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MITTWOCH, 7. JANUAR 2026

Alexander trat über die Schwelle der Haustür und vernahm sofort den gleichzeitig süßen und herben Duft von Weihnachtsplätzchen. Alina liebte das Backen, das wusste er. Jedes Jahr zu Weihnachten begann sie, Blech um Blech in den Backofen zu schieben, und produzierte noch bis Mitte Januar Unmengen an Plätzchen, die für ein ganzes Waisenhaus ausgereicht hätten, alle Pfleger und Betreuer eingeschlossen.

Er schloss die Haustür hinter sich und trat durch den wohlduftenden Plätzchendunst. Er hörte den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Es wurde über die unheilvollen Ereignisse in Magdeburg berichtet. Was nicht weiter verwunderlich war, denn auch auf der Arbeit hatte heute niemand von etwas anderem gesprochen. Er warf einen Blick in die Küche, doch da war niemand. Ein Stapel von leeren Eierkartons fiel ihm auf, die fein säuberlich auseinandergefaltet und aufgeschichtet waren.

Alina lag im Wohnzimmer auf der Couch, halb zugedeckt, und schien zu schlafen. „Hallo mein Schatz“, sagte er leise, und sah wie sie sich regte. „Hi“, murmelte sie müde. Er trat neben sie und küsste sie auf die Stirn.

„Ich hab Plätzchen gebacken.“

„Das hatte ich vermutet.“

„Ich bin heute nicht zur Arbeit gegangen“, sagte sie und schlug die Decke zurück. „Kurz nachdem du heute Morgen weg warst, wurde mir speiübel. Ich hab Dr. Andris angerufen und abgesagt.“

„Warum um alles in der Welt backst du dann Plätzchen?“, fragte er lächelnd.

„Um noch ein paar Eierkartons zu leeren.“ Sie setzte sich aufrecht auf die Couch. „Na ja, und um mich davon abzulenken, wie übel mir ist.“ Ihre blonden Haare hatte sie zusammengebunden, doch der Knoten hatten sich gelöst, sodass einige Strähnen in ihr Gesicht fielen. Alexander fiel auf, wie müde und abgeschlagen der Blick aus ihren braunen Augen war. Er setzte sich neben sie und blickte zum Fernseher hinüber. Dort waren die Bilder zu sehen, die er bereits kannte. Die linke Hälfte des Bildschirms zeigte die Samenbank, wie sie zuvor ausgesehen hatte: ein sechsstöckiges, weißes Gebäude mit Flachdach und kleinen Fenstern, das ein wenig abseits auf einer Grünfläche stand. Die rechte Hälfte zeigte die gegenwärtige Situation in bewegten Bildern: Ein unheilvolles, zertrümmertes Gebilde aus weißem Stahl und grauem Geröll, das halb Ruine und halb Flugzeug zu sein schien, aus dem an vielen Stellen noch immer Flammen schlugen. Der Himmel war dunstig, die Luft schien noch immer staubig und verrußt. Die Grünfläche war als solche nicht mehr zu erkennen, sie war zu kargem, toten Boden verbrannt. Feuerwehrleute liefen umher, Rettungskräfte tummelten sich, Menschen weinten. „Noch immer bergen die Rettungskräfte Opfer aus den Trümmern“, berichtete die männliche Off-Stimme mit bedrücktem Tonfall. „Bis jetzt wurde ein Großteil der Passagiere aus den Trümmern geholt, von denen scheinbar niemand überlebt hat. Ebenso der Pilot, bei dem es sich nach den derzeitigen Erkenntnissen um den Attentäter gehandelt hat. An Bord des Flugzeuges befand sich nach dem derzeitigem Stand zudem eine erhebliche Menge Sprengstoff, die bei dem Aufprall zur Explosion gebracht wurde. In dem Gebäude hielten sich zum Zeitpunkt des Anschlags etliche Angestellte, Mediziner und Wachleute auf, über die bis jetzt noch nichts bekannt ist; angesichts der nahezu vollständigen Zerstörung des Gebäudes muss allerdings auch hier mit weiteren Todesopfern gerechnet werden.“ Die linke Hälfte der Vorher-Nachher-Gegenüberstellung verschwand, und die bedrückende Szenerie füllte nun den ganzen Bildschirm aus. Die Kamera wandte sich von dem Gebäude ab und schwebte über ein Gebiet, das direkt an die ehemalige Grünfläche angrenzte und wohl so etwas wie eine Vorstadtsiedlung gewesen war. Auch hier waren massive Zerstörungen zu sehen, doch die Kamera blieb auf Abstand, vielleicht um die Zuschauer nicht allzu sehr zu verstören. Alexander fragte sich, wie ein Pilot mit einer gewöhnlichen Langstreckenmaschine ein vergleichsweise kleines Gebäude derart zielgerecht hatte zerbersten können. „Auch im Bereich der Einflugschneise ist vieles zerstört worden. Das Flugzeug hat beim Anflug über die Siedlung mehrere Häuser gestreift. Auch hier gibt es Tote und Verletzte. Bis die erste Bestandsaufnahme abgeschlossen ist, wird noch eine ungewisse Zeit vergehen. Wir erleben damit einen traurigen Höhepunkt der bisherigen Anschlagsserie in Deutschland, sowie in ganz Europa.“

