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MITTWOCH, 17. SEPTEMBER 2025

Als Alexander an diesem Abend durch das Gartentörchen trat, sah er den Fremden, der vor seiner Haustür stand. Es war ein großer, schlanker, grau gekleideter Mann, dessen ebenfalls graue Haare glatt nach hinten gekämmt waren. Das war alles, was er vorerst von ihm zu Gesicht bekam, da er ihm gerade den Rücken zuwandte. Er redete auf Alina ein, die im Türrahmen lehnte und unablässig nickte. Als sie Alexander entdeckte, hellte sich ihre Miene auf, doch sie sagte nichts, und der Fremde schien noch nicht bemerkt zu haben, dass der Herr des Hauses das Grundstück betreten hatte.

Es machte nicht den Anschein, als wäre es diese eine, bestimmte Art von Herrenbesuch, an die er immer wieder unwillkürlich denken musste; meistens dann, wenn er sich auf der langen Autobahnstrecke zwischen Köln, wo sich seine Arbeitsstelle befand, und Niedertalbrück befand; wenn er auf die leuchtende, digitale Uhrzeit auf dem Armaturenbrett blickte und dachte, dass er heute mal wieder verdammt spät dran war, wie so oft in den letzten Wochen und Monaten, und dass Alina den ganzen Nachmittag alleine zuhause saß; sie nutzte diese ruhigen Stunden vermutlich, um an ihren Hausfrauenromanen zu arbeiten, aber dennoch …

Er arbeitete als Buchhalter bei der AMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, wo er seit seiner Ausbildung angestellt war und ein überdurchschnittliches Gehalt genoss. Dies stellte auch das einzige Argument dar, was ihn davon abhielt, zu einem der näher gelegenen Büros zu wechseln.

Vielleicht war es einer dieser Menschen, die seit einigen Tagen im Lande herumreisten, von Tür zu Tür gingen und Unterschriften für eine Petition sammelten. Diese Petition forderte, die deutschlandweiten Samenbanken zu verstaatlichen und für die Bevölkerung zu öffnen. Alina hatte ihm davon erzählt, und dass sie jedes Mal unterschrieben hatte; dafür lobte er sie ausgiebig. Aber hatte sie nicht erwähnt, dass es sich bei diesen Leuten um Studenten gehandelt hatte?

Als er auf etwa zwei Meter herangetreten war, hörte er, was der Mann seiner Frau erzählte. Er sprach sehr gedämpft. Sein Arm war angewinkelt, so als hielte er Alina irgendeinen Gegenstand entgegen.

Gleichzeitig warf er, fast reflexartig, einen Blick auf Alinas Bauch, und stellte beruhigt fest, dass nichts zu sehen war. Nach der kurzen Zeit, schalt er sich selbst. Da müsste sie ja mindestens Vierlinge bekommen.

„ … mir ein sehr großes Anliegen, Ihnen in einem persönlichen Gespräch den Plan Gottes begreiflich zu machen, sodass auch Sie erkennen, dass die Erlösung ganz nah ist, und dass wir uns nicht fürchten müssen.“

„Ich bitte Sie …“, begann Alina, doch Alexander sagte laut und deutlich: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Der Mann zuckte kaum merklich zusammen und wandte sich langsam um. Ein unfassbar freundliches Gesicht strahlte ihm entgegen, das ihn an die Dauerwerbesendungen des Privatfernsehens erinnerte. Die Augen des Fremden waren genauso grau wie der Rest von ihm. Es schien fast so, als hätte ihn lediglich irgendein Zeichner mit einem Bleistift skizziert.

„Auch Ihnen wünsche ich einen wunderschönen Abend, mein Herr“, begrüßte er den stirnrunzelnden Alexander mit einer unglaublich tiefen und sanften Stimme. „Wenn Sie erlauben, dass ich mich kurz vorstelle, mein Name ist Luis, und ich gehöre zu der Glaubensgemeinschaft der Kinder der Endzeit.“

Seine Hand schnellte vor und hielt ihm die Broschüre entgegen. „Ich erzählte bereits Ihrer reizenden Frau von dem Grund meines Besuches. Sie hat bereits eines dieser wunderbaren kleinen Heftchen von mir bekommen. Darin können sie die Visionen unseres Meisters studieren, der die ganze Katastrophe bereits vor Jahren vorhergesagt und dokumentiert hat. Sie haben es verdient, die Wahrheit zu erfahren, welchen Plan der heilige Vater für uns Menschen ersonnen hat, den er dieser Tage bereits in die Tat umsetzt.“ Auf der schwarzen Vorderseite stand in großen, weißen Lettern gedruckt Warten auf das Ende.

„Zweimal brauchen wir das bestimmt nicht“, entgegnete Alexander mit unverhohlener Missgunst.

