Читать книгу Ruthchen schläft - Kerstin Campbell - Страница 6

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Kai saß schon am Tresen, als Georg die Kneipe be- trat. Georg rief ihm zu, dass er ihm ein Bier bestellen solle, und lief direkt zur Toilette, wo er sich mit der pinkfarbenen Seife aus dem Spender die Hände wusch. Drei Mal, seine magische Sauberkeitszahl. Erst dann verschwand das Gefühl, der Tod hätte sich auf seine Hände gelegt und in den Poren festgekrallt. Die Seife roch zu süß, zu chemisch, deshalb ließ er lange das Wasser über seine Hände laufen. Das Kribbeln, das er während der Fahrradfahrt gespürt hatte, ließ nach. Er dachte erst, es käme vom Kopfsteinpflaster, aber die wahre Ursache war, dass er sich nicht die Hände gewaschen hatte, nachdem er Ruthchen auf der Metallplatte abgelegt und Herrn Schürmanns Hand geschüttelt hatte. Eine Hand, die zuvor Dinge berührt hatte, die Georg sich nicht vorstellen mochte. Während der Fahrt hatte er den Tod aus seinen Lungen vertrieben, die fruchtig süßen Düfte der Shisha-Bars, die orientalischen Gewürze der Imbisse auf der Straße tief eingeatmet. Kai wohnte im angesagtesten Viertel der Stadt, während Georg noch immer dort lebte, wo nur wenige Trends ankamen. In dem Haus, das seinem Opa gehört hatte, zu dem er mit sechzehn Jahren gezogen war.

»Alles Gute, mein Lieber! Du bist ja ziemlich durch den Wind«, sagte Kai.

Georg trank in einem Zug die Hälfte seines Bieres aus.

»Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, meinen Geburtstag positiv anzugehen.«

Georg brannte darauf, Kai zu erzählen, dass er herausfinden musste, was Wolfgang vorhatte, warum er sich auf einmal für seine Mutter interessierte. Dass Georg Frau Lemkes Umzug nach New York verhindern musste. Seine merkwürdige Begegnung mit dem Tierpräparator und vor allem mit dessen Tochter, die Linda so ähnelte. Aber dann bemerkte er Kais dunkle Augenringe, sein fahles Gesicht, in dem alle Linien nach unten zogen.

»Was ist mit dir los?«

Kai kleidete sich immer noch wie in seinen Zwanzigern, mit langen, zurückgegelten Haaren und schwarzem Jeanshemd. Mit einer Kette an der Gürtelschlaufe, die zu seinem Portemonnaie in der Hosentasche führte.

»Kein Sex, schlaflose Nächte und eine Freundin, die sich für das Kind aufopfert, als gäbe es den Titel ›Mutter des Jahrhunderts‹ zu gewinnen.«

Kais Handy vibrierte, er schaute darauf und verzog das Gesicht.

»Lea ist sauer, dass ich noch mal raus bin. Aber wenn ich noch nicht einmal einen Kumpel in der Kneipe treffen kann, um seinen Geburtstag nachzufeiern, das ist doch kacke.«

Seit Linda weg war, hatte Georg das Gefühl, in Sachen Beziehungen nicht mehr mitreden zu können, schon gar nicht, wenn es um Beziehungen mit Kindern ging. Georg roch an seinen Händen, der Seifengeruch klebte an ihnen.

»Ich beneide dich, ich beneide dich wirklich«, sagte Kai. »Du kannst machen, was du willst.«

Georg schaute sich um, die Bar war voller junger Leute, die Englisch oder Spanisch sprachen. Er hatte nicht das Gefühl, dass hier irgendetwas oder irgendjemand auf ihn wartete. Die Jahre waren an ihm vorbeigezogen, seine Generation hatte ihren Platz gefunden in ihren Familien oder Karrieren, nur er hatte die Abzweigung verpasst.

»Linda hat mir nicht zum Geburtstag gratuliert«, sagte Georg.

Kai zog die Luft zwischen den Zähnen ein, steckte sein Hemd in den Hosenbund, strich es glatt.

»Georg, du solltest loslassen. Warum schaust du nicht nach vorne, eine neue Liebe, eine neue Beziehung?«

Kai hatte Kontakt zu Linda, das wusste Georg. Und Kai konnte schlecht lügen.

»Du weißt was, oder?«

Auf den Tischen wurden Aschenbecher verteilt, Kai zündete sich eine Zigarette an, wedelte den Rauch weg: »Das gibt wieder Ärger, Lea kann es nicht ausstehen, wenn ich nach Hause komme und nach Rauch rieche. Sie sagt, das verpestet die ganze Wohnung.«

Georg überlegte, ob er mitrauchen sollte, wusste aber, dass er davon am nächsten Tag Kopfschmerzen bekam. Kai lenkte vom Thema ab, das kannte Georg.

»Es ist so anstrengend zwischen uns. Lea ist so anders, seitdem das Kind da ist. Ich dachte immer, sie wäre die coolste Frau der Welt, und jetzt ist sie nur noch«, er machte eine Pause, schien nach der richtigen Formulierung zu suchen, »kleinlich, sie ist kleinlich.«

Kais Handy vibrierte, er schaute darauf, rollte die Augen.

»Super, ich habe die falschen Windeln gekauft, falsche Größe. Ich habe einfach nicht so ein Gehirn wie sie, ich kann mir all diese Dinge nicht merken.«

»Und mit Listen?«, fragte Georg. Lindas Schweigen klang laut und bedeutungsvoll in seinen Ohren.