Alexander wandte den Blick vom Fernseher, der auf einer teuren Nussbaumkonsole stand, und betrachtete die eingerahmten Bilder, die daneben angeordnet waren. Es waren Fotografien von Alinas Eltern. Bei Ihrer Hochzeit. Unter dem großen Apfelbaum in ihrem Garten. An einem Badestrand, mit Sonnenbrillen und gebräunter Haut. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass sie auf keinem der Bilder lächelten. Die Fernsehbilder mussten Alina unweigerlich daran erinnern, wie sie ihre Eltern verloren hatte. Er legte seine Hand auf die ihre.

„Und wie fühlst du dich jetzt?“

„Es geht so.“ Sie rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand. „Ach ja, Harald hat noch angerufen. Weil wir ihn doch zum Dank zum Essen einladen wollten. Er hat gemeint, er würde es vorziehen, nicht mit uns zu essen. Wir sollen ihm nicht böse sein.“

Alexander zog die Stirn kraus. „Ist er jetzt etwa beleidigt? Herrje, ich glaub’s ja nicht. Dann isst er eben nicht mit uns, mir soll es recht sein. So, wie er sich aufgeführt hat, kann er froh sein, dass ich so ruhig geblieben bin. Früher hätte ich ihm eine gegeben.“

„Schatz, er macht sich eben auch Sorgen um uns, und außerdem hat er uns wirklich einen sehr großen Gefallen getan … also sei nicht wütend auf ihn.“

„Er hatte wenigstens Spaß dabei, uns diesen Gefallen zu tun. Oder auch nicht, keine Ahnung. Aber lass uns doch nicht über ihn sprechen.“

Alina strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, zog das Gummiband aus ihren Haaren und band sie von neuem zusammen. „Nein, wir müssen uns wirklich über etwas anderes unterhalten“, sagte sie dann mit ernster Miene und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Fernsehbildschirm. Dort wurde gerade das Bild eines deutsch-polnischen Grenzüberganges gezeigt. Die Off-Stimme erklärte, dass die Bundesrepublik Deutschland die Grenzkontrollen aufgrund der Terrorgefahr ab sofort deutlich zu verschärfen beabsichtigte. „Du weißt, was das bedeutet?“

Alexander ließ einen langen Atemzug entweichen und nickte langsam.

„Heute morgen hatte ich wieder Besuch. Von diesen Kindern der Endzeit. Diesmal waren es zwei. Ich hab durch den Türspion geschaut. Sie haben sehr lange vor der Tür gewartet und immer wieder geklingelt. Zwanzig Minuten lang ging das so, erst dann sind sie gegangen.“

„Wir sollten uns eine Schrotflinte anschaffen und nächstes Mal damit vor die Tür gehen!“

„Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht irgendwo die Polizei sehe. Auf dem Weg zur Arbeit. Oft schon, wenn ich nur hier aus dem Fenster schaue. Das war früher nicht so, und es wird jeden Tag schlimmer.“

„Scheint mir auch so.“

„Der Mann von Bonn. Man weiß bis heute nicht, was sie dort mit ihm angestellt haben.“

„Stimmt.“

„Und nun das.“ Sie starrte auf den Bildschirm. Ihre Augen glänzten, und die Bewegungen der Fernsehbilder spiegelten sich darin. „Jetzt gibt es nur noch dich.“

Es war das erste Mal, dass Sie über dieses Ereignis ein Wort verloren. Wahrscheinlich hatten sie beide einen Tag lang Zeit gebraucht, um das Geschehene zu begreifen.