„Es wäre mir ein sehr großes Anliegen, Ihnen in einem persönlichen Gespräch den Plan Gottes begreiflich zu machen, sodass auch Sie erkennen, dass die Erlösung ganz nah ist, und dass wir uns nicht fürchten müssen.“

„Das geht leider nicht. Meiner Frau geht es nicht gut, wie sie zweifellos sehen können. Und ich würde nun gern meinen Feierabend in Ruhe verbringen. Ihr Besuch war umsonst.“

„Möchten Sie nicht erfahren, was der Herr Wunderbares mit uns allen vorhat? Möchten Sie …“

Alexander ließ die Tasche zu Boden fallen und gab dem grauhaarigen Mann mit der flachen Hand einen Schubser vor die Brust, worauf dieser verdattert einige Schritte zurücktaumelte. Die drei Traktate, die er noch in der Hand gehalten hatte, flatterten zu Boden. Eines davon wurde von einem kecken Windstoß erfasst und wehte auf die Straße hinaus. „Mein Herr, ich …“

„Sie verlassen auf der Stelle mein Grundstück“, sagte Alexander mit Grabesstimme zu dem Mann, der zwar einen Kopf größer, aber wesentlich schmächtiger war als er selbst. Dessen freundliches Lächeln hatte sich nun in eine verdrossene, säuerliche Miene gewandelt, und seine Mundwinkel zuckten nervös, während er beschwichtigend die Hände hob.

„Kein Wort mehr, runter von meinem Boden“, wiederholte Alex und streckte den Arm wie ein Wegweiser in Richtung der Straße aus. Der unwillkommene Besucher machte keine Anstalten, sich zu bewegen, und schien stattdessen fieberhaft nach einer umstimmenden Antwort zu suchen.

Alexander ging einen großen Schritt auf den Mann zu.

Dieser holte noch einmal tief Luft, unterbrach sich dann jedoch selbst. Er wandte sich ab und schritt dann, betont bedächtig, mit stolzem Gang das Kieswegchen entlang durch das Tor, auf die Straße hinaus. Dort drehte er sich nach rechts und ging davon.

Während sie dem Mann namens Luis nachsahen, fuhr ein Polizeiauto an Ihrem Haus vorbei; es vergingen wenige Sekunden, dann folgten zwei weitere, die in nahezu Schritttempo, dicht gedrängt, durch die Westendstraße rollten. In den letzten Wochen hatte Alexander immer mehr Polizeiautos in Niedertalbrück gesehen. Genau genommen, war kein Tag vergangen, an dem er auf der Heimfahrt nicht einem Streifenwagen begegnet war. Auch hatte er immer öfter Polizeibeamte bemerkt, die zu Fuß unterwegs waren, die sich angeregt unterhielten und geschäftig in der Gegend umhersahen. Er hatte es allerdings vorgezogen, Alina vorerst nicht darauf anzusprechen.

Als der graue Mann nicht mehr zu sehen war, hob Alexander seine Tasche vom Boden auf, legte seinen freien Arm um Alina und schob sie behutsam ins Haus hinein. Er ließ einen letzten, verdrossenen Blick über seinen Vorgarten schweifen. Hinter einem Fenster des Nachbarhauses bewegte sich etwas. Die Gardine schwang leicht hin und her. In diesem Haus wohnte Simon mit seiner Frau, deren einziges Hobby darin bestand, die Nachbarschaft auszuspähen. Natürlich hatte sie nun auch diese Szene mitbekommen, vom Logenplatz aus, und bereits morgen würde der Rest der Straße über den Vorfall Bescheid wissen.

„Jemand hat mir neulich auf der Arbeit von diesen Typen erzählt.“ Einer von den Kerlen mit ihren News-Apps war es gewesen. „Ich sag dir, die tun nur so fromm, sind aber in Wahrheit ziemlich durchgeknallt.“ Er schloss die Tür hinter sich. „Verdammte Dreckskerle.“

Alina gab ihm einen Kuss auf den Mund. „Beruhig dich, Schatz. Du bist früh dran heute.“

„Ich hab Kopfschmerzen bekommen und bin früher gegangen. War verdammt stressig heute. Das, was er dir da gegeben hat, schmeiß das weg.“

„Alex … setz dich erst mal und werd wieder ruhig. Ich mag es nicht, wenn du so grob zu anderen Leuten bist, das weißt du.“

„Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich später heimgekommen wäre. Du könntest mir ruhig etwas dankbar sein.“ Er ließ die Tasche auf den Küchentisch fallen, öffnete den Kühlschrank und nahm sich eine Pepsi heraus. Dann kramte er im Regal nach der Schachtel mit den Kopfschmerztabletten.

Alina ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Es erinnert mich an die Sache mit Mark.“ Sie seufzte und griff nach ihrem Wasserglas, das auf dem Tisch stand.

Alexander warf sich seine Tablette in den Mund und spülte sie mit einem großen Schluck Pepsi hinunter. „Hatten wir nicht ausgemacht, dieses Thema nicht wieder von neuem anzuschneiden?“, fragte er spitz und setzte sich neben sie, während er die Dose mit einem zweiten großen Schluck leerte er. Dann rülpste er leise. Das hatte er noch nie gemacht. Wenn es eines gab, was Alex hasste, dann waren das schlechte Manieren.

„Ich sage dir nur, wie ich mich fühle.“

Mark. Dieser Name markierte den Beginn einer Zeit, in der aufhörte, Alina abends auszuführen. Und wenn er es sich genau überlegte, dann hatte diese Zeit wohl bis zum heutigen Tage angedauert.

