse war falsch geknöpft, zum ersten Mal, seit er sie kannte, war sie nicht tadellos gekleidet.

»Da bist du ja. Was hast du mitgebracht?«

Ihre Stimme klang brüchig, ihr Lächeln eine Bewegung des Mundes, die sich nicht in ihren Augen widerspiegelte.

Er hielt seinen Rucksack hoch: »Huhn in Aspik, Kaninchen in Gelee, Schlemmerfilet, zehn verschiedene Dosen, für Ruthchen nur das Beste.«

Jede Diele knarzte auf ihre Weise, als sie in kleinen Schritten darüberliefen, Georg darum bemüht, Frau Lemke nicht zu überholen. Die vielen Türen, die vom Flur abgingen, waren verschlossen, für ihn seit jeher ein Rätsel, was sich dahinter verbarg. Er kannte nur die Küche und die gute Stube, in der Frau Lemkes Mann bis zu seinem Ableben Zeitung lesend und schweigend in einem Ohrensessel gesessen hatte. Manchmal erhaschte Georg einen Blick in das Schlafzimmer, wenn Frau Lemke etwas herausholte. Als er die Küche betrat, sah er die Katze zusammengerollt auf dem Sofa schlafen, wie immer.

»Ruthchen, wach auf, Georg hat dir etwas Feines mitgebracht.«

Georg ließ Frau Lemke die Dose öffnen, er ekelte sich vor Katzenfutter und wollte es nicht berühren. Mehrmals rutschte Frau Lemke mit dem Daumen von der Lasche ab, bevor es ihr gelang, den Deckel abzuziehen, und der Verwesungsgeruch, so bezeichnete es Georg, sich verbreitete. Er zog sein T-Shirt über die Nase. Frau Lemke löffelte den Inhalt in eine kleine Schüssel und hielt sie Ruthchen vor die Schnauze.

»Schau, Georg hat dir Huhn mitgebracht«, sagte Frau Lemke. »In Aspik.«

Ruthchen schaute nicht auf, bewegte sich nicht. Eine Fliege surrte vor Georgs Augen, er schlug nach ihr.

»Sie ist so schwierig geworden mit dem Essen«, sagte Frau Lemke. Die Katze reagierte nicht. Auch nicht, als Frau Lemke ihren Kopf streichelte.

»Sie muss sich mal richtig ausschlafen, dann geht es schon wieder.« Frau Lemke stellte die Schüssel neben Ruthchen auf das Sofa.

Die Fliege landete auf Georgs Hand, ihre Beinchen kitzelten auf seiner Haut. Als er die Fliege vertrieb, drehte sie zwei Kreise unter der Lampe, flog weiter und landete auf der Spitze von Ruthchens Ohr.

Kein Zucken, keine Bewegung.

Georg schaute Frau Lemke an, die seinem Blick auswich. Sie drehte sich weg, sank in sich zusammen, wischte mit dem Geschirrtuch über das glänzende Spülbecken. Der Kuchen stand unter einer Tortenhaube auf dem Tisch, alles war wie gestern, und doch hatte der Tag seine Unschuld verloren. Ruthchen hatte ihr Versprechen nicht gehalten, nichts würde so sein, wie es war. Er atmete mit einem tiefen Seufzer aus, sagte: »Ach, Ruthchen, was machst du nur.«

Er setzte sich zu der Katze. Drei Mal musste er Anlauf nehmen, während Frau Lemke immerzu wischte, erst dann konnte Georg sich überwinden, Ruthchen mit den Fingerkuppen zwischen den Ohren zu berühren. Er streichelte ihren Kopf, über die Ohren, die ganz kalt waren. Die Katze bewegte sich nicht. Ihr Körper war hart. Der Tod hatte sich Ruthchen im Schlaf geschnappt, als er und Frau Lemke dachten, dass sie noch Zeit hätten, und Georg hoffte, dass New York bis in alle Ewigkeiten aufgeschoben wurde.

Frau Lemke drehte sich zu ihm um, sie sah aus, als wäre sie in eine Sturmböe geraten. Das Make-up um die Augen verschmiert, die Haare zerzaust, und auf einmal sah sie aus wie 84 Jahre, während er davor immer zu ihr gesagt hatte: »Frau Lemke, Sie sind ein Jungbrunnen.« Worauf sie gelacht hatte.

Mit Blicken verständigten sie sich darüber, was jetzt geschehen würde. Dass sie Ruthchen beerdigen, Frau Lemkes Wohnung, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, ausräumen und in Kisten packen würden. Dass Frau Lemke nach New York fliegen und in der Stadt, in einem Land, dessen Sprache sie kaum sprach, mit ihrem Sohn und ihren Enkelkindern, die ihr fremd waren, die letzten Jahre ihres Lebens verbringen würde. In diesem Moment dachte Georg: So nicht, so haben wir nicht gewettet. Und da sie beide den Tod nicht thematisiert hatten, war er auch nicht da, und deshalb sagte er:

»Ich glaube, Ruthchen muss zum Arzt.«

Sie fuhr sich durch die Haare. Der Versuch, ihre Frisur zu ordnen, brachte sie noch mehr durcheinander.

»Ja«, sagte Frau Lemke. »Ein paar Tabletten, und dann hat sie wieder Appetit.«

»Haben Sie eine Decke, in die ich Ruthchen einwickeln kann?«

Frau Lemke verschwand ins Nebenzimmer, er kniete sich vor die Katze, hoffte, dass sie spontan die Augen öffnen würde, aber Ruthchen rührte sich nicht.

»Hier ist ihre Schlafdecke«, sagte Frau Lemke, als sie zurückkam. Ihre Augen waren wässrig.

»Perfekt«, sagte er. »Darin wickeln wir sie ein. Dann geht es ihr gut.«

»Ja, dann geht es ihr gut.«

Beide beugten sich über die Katze, Frau Lemkes Atem an seinem Ohr. Er musste sich zusammenreißen und die Katze so anheben, als wäre sie noch am Leben. Überhaupt, er musste sie berühren. Er hielt die Luft an und schob seine Hände unter Ruthchen, ihr Fell fühlte sich immer noch weich an. Er kämpfte gegen den Drang, seine Hände zurückzuziehen. Obwohl sie noch aussah wie Ruthchen, schien sie ihre wesentlichen Züge verloren zu haben, es war etwas Hartes, Grausames an ihr. Es musste schnell gehen, seine Bewegungen sicher sein. Er hob die Katze an und wickelte sie in die Decke, sodass der Kopf herausschaute. Er schluckte, versuchte, die Übelkeit, die in ihm aufstieg, zu ignorieren. Frau Lemke streichelte über die Decke.

»Ruthchen, meine Gute«, sagte sie. »Sie kommt doch gesund wieder, richtig?«

»Absolut, unser Ruthchen, na klar.«

Er drehte sich um, jetzt ging es nur noch darum, schnell hinauszukommen, sie nicht mehr anzuschauen, weder die Katze noch Frau Lemke. Langsam ging er über den Flur, damit sie ihm folgen konnte, hielt die eingewickelte Katze von sich weg wie ein Tablett. Redete vor sich hin, dass sie nur die richtige Medizin brauche und bald wieder Appetit habe.

An der Tür sagte Frau Lemke: »Mach es gut, meine Liebe.«

Georg sah die Fliege nicht, hörte aber, wie sie ihm in den Hausflur und die Treppe hinauf folgte.

Ruthchen schläft

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