Die monotone Off-Stimme fuhr fort, ihre Botschaften zu verkünden, wie ein unheilvolles Rezitativ. Man hatte erfahren, dass seit dem Anschlag die komplette Stromversorgung in dem Gebäude ausgefallen war; eine gefahrensichere Notstromanlage hätte erst in den kommenden Tagen installiert werden sollen. Die Stickstoffbehälter, in denen normalerweise eine Kühltemperatur von rund zweihundert Grad minus herrschte, versuchte man derzeit aus den Trümmern zu bergen (Alexander hegte den Verdacht, dass die Bergung von verschütteten Personen tatsächlich zweitrangig war); jedoch musste man davon ausgehen, dass die Behälter allesamt schwer beschädigt waren. Und sollte dies nicht der Fall sein, so war es doch anzunehmen, dass ihr Inhalt aufgrund des Stromausfalls und der Hitze, die in dem Gebäude entstanden sein musste, nicht mehr zu gebrauchen war.

„Wir müssen drei Dinge besprechen“, sagte Alina, und schien diese direkt aufzählen zu wollen, doch dann verharrte sie zwischen zwei Atemzügen und begann, auf ihrem kleinen Finger herumzukauen.

„Das Kinderzimmer?“, ließ sich Alexander vernehmen.

„Ich würde sagen, wir nehmen den Raum mit den ganzen alten Umzugskartons. Wir müssen ihn leerräumen und irgendwie schalldicht machen.“

„Ich werde mich darüber schlau machen.“

„Du darfst nicht im Internet recherchieren.“

Er wollte widersprechen, doch hatte sie damit nicht vielleicht recht? Es klang so, als ob sie recht hätte.

„Ich werde es auch so hinbekommen.“

„Das denke ich auch“, sagte Alina und schenkte ihm ein Lächeln, das ihm wohl ihr Vertrauen signalisieren sollte; tatsächlich war es jedoch ein ziemlich schiefes Lächeln.

„Der zweite Punkt wäre folgender … Wir brauchen jemanden, der auf das Baby aufpasst, während ich morgens arbeite.“ Sie kaute noch immer auf ihrem Finger, und Alexander bereitete sich darauf vor, ihn mit einer resoluten Handbewegung aus ihrem Mund zu ziehen, um zu verhindern, dass sie ihn noch ganz aufaß. Er hasste es, wenn sie das tat. Seine Mutter hatte diese Angewohnheit auch gehabt.

„Es wäre am einfachsten, du würdest kündigen.“

„Das kann ich nicht“, antwortete Alina, ließ ihren kleinen Finger frei und verschränkte die Hände, so als wollte sie ein Gebet anstimmen. „Und das hängt direkt mit dem dritten Punkt zusammen.“

Sie erhob sich vom Sofa und stellte sich in die Mitte des Raumes. „Was fällt dir an mir auf?“, fragte sie ernst.

Er überlegte ein Weilchen. „Dass du wunderschön bist?“ Im ersten Moment wusste er nicht, worauf sie hinauswollte. Aber er meinte völlig ernst, was er sagte, denn Alina gehörte zu der Sorte von Frauen, die in nahezu jeder Situation schön waren; selbst wenn sie so offensichtlich übermüdet und erschöpft vom vielen Erbrechen war wie jetzt.