Diese unrühmliche Sache hatte sich in jener Phase ereignet, als Alexander und Alina sich in seiner Studienzeit regelmäßig verabredeten. Sie hatten damals zahllose Abende im Crystal’s verbracht, einer kleinen Bar am anderen Ende des Dorfes, die auch heute noch immer großen Zulauf von Seiten der jungen Generation hatte.

Mark war ein Schulfreund von Alina gewesen, der sich schon früher immer um sie beworben hatte und dabei regelmäßig abgeblitzt war. Er hatte sie schließlich eines Abends zusammen mit Alexander zufällig im Crystal’s getroffen, wo er mit einigen Kollegen herumhing, die alle in einer der dunkleren Ecken des Clubs saßen und auf dem flachen Tisch vor sich mindestens fünf Shishas in verschiedenen Geschmacksrichtungen stehen hatten. Dieser Mark hatte sich angewöhnt, bei jedem ihrer Treffen, an dem er auch – zufällig oder nicht – im Crystal’s war, an ihren Tisch zu kommen und Alina mit aller Mühe in ein Gespräch zu verwickeln. Alexander hätte ihn eigentlich gar nicht mal unsympathisch gefunden, wenn ihn seine respektlose Art nicht so abgestoßen hätte … und die Tatsache, dass er offensichtlich weder fähig noch willens war, Alina in Ruhe zu lassen. Mehrmals verwies er ihn klar und deutlich zurück in die Ecke zu seinen Melonen- und Apfelzimtdampf paffenden Kumpanen. Alina schlug vor, dass sie doch einfach in die alternative zweite Bar im Dorf namens The Club gehen könnten, doch Alexander machte ihr klar, dass dies kein Ort für ein romantisches Date, sondern vielmehr für allerlei zwielichtiges Gesindel war. In Wahrheit wollte er das Kampffeld nicht von sich aus räumen. Niemals.

Dann eines Abends, es war Valentinstag, spielte der DJ die romantischsten Schnulzen rauf und runter. Bald sahen sie durch das dämmrige Licht eine Gestalt, die unsicheren Schrittes, durch die eng umschlungen tanzenden Gäste hindurch, auf ihren Tisch zuwankte, und deren Umrisse sie nur zu gut kannten. Es war Mark, der sich offensichtlich Mut angetrunken hatte, um Alina in der Gegenwart ihres Mackers ansprechen zu können. Er trat an den Tisch und ersuchte Alina untertänigst um einen Tanz.

Alina wusste in diesem Moment nicht, was sie sagen sollte, und sah ratlos zu Alexander auf. Dieser bat Mark kurzerhand zu einem Gespräch unter Männern zum Hinterausgang, wo einige sechzehnjährige Mädchen frierend in der abendlichen Februarkälte standen und gemeinsam einen Joint pafften.

Er verpasste ihm ein blaues Auge, schlug ihm die zwei oberen Schneidezähne aus, brach ihm als Zugabe noch den rechten Unterarm (was eigentlich mehr aus Versehen geschah, da es ihm, einmal angefangen, nicht gerade leicht fiel, wieder aufzuhören) und legte ihm nahe, seine Stammkneipe zu wechseln und ihm idealerweise nie wieder unter die Augen zu geraten.

Die Mädchen hatten angefangen zu kreischen. Eines davon hatte den Joint fallengelassen.

Alexander ließ Mark, der allem Anschein nach das Bewusstsein verloren hatte, an der neonblau gestrichenen Außenwand des Crystal’s niedersinken, holte für seine Geliebte ein Wodka Lemon an der Bar und ging dann seelenruhig zurück an den Tisch.

Etwa zwanzig Minuten später wurde er von der Polizei verhaftet und blieb die ganze Nacht auf dem Revier. Alina holte ihn dort am nächsten Morgen ab. Er vergaß nie den verstörten Blick aus ihren roten, verweinten Augen, gepaart mit einem Ausdruck von verzweifelter, liebender Zuneigung. Sie gingen gemeinsam in ein Café um dort zu frühstücken, und Alina fragte ihn, warum er das getan habe. Er antwortete ihr, weil er sie beschützen wollte. „Weil du alles bist, was ich habe, Alina. Wer versucht, dich mir wegzunehmen, der wird es bereuen“, sagte er leise und sah dabei so hinreißend aus, dass sie ihm am liebsten sofort um den Hals gefallen wäre; wie er sie dabei aus seinen ozeanblauen Augen anblickte, das war ein Blick, den sie nie vergessen sollte, und einige Tage später würde er ihr mit demselben Blick seinen Heiratsantrag machen.

„Du würdest mich niemals betrügen, nicht wahr?“, fragte er, während sie immer tiefer versank in den blauen Ozeanen, die seine Augen waren. So tief, dass sie den warnenden Unterton in seinen Worten nicht bemerkte.

„Nein … nie im Leben würde ich das tun“, wisperte sie mit brüchiger Stimme.

„Gut. Sehr gut, Baby“, raunte er und küsste ihre Hand. Alina lächelte, fast verlegen, wusste darauf nichts zu entgegnen, und fragte an diesem Morgen nicht mehr weiter. Sie spürte, dass ihr sehr warm geworden war und ihre Wangen sicherlich feuerrot glühten. Als sie gingen, bezahlte sie die Rechnung.

