Читать книгу Ruthchen schläft - Kerstin Campbell - Страница 4

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Er legte Ruthchen direkt neben der Tür auf den Holzboden, das heißt, er warf sie mehr, als dass er sie legte, rannte ins Badezimmer und wusch sich die Hände, insgesamt drei Mal, mit Seife. Danach setzte er sich Ruthchen gegenüber auf den Boden, beobachtete sie. Er roch an ihr, ohne sie zu berühren, fragte sich, wann die Verwesung einsetzte, verfluchte sich und die Katze. Wenn sie einfach immer so weiterschlafen würde, dachte er.

Neben ihm lagen Lindas Sandalen, an der Garderobe hing ihre schwarze Lederjacke. Er hatte alles so gelassen, wollte den Moment einfrieren, als sie gegangen war, damit sie genau dort weitermachen konnten, wenn Linda zurückkehrte. An den Wänden im Flur ihre Selbstportäts, Lindas Gesicht überdimensional groß in verschiedenen emotionalen Zuständen. Über Ruthchen das Bild, das Linda nach der ersten Fehlgeburt von sich gemalt hatte. Linda wüsste jetzt, was zu tun wäre, dachte er. Sie hatte immer eine Idee, wenn auch oft nicht die Lösung. Er legte eine Hand auf seinen Magen, als könnte er ihn beruhigen, stieß auf. Am Ende hatte Linda nur noch sich selbst gemalt, ihr Gesicht in dunklen Ölfarben, ihren Schmerz vergrößert in den langen Flur gehängt.

Eine Nachricht von Kai. Er schlug vor, dass sie sich am Abend in der Bar neben dem Haus trafen, in dem Kai wohnte. Georg drückte das Anrufzeichen, er musste mit jemandem reden. Kai war einer der Letzten, der sich trotz Familie mit ihm traf, der noch Interesse an ihm hatte, obwohl sein Leben keine Aneinanderreihung von Anekdoten aus der Medienwelt mehr war. Georg beschäftigten jetzt Hausgeldabrechnungen, die Wasserleitungen, die dringend saniert werden mussten, die Erziehung seiner Mieter zur ordentlichen Mülltrennung und zu einem pfleglichen Umgang mit seinem Haus. Damit konnte er bei keinem Kneipengespräch punkten.

Kai und er hatten früher zusammen Konzertberichte im Radio gemacht, standen auf den Gästelisten sämtlicher Partys der Stadt. Als die neue Generation nachrückte und auf den Sitzungen überwiegend besprochen wurde, warum ein Interview zwanzig Sekunden zu lang war und deshalb der Jingle nicht rechtzeitig abgefahren werden konnte, ihre Konzertkritiken von drei Minuten auf dreißig Sekunden eingestampft worden waren, hatte sich Kai in eine dieser Agenturen an der Spree verzogen, wo er als Creative Director arbeitete, was auch immer das sein sollte. Georg mochte die Atmosphäre in den Agenturen nicht, er wollte auch keine Bücher schreiben, wie andere in seinem Metier. Er fand, er hatte genug Buchstaben in den Bildschirm getippt. Also blieb er beim Radio, und man hatte ihn, weil er zu lange dabei war, um ihn loszuwerden, in die Online-Abteilung abgeschoben, wo er die Internetseite des Senders verwaltete, Beiträge und Interviews zusammenfasste und einstellte. Er musste weiter zu den Sitzungen gehen, die ihn langweilten, um auf dem Laufenden zu bleiben, oder auch, um zu zeigen, dass er noch nicht an seinem Schreibtisch mumifiziert war. Die graue Eminenz in bunten Turnschuhen, damit hatte er sich abgefunden, obwohl seine Haare nur an den Schläfen ergraut waren.