Sie lachte auf, und es war kein fröhliches Lachen; dennoch klang es in seinen Ohren so lieblich wie ein zartes Glockenspiel in einer milden Frühlingsbrise. „Schau auf meinen Bauch, Schatz.“

Alexander blickte auf ihren Bauch. Er war unter ihrem hellrosa Strickpullover verborgen, und sie zog ihn hoch, damit Alexander freie Einsicht hatte. Er versuchte, mit den Augen eines Fremden darauf zu blicken. Man konnte auf die Idee kommen, dass die Besitzerin dieses Bauches ein paar Weihnachtsplätzchen zu viel verdrückt hatte. Das lag aber nur daran, dass Alina gertenschlank war, sodass die leichte Rundung unter ihrem Busen tatsächlich ein wenig auffiel. Doch ein Außenstehender wusste ja nicht, was der Grund dafür war. Vor Weihnachten war das nicht so gewesen, dessen war Alexander ziemlich sicher. Bestimmt hatte das viele Essen ebenso seinen Teil dazu beigetragen. Andererseits konnten sie heilfroh sein, dass Alina derart lange in Form geblieben war, was bestimmt keine Selbstverständlichkeit darstellte. Ihm war jedenfalls nichts davon aufgefallen, bevor sie ihren Pullover hochgezogen hatte. Sie war in den letzten Wochen fast immer später als er zu Bett gegangen, weil sie an einer Idee für einen neuen Roman gearbeitet hatte (oder, wie Alexander vermutete, um im Internet nach neuen Schreckensmeldungen zu suchen). Er hatte sie daher abends nicht beim Umziehen gesehen, sondern nur irgendwann im Dunkeln gespürt, wenn sie sich zu ihm unter die Decke gekuschelt hatte. Unzählige Male hatte er seine Hand auf ihren Bauch gelegt oder sein Ohr daran gehalten, aber eine ungewöhnliche Rundung war ihm dabei nicht aufgefallen.

Konnte da wohl ein Außenstehender argwöhnisch werden?

Alinas eigene Wahrnehmung war in dieser Frage bestimmt weitaus empfindlicher als die seine.

„Ich finde, es sieht wirklich süß aus“, sagte er leise, während im Hintergrund verletzte Menschen, nur als blutverschmierte Bündel zu erkennen, auf Bahren geladen und zu den Kolonnen aus Krankenwagen und Notarztwagen transportiert wurden. Wie schon so oft fiel ihm auf, dass seine Frau wirklich einen wunderschönen Bauchnabel hatte. Er war nahezu perfekt kreisrund und innen fast völlig glatt. Als ob jemand mit dem Finger ein Loch in trocknenden Ton gedrückt hätte. Er wollte zu ihr gehen, sie küssen und ihren Bauch streicheln, in dem ihr gemeinsames Kind gerade wohlgeborgen vor sich hin schlummerte und darauf wartete, in das Licht der Welt gezogen zu werden. Doch sie zog den Pulli wieder herunter und räusperte sich, und es klang, als wolle sie zum geschäftlichen Teil der Unterhaltung übergehen. „Jedenfalls kann ich so nicht mehr vor die Tür gehen. Gestern hatte ich zwei Strickpullover übereinander an. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich geschwitzt habe. Nicht, weil mir so warm war, weißt du. Sondern vor Angst, weil ich pausenlos befürchtet hab, irgendjemand könnte es doch sehen und eine Bemerkung machen … Ist zum Glück nicht passiert. Aber ich hab mich den ganzen Morgen quasi hinter den Empfang gekauert und versteckt.“

„Das brauchst du wirklich nicht. Man sieht gar nichts.“ Einen Moment lang tauchte in Alexanders Gedanken das Bild von Harald auf, wie er in seiner Politikerpose am Kaffeetisch saß und, die rechte Hand demonstrativ schwenkend, auf ihn einredete. Wie wollt ihr die Schwangerschaft vor den Leuten geheim halten? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du damit durchkommst, Brüderchen, das glaubst du doch nicht wirklich? Hast du überhaupt eine Ahnung vom Leben, Alex, hm? Ich glaube nicht. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen, dass du überhaupt einen Schimmer davon hast, wie die Dinge im Leben laufen. Es kostete Alexander alle erdenkliche Geisteskraft, diese so oft gehörte Stimme zum Verstummen zu bringen und das Bild von Harald innerlich fortzuwischen. Natürlich hatten Alina und er auch über dieses Problem diskutiert, so, wie sie über jeden weiteren Schritt debattiert hatten, ausgenommen natürlich die Frage, was in einigen Jahren sein würde … Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Viel lieber hätte er sich daran erinnert, was sie bezüglich des Babybauches besprochen hatten, doch es wollte ihm ums Verrücktwerden nicht einfallen. Hatten sie überhaupt irgendetwas ausgemacht? Er war sich plötzlich nicht mehr sicher.