Einige Tage später erhielt Alina einen handschriftlichen Brief von Mark. Er bat darin schüchtern um Entschuldigung, äußerte sein Verständnis für Alexanders Wutausbruch und versprach reumütig, sie in Zukunft nie wieder zu belästigen.

Seit dieser Nacht waren sie so gut wie nicht mehr abends ausgegangen. Fast so, als hätten sie eine stille Vereinbarung hierzu getroffen.

Man verurteilte Alexander später zu hundert Sozialstunden. Und damit war die Sache erledigt.

Heute Abend war wirklich das Letzte, was Alexander tun wollte, sich an diese dunkle und dumme Episode aus seinem Leben zu erinnern. Die Bilder spukten wie kleine, nervtötende Geister in seinem Hirn umher. Und wahrscheinlich würde das nun für den Rest des Tages so bleiben. Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer. Schöne Scheiße, dachte er. Er holte sich noch eine Pepsi. „Vielleicht war ich etwas hart zu dem Kerl. Zu dem Kerl da draußen, meine ich. Aber du hast nicht gehört, was sie mir auf der Arbeit erzählt haben. Das sind totale Fanatiker.“

Als er zurück kam, blätterte seine Frau in dem Traktat. Sie hatte ihren Kopf auf die linke Hand gestützt und gähnte. „Hast du gehört?“

„Was haben Sie dir denn Schlimmes erzählt?“

Alexander zögerte. Doch nun hatte er schon damit angefangen. „Nun ja … die Kinder der Endzeit glauben daran, dass das Ausbleiben der Geburten die Ankunft Christi verkündet. Dieser wird dann in sehr naher Zukunft auf die Erde kommen und alle seine Kinder ins Himmelreich aufnehmen, sprich, in diesem Fall natürlich nur alle Mitglieder dieser Sekte. Zuvor wird aber eine Frau ein einziges weiteres Kind auf die Welt bringen, und … dieses Kind ist der Antichrist oder symbolisiert ihn, oder was auch immer, und wird dann mit seinen Dämonen die Erde überfluten und alle Ungläubigen, die von Jesus und seinen erleuchteten Kindern hier zurückgelassen wurden, in alle Ewigkeit mit seinem Dreizack in den Hintern pieken.“

Alina sah ihn ungläubig an. Sie schien zu überlegen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. „Na ja, davon steht hier jedenfalls nichts drin“, sagte sie schließlich, stand auf und warf die Broschüre in den Küchenabfall. Alexander merkte, dass ihre Hände zu zittern begonnen hatten. „Ich frage mich, woher deine Arbeitskollegen das wissen wollen. Neulich kam ein kurzer Bericht über die Kinder der Endzeit, irgendwo auf einem der hinteren Sender …“

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dort so etwas erwähnt wird. Das läuft hinter den Kulissen ab.“

Alina setzte sich wieder nieder und schlug die Beine übereinander, dann verschränkte sie kokett die Arme vor der Brust. Schließlich lächelte sie spitzbübisch. „Was ist?“, fragte Alexander ratlos.

„Ich finde das total übertrieben. Ich weiß nicht, warum du in so einer apokalyptischen Stimmung bist“, säuselte sie dann mit hoher, verstellter Stimme, und Alexander begriff erst einen Moment später, dass sie ihn gerade imitierte. Er seufzte und lächelte sie dann an.

„Ich hatte von diesen Verrückten zuvor nichts gehört. Aber gut, vielleicht hattest du ein Stück weit recht, Schatz. Das hab ich in dem Moment eingesehen, als der Typ hier durch die Tür wollte. Was, wenn er von dem Kind gewusst hätte?“ Er schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster, wo sich ihm lediglich ein grau gefärbter Himmel darbot.

„Es ist einfach gerade eine verrückte Situation, und das merkt man auch an den Leuten … Manche versuchen eben, sich auf die religiöse Schiene zu retten, und werden dann auf diese Weise irre. Du müsstest mal die Stimmung im Büro miterleben. Motivation gleich Null. Irgendwie tun schon alle so, als wäre der Untergang besiegelt und als bliebe uns nichts anderes übrig als Däumchen zu drehen, zu beten und zuzusehen, wie einer nach dem anderen wegstirbt.“

Er reckte die Arme in die Luft und streckte seine müden Glieder durch.

Alina lächelte und sagte nichts.

„Solchen Leuten müssen wir es wirklich nicht auf die Nase binden, dass du schwanger bist, aber früher oder später wird man es trotzdem merken, und was wollen diese Idioten dann tun? Sie werden rumsitzen und erkennen, dass niemand kommt um sie zu erlösen, und nach einigen Wochen werden sie eine Erklärung abgeben, ihr Guru hätte sich getäuscht und der Heiland hätte seinen Termin auf der doch Erde noch im letzten Moment um ein paar Jahrzehnte verschoben. Was wollen sie dann tun? Versuchen, dem Kind den Satan auszutreiben?“

„Alex, hör auf damit“, rief Alina ärgerlich.

„Das würde niemand zulassen, alleine schon, weil die Öffentlichkeit ein zu hohes Interesse an dem Kind hätte.“

Für einen Moment schwiegen sie.