»Die Jacke muss so geknöpft, der Schal so gebunden werden. Außerdem ist unsere Wohnung zu klein, und jetzt haben wir auch noch eine Mieterhöhung bekommen, 100 Euro mehr im Monat. Wir finden nichts Größeres, und gleichzeitig können wir nicht so eng wohnen. Weißt du, wie lange ich schon meine Gitarre nicht mehr angefasst habe? Ich habe sie weggepackt, damit Hannah-Luna sie nicht kaputt macht. Ich bräuchte ein eigenes Zimmer.«

»Bei mir ist nichts frei«, sagte Georg. Die Antwort war über die Jahre zum Reflex geworden.

»Und dann will sie ein zweites Kind.« Kai schüttelte den Kopf, Verbitterung im Gesicht. »Ich kann das einfach nicht, das frisst mich auf. Ich bin E-Gitarre und nicht Benjamin Blümchen. Die Musik zu Hause macht mich krank.«

In diesem Moment schlang sich eine Frau von hinten um ihn. »Na, du hier?«

Kai richtete sich auf, drückte seine Brust durch. »Klar, mit einem Kumpel ein Bier trinken.« Er zeigte auf Georg. »Das ist mein alter Freund Georg. Und das ist Madeleine, Junior Creative Assistant, wir arbeiten gerade zusammen an einem Projekt.«

Georg beobachtete, wie Kai in die Rolle des aufgekratzten Creative Director schlüpfte und den gestressten Familienvater vergaß. Sie redeten über das Projekt, an dem sie gerade arbeiteten, und hatten ihre ganz eigene Sprache, sagten Sätze wie: »Wir brauchen Content«.

Georg betrachtete Madeleine von der Seite, ihre glatt geföhnten Haare, ihr akkurates Make-up, ein wenig zu tussig für seinen Geschmack. Sie lächelte ihm zu, als wolle sie ihn ins Gespräch einbeziehen. Seltsamerweise fanden Frauen ihn oft interessant, eine hatte einmal zu ihm gesagt, dass er so hilfsbedürftig wirke, was sie als Kompliment gemeint hatte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was daran attraktiv sein sollte.

»Dahinten sind meine Freunde, kommt doch mit«, sagte Madeleine.

Kai richtete sich auf und steckte wieder sein Hemd in die Hose, gab ihm ein Zeichen, dass sie mitgehen sollten.

»Wir kommen gleich nach«, sagte Georg.

Als Madeleine sich zu ihren Freunden gesetzt hatte, schaute Georg Kai fragend an.

»Das ist nicht einfach«, sagte Kai. »Aber ich bleibe treu, ich habe Familie.«

Kais Handy vibrierte, er schaltete es aus.

»Ich glaube, du weißt etwas von Linda«, sagte Georg. »Es wäre besser, wenn du es mir sagen würdest.«

Kai schwieg, nippte an seinem Bier.

»Mensch, Georg, du kannst ihr nicht ewig nachhängen.«

Linda hatte bestimmt jemand anderen, da war er sich sicher, deshalb meldete sie sich nicht. Das war okay für ihn, sie sollte ihre Erfahrung machen. Sie waren beide so jung gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Wenn sie zu ihm zurückkehrte, würde es ganz anders zwischen ihnen laufen, wenn sie nicht mehr so sehr unter dem Druck ständen, ein Kind zu bekommen, wenn sie sich nur noch aufeinander konzentrieren konnten. Wenn ihr Leben nicht mehr von Hormontabellen und fruchtbaren Tage bestimmt wurde.

»Bitte«, sagte Georg.

»Okay.« Kai schaute ihm direkt in die Augen »Sie ist schwanger. Sie bleibt in Australien. Es tut mir wirklich leid.«

Erst dachte Georg gar nichts. Es war dieser Augenblick, den sich das Gehirn nahm, um die Ungeheuerlichkeit nicht verarbeiten, nicht durchdenken zu müssen. Dann war da ein Schmerz, der sich auf seinen Brustkorb legte, dumpf. Dann war da Trotz. Er dachte, sie war zu alt. Mit Anfang vierzig wird man nicht einfach so schwanger, vor allem nicht, nachdem man es jahrelang versucht hat, mit allen Mitteln. Und zwei Fehlgeburten. Er erinnerte sich an die Phasen, in denen er sich darauf eingestellt hatte, dass er Vater werden würde, an die Trauer, die sie beide schweigend verarbeiteten, weil sie es körperlich und seelisch spürte, während bei ihm nur Leere war. Und beide dachten, der Schmerz säße bei einem selbst tiefer als bei dem anderen. Weil sie nicht zusammen leiden konnten.

»Sie ist schon ziemlich weit«, sagte Kai, als läse er seine Gedanken. »Das Kind hat gute Chancen zu überleben, selbst wenn es zu früh kommt.«

Georgs Hände rochen nach der pinkfarbenen Seife. Er ging auf die Toilette und hielt die Hände unter den Wasserstrahl, diesmal ohne die Seife zu benutzen, schrubbte bis zu den Handgelenken, um den Geruch loszuwerden. Als er zurückkam, saß Kai an Madeleines Tisch, und Georg setzte sich dazu. Er hörte, wie Kai von ihren großen Radiozeiten erzählte, wen sie alles getroffen, welche Konzerte sie besucht hatten, auf welchen verrückten Partys sie gewesen waren.

Madeleine lächelte ihn an.

»Geht es dir gut?«

Er nickte.

»War ein komischer Tag heute.«

Sie kommt zurück, dachte er, dann eben mit Kind, aber sie kommt zurück.

Ruthchen schläft

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