„Glaubst du etwa, dass es bis zum Schluss so bleibt?“

„Ich weiß es doch nicht.“

Er streifte sein Hugo-Boss-Jackett ab (es war dasselbe, das er an dem Tag getragen hatte, an dem er die Kapsel mit dem Geschenk seines großen Bruders im Mund gehabt hatte) und löste seinen oberen Hemdknopf. Alina stand auf und ging hinaus auf den Flur, wo er sie an der Garderobe herumknistern hörte; wahrscheinlich suchte sie gerade etwas in einer ihrer zahlreichen Handtaschen, die fast die Hälfte der großen Garderobenwand einnahmen, die dort hing. Die Berichterstattung aus Magdeburg endete soeben, und die Wettervorhersage wurde präsentiert. In den nächsten Tagen war mit neuen Schneefällen und weiterhin mit Minustemperaturen zu rechnen.

Nach kurzer Zeit kam sie zurück und setzte sich neben ihm auf die Couch. In ihrer Hand lag eine schmale Injektionsspritze aus Kunststoff, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Der Kolben war aus mintgrünem Plastik gefertigt, und die spitze, metallene Kanüle wies direkt auf Alexander, so als ob er an einer obskuren Variante von Wahrheit oder Pflicht teilgenommen hätte.

Wahrheit, schoss es ihm schlagartig durch den Kopf. Ich nehme Wahrheit.

Einen Moment lang starrte er nur fragend auf ihre Hand; dann sagte er, ohne zu wissen, ob er gerade scherzte oder nicht: „Wir sollen uns einen Schuss setzen? – Ich kann mich nicht erinnern, dass wir etwas Derartiges abgemacht hatten.“

Alina seufzte und legte die Spritze neben sich auf die Couch. Dann schlug sie die Beine übereinander, und Alexander befürchtete bereits, sie würde nun ebenfalls eine ganz bestimmte Politikerpose einnehmen, doch sie stützte ihren Kopf auf die rechte Hand und legte die andere auf seine eigene, um sie sanft zu streicheln.

„Da du vorhin vom Kündigen gesprochen hast … Das geht nicht. Erstens, wäre es mehr als auffällig, da schließlich alle wissen, dass wir verheiratet sind und dass ich den Job immer geliebt habe und dass es deshalb keinen Grund gibt, warum ich einfach so aus heiterem Himmel kündigen und den ganzen Tag alleine zuhause herumsitzen sollte … Zweitens, muss ich bei Andris bleiben, weil das Baby Impfstoffe braucht. Und da bin ich an der Quelle. Die bekommen wir sonst nirgends. Das waren die zwei Gründe, warum ich nicht kündigen kann. Abgesehen davon wird in diesen zwei Monaten gewiss noch andere Anlässe geben, zu denen ich gezwungenermaßen unter die Leute gehen müsste, Geburtstage oder was weiß ich, und wie soll ich da jedes Mal eine überzeugende Ausrede finden?“ Während sie so sprach, bekam Alexander das Gefühl, dass sie ihre Worte zuvor auswendig gelernt hatte. Wohl nicht alle, aber sie hatte sich scheinbar einige feste Sätze als Gerüst zurechtgelegt. Wahrscheinlich zerrte diese Unterhaltung genauso an ihren Nerven wie an den seinen.

Sie hob die Augenbrauen und blickte traurig lächelnd aus dem Fenster, wo sie allerdings aufgrund der heruntergelassenen Jalousie nicht besonders viel sah.