„Ich glaube, es wird ein Mädchen“, sagte Alina und lächelte versonnen.

Alexander atmete tief ein. Dann stand er auf, ging vor Alina in die Knie, schob den Saum ihrer Bluse nach oben und legte den Kopf auf ihren Bauch. Er spürte ihre Wärme an seiner Wange und ihre Hand, die durch seine Haare streichelte. „Wenn du das sagst, dann ist es so“, flüsterte er. „Es wird ein wunderbares Mädchen.“

Er blieb noch für eine Weile so liegen, und es schien ihm in diesem Moment, als gäbe es nur sie beide auf dieser Welt. Sie beide, und das kleine, schwache Licht in ihrer Mitte, das von Tag zu Tag größer und heller wurde.

Es würde alles gut für sie werden. Er wusste es. Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Bauch und stand wieder auf. „Ich liebe dich“, sagte er und ging ins Badezimmer.

Es gab Hackbraten mit Kartoffelpüree.

Auf dem winzigen Bildschirm neben dem Kühlschrank erschien Bärbel Giesebrecht, die vor guten fünf Wochen das gesamte Publikum der öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrer Weltuntergangsnachricht schockiert hatte. Sie trug dieselbe rote Bluse wie damals (vielleicht besaß sie auch mehrere der gleichen Sorte), hatte inzwischen allerdings ihr langes blondes Haar auf einen schulterlangen Pagenschnitt zurechtgestutzt, der ihr nach Alexanders Urteil nicht besonders gut stand. Wahrscheinlich hatte sie endlich eingesehen, dass jeder Versuch, sich schwängern zu lassen, momentan sinnlos war und nur unnötig die Bettwäsche schmutzig machte. Mit der neuen Frisur hatte sie diese Hoffnung symbolisch hinter sich gelassen. Alexander hatte festgestellt, dass es ihm unheimlich Spaß machte, der blonden Dame alle möglichen Erfindungen anzudichten, die ihm einfielen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum er das tat.

„Guten Abend und herzlich willkommen.“ Sie machte eine Pause, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. „Eine Welt … in Aufruhr. Die weltweit anhaltende Zeugungsunfähigkeit der Männer bereitet sowohl der Politik als auch der Bevölkerung schlaflose Nächte. Nach den Protesten gegen die so empfundene Tatenlosigkeit der Regierung in den verschiedensten Ländern der Welt gehen die Menschen nun auch in Deutschland auf die Barrikaden. Seit heute Nachmittag demonstrieren Tausende vor dem Bundestag für eine Verstaatlichung der Samenbanken und die Aufteilung der Spermien unter der Bevölkerung. Sie sehen Johann Winter live aus Berlin.“ Es erschien wieder der Jüngling mit dem Mikrofon, der in einer Traube von Parolen brüllenden und Spruchbannern schwenkenden Demonstranten stand und sich inmitten der Masse nicht sonderlich wohl zu fühlen schien. Immer wieder wurde er von diversen Schultern und Ellenbogen angerempelt. Ab und zu blitzte eine Strahl der tiefstehenden Septembersonne zwischen den Menschen hindurch. Neben Johann Winter tauchte ein hünenhafter, glatzköpfiger Mann von etwa dreißig Jahren auf, der ein Plakat bei sich trug mit der Aufschrift Ihr seid schuld, wenn Deutschland ausstirbt!, das er offenbar selbst angefertigt hatte. „Ich stehe hier direkt vor dem Bundestag, die Menschen sind außerordentlich aufgebracht und offenbar mit ihrer Geduld am Ende“, keuchte er in sein leuchtend gelbes Mikrofon. „Dieser Demonstrant hier neben mir, mit Namen Hans-Dieter, hat, genauso wie die anderen Leute hier, eine klare Meinung zu der aktuellen Situation …“

Er reckte das Mikro zu dem Hünen empor, der mindestens anderthalb Köpfe größer war als er.

„Wir sind der Meinung, dass die Regierung uns viel zu lange hingehalten hat“, rief der Riese namens Hans-Dieter in die gelbe Kugel hinein. Es klang, als hätte er seinen Text auswendig gelernt. „Wir haben bereits vor Wochen mehrfach unsere Petitionen eingereicht, mit der Bitte, die Samenbanken für die Allgemeinheit freizugeben und dem Notstand Abhilfe zu schaffen, so lange, bis die Wissenschaftler eine Lösung gefunden haben. Die Bevölkerung hat mit den Fruchtbarkeitstest, die ja vom Staat angeordnet wurden, ihren Teil zur Lösung des Problems beigetragen, doch nun, da sich momentan keinerlei Fortschritt zeigt, fordern wir von der Regierung den nächsten folgerichtigen Schritt. Deutschland ist im Begriff auszusterben, und dazu leider mit einer Däumchen drehenden Regierung gestraft, und deshalb hat sich das deutsche Volk entschieden, zum heutigen Tag seine Stimme zu erheben und sein Recht einzufordern!“ Er blickte mit finsterer Miene in die Kamera.