Doch nachdem Linda gegangen war, war nichts mehr okay. Sein beschauliches Leben war sinnlos geworden, er konnte das Büro, die Sitzungen mit den ewigen Selbstdarstellern nicht mehr ertragen. Die Manie, das eben Gesagte erneut in eigenen Worten darbieten zu müssen. Die sich wiederholenden Themen, wie jedes Jahr bei den ersten Minusgraden vorgeschlagen wurde, man müsste mal etwas über obdachlose Jugendliche machen, und die Idee jährlich wie eine gänzlich neue gefeiert wurde. Im Frühjahr ging es um Tipps, wie man den Winterspeck loswurde, aber mit einem völlig neuen Ansatz, wie es hieß. Und im Sommer gab es den großen Check, welches Schwimmbad das beste der Stadt war. Während der Sitzungen verließ Georg immer mindestens ein Mal den Raum, ließ sich kaltes Wasser über die Arme laufen, schaute aus dem Fenster. Wenn er zurückkam, verhandelten seine Kollegen meist noch dasselbe Thema, nur dass andere Bedenken oder, schlimmer, neue Ideen eingeworfen worden waren.

Er wollte nicht mehr über das Internet reden, das man irgendwie in das Radio integrieren müsste, über breaking points und Höreraktionen. Kleine, unsinnige Geschichten, die keinen berührten und keinen interessierten.

Als einer der langjährigen Mieter seines Hauses, Herr Schmitt, in ein Pflegeheim umziehen musste und Georg die Fünf-Zimmer-Wohnung teuer an eine junge Familie vermieten konnte, hatte er eines Tages nicht seine Arme, sondern seinen Kopf unter Wasser gehalten. Er konnte es schaffen, hatte er unter dem kalten Strahl gedacht. Wenn er sich nur etwas einschränkte, käme er finanziell über die Runden. Mit nassen Haaren war er in die Sitzung zurückgekehrt und hatte gesagt, dass er jetzt gehen würde. Und nicht wiederkomme. Das Radikalste und im Nachhinein das Beste, was er jemals getan hatte. Er wusste noch, wie er auf dem Weg nach Hause in einem Imbiss eine Pizza gegessen hatte und wie außergewöhnlich es ihm vorgekommen war, um diese Zeit in der Stadt unterwegs zu sein, während die Kinder in den Schulen und die Erwachsenen in den Büros weggesperrt waren. Er hatte gesehen, wie der Pizzabäcker einer alten Frau mit Rollator die Tür geöffnet hatte, wie sie sich unterhielten, und Georg hatte den Eindruck, dass die Frau jeden Tag zum Mittagessen vorbeikam. Da hatte er gewusst, dass er mehr Menschlichkeit brauchte in seinem Leben. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er, während er seine Pizza kaute, das Gefühl, am Leben teilzunehmen.

Er war sich sicher, dass der Sender froh war, den komischen Online-Typen los zu sein. Jetzt war er ein Typ mit einem Katzenproblem.

»Was geht«, sagte Kai.

»Es ist schwer zu erklären. Ich habe hier eine tote Katze, die nicht tot sein sollte, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Okay«, sagte Kai nach einer kurzen Pause. »Lass sie einäschern.«

»Nein, sie soll nicht weg.«

»Gut.« Georg spürte, dass Kai nach einer Lösung suchte, wie für einen seiner Kunden, immer kreativ um die Ecke gedacht.

»Sie soll einfach nur weiter hier sein, schlafen, irgendwas, aber sie muss zurück auf Frau Lemkes Sofa.«

»Alles klar bei dir, Georg?«

»Nein.«

»Ich muss zurück in mein Meeting, lass uns das heute Abend besprechen, ja?« Georg hörte Kai durch den Hörer lachen. »Lass sie doch ausstopfen«, sagte er noch, bevor er auflegte.

Georg kratzte sich am Kopf. Das konnte die Lösung sein. Ruthchen würde weiter auf dem Sofa schlafen, Frau Lemke würde nicht nach New York ziehen. Sie würden Zeit gewinnen, und er konnte herausfinden, was Wolfgang im Schilde führte.

Georg googelte und telefonierte, und nach einer halben Stunde hatte er jemanden gefunden, der versprach, ihm zu helfen, und bei dem er sofort vorbeikommen konnte. Ein Herr Schürmann. Er packte Ruthchen in eine Tüte und verließ die Wohnung, schaute nicht noch einmal zu Linda auf. Er wollte nicht wissen, was sie über die Sache dachte.

Ruthchen schläft

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