War es nicht seltsam, dass sie beide im selben Haus lebten, im selben Bett schliefen, einen großen Teil ihrer Freizeit gemeinsam verbrachten, aber in diesen sieben Monaten, seitdem Alina mit dem positiven Schwangerschaftstest in der Hand trällernd aus dem Badezimmer gehüpft war, nie die passende Stunde gefunden hatten, um über diese Fragen zu sprechen? Alina hatte in diesen sieben Monaten nicht deutlich mehr Zeit in ihrem Schreibzimmer zugebracht, und Alexander war nicht deutlich öfter als gewöhnlich zum Stammtisch gegangen. Sie hatten sich über viele Dinge unterhalten, hauptsächlich belangloses Allerlei; sie waren miteinander ausgegangen, wie sie es seit jeher taten, hatten Kinofilme angesehen, die Restaurants der Nachbardörfer im Umkreis besucht, hatten miteinander geschlafen und dabei sogar die ein oder andere exotische Stellung oder ausgeklügeltes Spielzeug ausprobiert, das Alina im Internet bestellt hatte, um ihm eine Freude zu machen. Jedoch, für ein Gespräch über all diese Fragen, die sich mit jedem Tag mehr aufdrängten, war nie die richtige Zeit gewesen? Er musste zugeben, dass er sich jeden Tag davor gefürchtet hatte, und dass er insgeheim abends froh gewesen war, dass Alina noch nicht damit begonnen hatte. Und er hätte auch selbst nicht gewusst, wie er eine solche Unterhaltung hätte beginnen sollen. Es hatte wohl erst einen Terroranschlag geben müssen, damit all diese Fragen auf den Tisch kamen.

„Ich bin jetzt im siebten Monat. Zwei liegen noch vor uns. Ich hab einen Urlaubsanspruch von zehn Tagen, weil ich nicht voll bei Dr. Andris beschäftigt bin. Schließlich kann ich schlecht hingehen und Mutterschaftsurlaub beantragen, oder? Ich weiß nicht, wie ich nach der Geburt aussehen werde … Und es fällt auf, wenn ich über zwei Monate am Stück wegen Übelkeit zuhause bleibe, meinst du nicht auch?“

Alexander atmete beunruhigt ein und aus. „Schon, aber was willst du damit sagen?“

„Sagen wir einfach mal, alles läuft glatt, das Kind kommt einigermaßen zeitgerecht, dann liegen wir bei Anfang März. Gehen wir doch einfach mal vom fünften März aus. Also gehe ich zu Dr. Andris und sage, ich möchte ab dem fünften März zehn Tage Urlaub nehmen. Das wäre die Zeit, die ich brauche, um wieder schlank zu werden … Ich weiß, zwei Wochen sind nichts, aber lass uns einfach optimistisch sein. Bleiben also die zwei Monate von jetzt bis zum fünften März.“ Alexander war für einen Moment nicht mehr imstande, ihr zuzuhören, da sich plötzlich die Bilder der Hausentbindung vor sein geistiges Auge schoben; er sah eine schreiende Alina, die auf ihrem Ehebett lag, er sah Blut, sehr viel Blut, auf dem Laken, auf dem Boden, sogar an den Zimmerwänden; und er sah das kleine, zarte Köpfchen seines Kindes vor sich, das sich seinen Weg nach draußen ins Licht der Welt bahnte, er legte die zitternden Hände darum, und Alina schrie, schrie …

„Alex, hörst du?“ Alina legte die Hand auf seine Wange und drehte seinen Kopf mit leichtem Nachdruck in ihre Richtung.

„Tut mir leid, ich … hab gerade an die Geburt denken müssen.“ Er war müde, er wollte am liebsten ins Bett. Der Tag war anstrengend gewesen, und heute Abend wollte er kein Gedankenkarussell fahren. Nicht heute.

„Das solltest du nicht tun. Konzentrier dich auf das, was jetzt zu tun ist.“

Alexander sah sie an, als wollte er sie fragen, wer sie denn bitte sei und was sie eigentlich in seinem Haus zu suchen hätte. „Sag mal, worauf willst du nun hinaus?“

„Ich brauche einen Grund, um zwei Monate zuhause bleiben zu können, verstehst du? Das ist das Problem, und dafür brauchen wir das Morphantixon.“ Sie griff nach der Injektionsspritze und hielt sie ihm demonstrativ entgegen.

Dann stand sie auf und entfernte sich ein paar Schritte.