„Vielen Dank, Hans-Dieter, und viel Erfolg euch allen noch“, sagte Johann Winter und lächelte, dann entfernte er sich ein Stück, während die Kamera ihn verfolgte, und sagte dann: „Was dieser Mann uns sagte, gilt natürlich für die anderen europäischen Staaten genauso wie für Deutschland, jedenfalls für alle, in denen es eine oder mehrere Samenbanken gibt. Es bleibt abzuwarten, wie schnell der Bundestag auf das Drängen der Bevölkerung reagiert und ein entsprechendes Gesetz erlässt. Ich denke, wir alle hoffen, dass dies so schnell wie möglich geschieht …“ Aus dem Hintergrund drängte sich eine schwarzhaarige Frau ins Bild. Sie hatte tiefe Falten im Gesicht und einen fast grauen Teint, dafür jedoch umso gelbere Zähne.

„Die Politiker wollen die Bevölkerungszahlen kleiner machen!“, polterte sie mit schwerfälliger Stimme. Sie hatte die Stirn zusammengekniffen, sodass ihre buschigen Augenbrauen sich fast über der Nase trafen. Johann Winter blickte nervös um sich und versuchte, einen Weg aus dem wütenden Mob zu finden. „Hört ihr Leute, ihr da draußen! Deshalb halten sie uns so lange hin! Überbevölkerung! Da kommt ihnen dieses Problemchen doch gerade gelegen! Würde mich nicht wundern, wenn die selber dahinterstecken täten! Die ganze verdammte …“ Der Ton wurde leiser. Das Bild richtete sich weg von Johann Winter und der empörten Frau und wurde langsam ausgeblendet.

Bärbel Giesebrecht sah mit leicht schockiertem Blick zurück von der Projektion auf den Teleprompter.

Alina warf vielsagende Blicke zu Alexander herüber, und allmählich fragte er sich, was sie damit bezweckte. Sie hatte offenbar recht gehabt mit ihren Bedenken, aber das hatte er bereits eingeräumt; wie viel Reue also wollte sie von ihm noch hören? Ärgerlich stürzte er seine Pepsi hinunter und überlegte, ob er sich noch eine holen sollte.

Doch dann blieb er sitzen, da die Dame auf dem Bildschirm wieder das Wort erhob. Sie war plötzlich bleich im Gesicht geworden. Ihre Augen spiegelten verwirrte Ungläubigkeit wieder. Alexander wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie die Sendung hätte abbrechen müssen.

„Soeben erreicht uns eine Eilmeldung aus Bonn …“ Sie blickte erneut auf Ihren Bildschirm und verharrte dort einige Sekunden. „Ein Reporter der BILD-Zeitung hat am dortigen Forschungszentrum offenbar einen Skandal aufgedeckt. Das Zentrum beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Gebiet der Embryonalforschung und hat sich seit dem Beginn des Geburtenstillstandes, auf Anweisung der KBEZ, fast ausschließlich mit dem verantwortlichen Virus auseinandergesetzt, um ein entsprechendes Heilmittel zu entwickeln. Die Wissenschaftler, die nicht nur aus Deutschland, sondern unter anderem auch aus Frankreich, Luxemburg und der Schweiz stammen, haben sich außerdem intensiv mit der Frage beschäftigt, ob eine Möglichkeit besteht, Samenzellen auf künstlichem Wege zu produzieren.“

Alexander hustete und kratzte sich am Kinn. Er sah kurz und unauffällig zu Alina hinüber. Diese starrte gebannt auf den kleinen Fernsehbildschirm, wobei sie am kleinen Finger ihrer rechten Hand herumkaute.

„Der Reporter hat vor einigen Stunden einen um Hilfe schreienden Mann im Inneren des Gebäudekomplexes bemerkt, auf dessen Gelände er sich gerade ordnungswidrigerweise aufhielt. Dieser war dort offenbar gegen seinen Willen festgehalten worden. Der Reporter alarmierte umgehend die Bonner Polizei, die daraufhin zum Forschungszentrum ausrückte und den Mann befreite. Einer der verantwortlichen Wissenschaftler wurde festgenommen. Nach Angaben der Beamten ist der Mann wohlauf und seine Identität ist ebenfalls geklärt. Es liegen zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch keine Informationen vor, warum er dort eingesperrt war und was mit ihm geschehen ist. Wir halten Sie auf dem Laufenden.“ Wieder erschienen die weißen Lettern der Rufnummer, unter der sich etwaige schwangere Frauen melden sollten; wieder dankte die Giesebrecht im Namen der Regierung für die Kooperation. Dieser Aufruf war inzwischen ein fester Bestandteil aller Nachrichtensendungen geworden.

Es ging weiter mit den neuesten Meldungen über die Bürgerkriege in Vorderasien.

Nach einigen Sekunden schaltete Alexander wahllos in ein anderes Programm. Dort wurde gerade eine Ansprache des Papstes aus Rom gesendet, der von schweren Zeiten und Gottes Wirken in der guten Tat des Menschen sprach, doch Alexander hörte nicht richtig hin. Wie konnten diese Wissenschaftler glauben, dass es ihnen gelänge, Samenzellen künstlich herzustellen? Und warum investierte die Regierung Zeit und Geld in eine derartige Forschung? Warum konzentrierten sie sich nicht voll auf den Virus, der für den ganzen Schlamassel verantwortlich war? Darauf, auf irgendeinem Wege ein Gegenmittel herzustellen? Und was hatten sie mit dem Mann angestellt? War er ein Opfer ihrer Forschung geworden? Er mochte sich das gar nicht weiter ausmalen, und es war ohnehin fraglich, ob man dazu Näheres erfahren würde, aber er konnte sich vorstellen, welche Bilder Alina gerade durch den Kopf schießen mussten.

