Читать книгу Ruthchen schläft - Kerstin Campbell - Страница 8

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Er spürte den Kuss noch auf seinen Lippen, als er vor Ruthchen saß. Hauchdünne Nadeln steckten in ihrem Gesicht, bestimmten die Form, die Illusion des Lebens. Obgleich er Ruthchen sofort erkannte, war irgendetwas anders. Nur eine Kleinigkeit, die nicht stimmte, ein einziger abweichender Ton, der die Harmonie zerstörte. Es roch scharf nach Desinfektionsmittel, und er bemühte sich, den Hauch von Verwesung, den er darin ausmachte, zu ignorieren. Die Tierpräparatorin saß neben ihm, das Gesicht nah an der Katze. Mit ihrer Brille und dem weißen Kittel wirkte sie wie eine Wissenschaftlerin oder eine Professorin. Caro Schürmann zog eine Nadel über dem rechten Auge heraus und steckte sie wenige Millimeter höher, eine andere platzierte sie etwas tiefer, sich immer mit einem Blick auf das vergrößerte Foto von Ruthchen, das sie an die Wand geheftet hatte, rückversichernd. Es lag ein System in ihrer Arbeit, das er nicht verstand.

Etwas im Magen zu haben war eine gute Idee gewesen, befand er, auch wenn er eine unterschwellige Übelkeit spürte. Er studierte ihre langen Finger, die feingliedrigen Hände, fast die einer Pianistin, jedoch zu kräftig, die Fingernägel kurz, mit diesen Händen wurde gearbeitet. Ihn erstaunte, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tote Tier anfasste, als wäre es Stoff, der auf einen Stuhl gespannt werden musste. Er suchte nach Blutspuren an ihren Fingern, unter ihren Nägeln, an den Rändern. Er sah etwas Schwarzes, konnte aber nicht ausmachen, ob es getrocknetes Blut war. Sie steckte zielgenau die Nadeln, fragte ihn dabei, ob er Ruthchen erkennen könne, ob sie so ausgesehen habe, und er sagte, fast, aber nicht ganz. Er konnte nicht ausmachen, was der Katze fehlte, um das schlafende Ruthchen zu sein. Welcher der Töne sich nicht in die Harmonie fügte. Er versuchte, die Bilder von Häutungen und Resttieren nicht zuzulassen, all die toten Dinge, die diese schönen Hände täglich berührten.

»Manchen schlägt der Geruch auf den Magen. Ist alles okay bei Ihnen?«

»Ja«, sagte er, »alles bestens.«

Ihm war kalt, und er bereute, seine Jacke im Flur ausgezogen zu haben. Er musste sich zusammenreißen und das hier durchziehen, befahl er sich.

»Etwas stimmt noch nicht, aber ich komme nicht dahinter, was es ist. Vielleicht können Sie mir ein bisschen von Ruthchen erzählen.«

»Sie kam mir immer entgegengelaufen, wenn ich Frau Lemke besucht habe.«

»Sie war also eine freundliche Katze.«

»Ja, sehr freundlich, keine Marotten. Ich habe sie immer als dankbar empfunden, das klingt albern, aber ich fand sie dankbar.«

Die Frau nickte, steckte Nadeln um.

»Ich habe sie damals mit meiner Freundin gefunden, ein verschmutztes Knäuel in einem Hauseingang.«

Er versuchte, die Katze mit ihren Augen zu sehen, nicht das für ihn widerliche Fell, sondern die Seele des Tieres, die es darin wiederzufinden galt.

»Sie sieht vielleicht zu angestrengt aus«, sagte er. »Sie war eine ruhige Natur. Für mich war sie wie ein kleiner Buddha, sie wusste genau, wenn jemand aus dem Gleichgewicht geraten war. Dann kam sie und legte sich auf den Schoß.«

»Aha.« Caro Schürmann schaute konzentriert, die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich. Sie schob die Zunge zwischen die Lippen und steckte die Nadeln um die Augenpartie etwas tiefer, was Ruthchen einen anderen, ruhigeren Ausdruck gab.

»Unglaublich«, sagte Georg.

Er meinte jetzt zu verstehen, worum es bei der Arbeit ging. Sie konnte Ruthchen zurückholen.

»Ruthchens Schnauze war runder, jetzt ist sie zu spitz«, sagte er.

»Das ist es, Sie haben recht. Manchmal sitze ich stundenlang davor und sehe es selbst nicht mehr, an den Seiten muss ich ein wenig aufpolstern.«

»Ich sehe sie jetzt«, sagte Georg. »Genau so schlief sie auf Frau Lemkes Sofa, das ist ihre Mimik und ihre Haltung.«

Caro Schürmann streichelte Ruthchens Rücken, als wolle sie die Katze loben. Georg spürte eine Zufriedenheit, wie er sie nicht kannte. So fühlte es sich also an, wenn man etwas Sinnvolles machte, etwas, das einen erfüllte, dachte er. In diesem Moment fiel sein Blick auf das Haar, das wie eine Markierung auf seinem Ärmel lag. Es kam ihm fehl am Platz vor, hier, an diesem Ort. Er sah, dass auch sie darauf schaute, auf das lange blonde Haar, das seinen Arm umfasste. Er schämte sich, bedeckte es mit seiner Hand, weil er es nicht wegnehmen und auf den Boden werfen wollte.

»Den Rest kann ich allein machen«, sagte sie. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Sie haben mir sehr geholfen.«

Es war an ihm, aufzustehen und zu gehen. Dabei wäre er am liebsten geblieben und hätte weiter mit ihr gearbeitet. Sein Knie knackte, als er sich erhob, der Kopf meldete sich mit einem leichten Stechen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.

»Wenn ich mich heute noch einmal intensiv daransetze … Morgen früh gegen 10 Uhr können Sie Ihre Katze abholen.«

Erst jetzt bemerkte er ihre geröteten Augen, als er sie zum ersten Mal richtig anschaute und nicht wie zuvor knapp an ihr vorbeiblickte, weil sie ihm unheimlich war.

»Danke, dass Sie sich so viel Mühe machen«, sagte er.

»Ich finde es schön, wie Sie sich um die alte Dame kümmern.«

Georg spürte eine Röte in sich aufsteigen, die bis zu den Außenrändern seiner Ohren ging und die er lange überwunden zu haben glaubte. Es half nicht, dass sie sich gegenüberstanden und er deutlich kleiner war als sie.

Er wusste nichts anderes zu tun, als seine Schuhspitzen zu betrachten.

Ruthchen schläft

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