„Ich brauche einen Knochenbruch.“

Sie drehte sich um und sah ihn an. In ihrer Miene sah er unumstößliche Entschlossenheit. Er wandte den Blick ab und schloss für einen Moment die Augen. „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er öffnete die Augen wieder und sah sie traurig an. „Was redest du denn da?“

„Das Mittel ist gut. Auf Morphiumbasis. Und das Beste: Es ist für Schwangere vollkommen ungefährlich. Dr. Andris hat immer einen kleinen Vorrat davon in der Praxis. Gestern habe ich mir ein wenig davon … nun ja, ausgeliehen. Ich werde so gut wie nichts spüren. Du musst es einfach nur tun. Ohne lange darüber nachzudenken. Ich hab mir als Kind schon einmal das Bein gebrochen. Es ist nicht so schlimm.“ Langsam ging sie zur Couch zurück.

Ungläubig schüttelte er den Kopf und verzog das Gesicht, als befiele ihn plötzlich eine höllische Migräne. „Alina ... wie auch immer … du dir das vorstellst, das kann ich nicht tun.“

„Nenn mir eine Alternative.“

„Bitte, Alina …“

„Nenn mir eine vernünftige Alternative, wie wir diese zwei Monate rumbringen, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt, und ich werde nicht mehr davon sprechen.“

Alexander fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. „Wir können …“ Sag etwas, schrie er sich selbst von innen her zu. Sag einfach irgendetwas, damit sie von dieser irren Idee ablässt. „Erzähl Andris, dass du einen entfernten Verwandten hast, der im Sterben liegt. Irgendwo, vielleicht in Kanada oder in Australien. Du musst zu ihm und dich um ihn kümmern, weil er sonst niemanden hat.“

Alina runzelte die Stirn und überlegte einen Moment. „Andris weiß, dass ich keine nähere Verwandtschaft mehr habe, und zu der entfernteren habe ich keinen Kontakt. Das habe ich ihm mal erzählt.“

„So was erzählst du Andris?“

„Ja, Alexander. Abgesehen davon würde so eine Angelegenheit bestimmt nicht über zwei Monate in Anspruch nehmen. Und außerdem ist das eine Ausrede wie aus einem Spielfilm.“

„In einer deiner Geschichten würde sie bestimmt fabelhaft funktionieren.“

„Das wäre möglich, aber schließlich ist das hier nicht eine meiner Geschichten, sondern die Wirklichkeit … und bei so einer Entschuldigung, da wird ja jeder misstrauisch.“

„Lass uns nochmal in Ruhe drüber reden. Ich bin müde, du bist müde; lass uns drüber schlafen, und wir werden garantiert … irgendeine Lösung finden, die besser ist als dein Vorschlag.“

„Das hört sich wirklich fabelhaft an“, sagte sie spitz und ließ sich neben ihm auf die Couch plumpsen. „Glaubst du, dass ich das nicht schon selbst versucht hätte? Dass mir diese Vorstellung so sehr gefällt, dass ich nach keiner anderen Lösung suchen möchte? Für mich steht es fest, anders geht es nicht.“ Sie atmete scharf ein, so als ob sie Schmerzen hätte. „Alex, wir haben doch all die Monate bis jetzt erfolgreich hinter uns gebracht. Wir schaffen das, und die Probleme, die wir jetzt sehen, werden wir ebenso meistern.“

Eine Weile herrschte Stille im Haus. Nur der Abendverkehr war gedämpft zu hören, der draußen auf der Straße in einschläfernder Gleichmäßigkeit vorbeirauschte. „Aber wie du möchtest, wir können gerne morgen nochmal reden. Wenn dir bis dahin eine andere Möglichkeit eingefallen ist. Das Ganze wird langsam eilig … und …“

Plötzlich musste sie husten und schnappte nach Luft. Sie presste sich die Hand auf den Mund und sprang von der Couch auf, gab würgende Laute von sich und beeilte sich, ins Badezimmer zu kommen. Alexander hörte, wie sie die Tür aufstieß, den Klodeckel in letzter Minute hochriss und sich in die Schüssel erbrach.

Dort verbrachte sie die nächste halbe Stunde.

Das Baby, schoss es Alexander durch den Kopf. Mein Gott, wenn es dem Baby nur gut geht. Wenn wir es doch nur wüssten.

Als sie erschöpft zurückkehrte, war Alexander, immer noch mit Hemd und Anzughose bekleidet, auf der Couch eingeschlafen.

Operation White Angel

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