Das Bild eines Mannes, der nackt auf einer Bahre festgeschnallt war; vor ihm ein Doktor mit Mundschutz, der ihm gerade mit einem Skalpell den Hodensack aufschnitt; an der Wand dahinter ein Regal, wo einige Gläser standen, in denen männliche Geschlechtsorgane in einer grünlichen Flüssigkeit umherschwammen.

In einem anderen Raum, das Bild einer Frau, festgeschnallt auf einer Bahre, zappelnd, durch ihren Knebel hindurch schreiend, neben ihr ein Mann ihm weißen Kittel, mit ausdrucklosem Gesicht, der eine Spritze mit einer Lösung voller künstlicher Samen zückte, die er ihr dann in die Gebärmutter injizierte. Das Bild dieser Frau, wie sie neun Monate später unter der Aufsicht der Wissenschaftler ein entsetzliches, aus blutigen Gewebeklumpen bestehendes Etwas entband, das sich in einer Pfütze aus Schleim vor ihnen auf einem klinisch desinfizierten, weißen OP-Tisch hin und her wand und sich nach einigen Minuten nicht mehr bewegte.

Er sah Alina an. Ihr Blick war glasig. Gleichzeitig erschreckten ihn seine eigenen Gedanken und die Vorstellung, dass sie beide so etwas Entsetzliches dachten, und im selben Moment vielleicht noch Hunderttausende andere Zuschauer im ganzen Land.

Nie hätte er erwartet, dass diese ganze verdammte Situation ihn einmal derart beunruhigen würde.

Er versuchte sofort, sich selbst wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen, da ihm dies zunächst am wichtigsten erschien, denn nur so wäre er vielleicht in der Lage, anschließend auch Alina zu beruhigen, was zweifellos erforderlich sein würde.

Man wusste noch nicht, was genau dort vorgefallen war, das stand fest. Genauso klar war jedoch, dass es für diese Sache nicht gerade viele harmlose Erklärungen gab. War es nicht das Beunruhigendste an dieser Sache, immer nur einen Teil des Ganzen zu sehen, immer nur auf den Teil der Wahrheit blicken zu können, den man von seiner Warte aus sehen konnte, und daraus seine Schlüsse ziehen zu müssen? Aber verdammt, er kam einfach nicht dazu, rund um die Uhr die Nachrichten zu schauen und das Internet nach den neuesten Meldungen zu durchsuchen, auch wenn er sich wohl nicht einmal auf diese Weise einen vollständigen Überblick verschaffen konnte. Wären Alina und er nicht in dieser fatalen Ausnahmesituation gewesen, dann hätte der weltweite Geburtenrückgang ihn auch nur leicht überdurchschnittlich interessiert, zumindest einige Zeit lang.

Ob es wohl noch andere Paare gab, die in dieser Zwickmühle steckten? Schwangere Frauen, die sich nicht trauten, in die Öffentlichkeit zu treten? Wie sollte man mit solchen Leuten, die vielleicht gar nicht existierten, in Kontakt kommen, ohne dass es die falschen Personen mitbekamen? Zusammen wäre wohl vieles einfacher, aber er verwarf diesen Gedanken wieder, kaum dass er ihm gekommen war.

Auf einmal fühlte er sich, als hätte jemand etliche Tonnen von Felsgestein auf seinen Schultern aufgestapelt, die ihn niederdrückten und ihm die Luft zum Atmen nahmen. Er spürte sie regelrecht, wie sie seine Lunge zusammenpressten, und er keuchte auf. Da wurde ihm bewusst, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Er hielt die Hände an seinen schmerzenden Kopf.

Jesus, Herr im Himmel, dachte er und blickte zur Decke. Bitte lass sie die Samenbanken öffnen. Oder ein Gegenmittel finden. Oder irgendeinen fetten, ungeduschten Biertrinker und Sofasitzer finden, der von diesem verfluchten Alienvirus verschont geblieben ist und alle Huren, die er in den letzten Wochen in Gebrauch hatte, geschwängert hat, weil die Zuhälter von Anfang an gemerkt haben, dass der Gewinn sich ordentlich erhöht, wenn die ganzen lästigen Kosten für Verhütungsmittel wegfallen.

Irgendetwas. Bitte.

Erschrocken und irgendwie belustigt über seine eigenen Ängste, die er am liebsten umgehend wieder in die dunklen Gewölbe seines Hirns zurück gesperrt hätte, aus denen sie gekrochen waren, stand er auf und nahm Alina in den Arm.

„Ich glaube, du hattest recht“, sagte Alexander zerknirscht, als sie zu Bett gegangen waren. Dann atmete er tief aus. Er hatte es endlich auszusprechen gewagt.

Alina hatte sich an ihn gekuschelt und antwortete zunächst nicht. Einen Moment lang glaubte er, sie sei bereits eingeschlafen. „Du glaubst?“, fragte sie dann leise und gähnte. „Ich hab vorhin das Internet durchsucht. Lange.“

„Du hast gesagt, du wolltest schreiben.“

„Das hatte ich auch vor. Aber diese Sache mit dem armen Kerl ließ mir einfach keine Ruhe. Es gibt keine neuen offiziellen Meldungen darüber, nur das, was sie vorhin gesagt haben. Aber die Leute spekulieren. Einige, die diesen Mann kannten, haben geschrieben, dass er sich von dem Zentrum für irgendwelche freiwillige Tests hat anwerben lassen. Dafür wurde ihm eine Entschädigung versprochen. Er war arbeitslos und brauchte Geld. Dann hat man lange Zeit einfach nichts mehr von ihm gehört. Das klingt alles recht einleuchtend, und dann gehen die Spekulationen und Horrorszenarien los.“ Ihre Stimme wurde weinerlich. Sie zog die Nase hoch. „Warum sollte nicht etwas davon wahr sein?“

„Von solchen Meldungen würde ich jedenfalls nur die Hälfte glauben.“

„Wenn nur eine Hälfte davon wahr ist, schlimm genug.“

Sie schwiegen eine Zeit lang und lauschten den Autos, die draußen auf der nächtlichen Straße noch vereinzelt vorbeibrausten.

„Sind dir auch die Streifenwagen aufgefallen?“, flüsterte sie.

„Mhmm.“

„Ich sehe fast jeden Tag einen, wenn ich von der Praxis heimlaufe. Manchmal auch schon morgens. Sie fahren meist sehr langsam. Und die Beamten, die darin sitzen, schauen sich aufmerksam um.“

„Vielleicht befürchtet man Unruhen. Deshalb zeigt die Polizei Präsenz. Die Bürger sollen sich sicher fühlen.“

„Glaubst du das wirklich? Meinst du nicht, dass die Polizei in Wahrheit ganz andere Anweisungen bekommen hat?“

„Das kann ich dir leider auch nicht beantworten.“

„Alex, ich weiß … dass du immer noch nicht ganz meiner Meinung bist. Aber ich bitte dich, tu es für mich. Und für das Kind. Zeig mir, dass ich nicht allein bin mit meiner Angst.“

„Das bist du nicht, Schatz“, entgegnete er fast bestürzt und rieb seine Nase an ihrer Wange. Eine Geste, von der er wusste, dass sie mochte. Normalerweise brachte sie das zum Kichern, aber heute nicht.

Sie atmete tief ein, und es klang wie der Atem einer alten Frau. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt. Und ich glaube nicht, dass es ihnen reichen würde, über dich herzufallen. Nein, sie würden auch das Kind haben wollen. Und dann werden uns noch schlimmere Dinge passieren als diesem armen Teufel.“

Alexander spürte einen Kloß im Hals. Von seiner Brust bis tief hinab in seine Magengrube breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus, das er nach kurzer Zeit als Angst identifizierte. Alinas Worte hatten zuweilen eine unheimliche Macht über ihn.

„Versprich mir, dass niemand von unserem Kind erfahren wird.“

„Wie lange?“, flüsterte er und sah ihre Augen im Dunkeln glänzen. Auf einmal wurde er sich bewusst, wie unnachgiebig die Bettdecke auf ihm lag, wie sie ihn an die Matratze fesselte und mit ihrer sanften Schwere unbeweglich zu machen drohte.

Er war sich sicher, dass er in diesem Moment nicht imstande gewesen wäre, sie zu lüften und sich von seinem Bett zu erheben. „Ein ganzes Leben lang?“

„Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird … Niemand weiß das, oder? – Aber wenn du mich liebst, dann tu es.“ Sie umfasste seinen Nacken mit ihren Armen und zog ihn an sich, dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren warmen Bauch. „Ich will nichts mehr, als ein Leben mit dir und unserem Kind … Ein Leben in Frieden. Kannst du mir das geben, Alex? Willst du mir das geben?“

Eine kühle Brise wehte durch das geöffnete Schlafzimmerfenster hinein und strich über Alexanders Gesicht. In der Ferne hörte irgendwo das Geräusch von quietschenden Autoreifen. Draußen in der Wiese zirpten Grillen, so laut, als wollten sie Alarm schlagen.

„Ja, Alina, bei Gott, ich will es versuchen“, sagte er und küsste sie. Nach einer Weile erwiderte sie seinen Kuss und kuschelte sich an ihn.

„Dann sollten wir bald darüber reden, wie wir weiter vorgehen. Einen Plan machen. Ich weiß leider noch nicht, was es bedeutet, ein Kind zu bekommen“, sagte sie schließlich.

„In Ordnung, Liebes.“ Und ich weiß es genauso wenig.

Sie sprachen nicht weiter. Wenig später schlief Alina ein. Alexander, mehr als eine Stunde später, ebenfalls.

Er erwachte gegen vier Uhr morgens mit einem leisen Schrei. Er hatte im Schlaf das Gefühl bekommen, er sei auf einer eiskalten, stählernen Bahre festgeschnallt.

Operation White Angel

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