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DONNERSTAG, 14. AUGUST 2025

Man könnte wirklich heulen“, sagte Dieter und legte den Kopf weit in den Nacken, um keinen Tropfen seines dunklen Hefes zu vergeuden. „Scheiße, ich meine, schaut euch doch um, die ganze Welt … für’n Arsch.“ Er setzte sein Glas mit einem lauten Klonk! auf den Tisch und legte seine riesigen, behaarten Hände darum, während er mit verklärtem Blick in die Ferne sah. Alexander, der neben ihm saß, brummte, und für Dieter klang es wahrscheinlich zustimmend. Dieter war der Malermeister im Dorf und hatte ihr Häuschen gestrichen, bevor sie eingezogen waren. Außer ihnen befanden sich noch zwei weitere Männer am Tisch. Zu Alexanders Rechten hockte sein Nachbar Simon, ein schlaksiger Mann von vierundzwanzig Jahren. Seine knabengleiche Statur und seine jungenhaften Gesichtszüge hätten Anlass dazu geben können, ihn noch einige Jahre jünger zu schätzen; seine Halbglatze jedoch ließ ihn wiederum um einiges älter erscheinen, sodass diese beiden Merkmale sich gegenseitig aufwogen und ihn insgesamt genauso alt erscheinen ließen, wie er tatsächlich war. Er trug eine Hornbrille mit großen Gläsern, die ihm ständig die Nase herunterrutschte; sodass er sie sich ungefähr alle fünf Minuten mit dem Zeigefinger wieder nach oben schieben musste. Es war Alexander ein Rätsel, warum Simon nicht einmal die Bügel richten ließ, doch er hatte ihn auch noch nie danach gefragt. Ihm gegenüber hatte ein gewisser Mark Platz genommen, der ein Glas billigen Rotweins vor sich hatte, welchen er in großen Schlücken hinabkippte; er hatte seit Alexanders Ankunft bereits zweimal nachbestellt. Ein Kerl, den er bereits aus seiner Jugend kannte, und mit dem er hier nicht gerechnet hatte. Als er an den Tisch getreten war und seine Visage erblickt hatte, wäre er am liebsten wieder rückwärts hinausgegangen. Doch das ließ sich schlecht anstellen, da Simon und Dieter ihn bereits entdeckt hatten und ihn heiter und lautstark willkommen hießen, weil er bereits mehrere Wochen nicht mehr zum Stammtisch erschienen war. Im Laufe der Gespräche erfuhr er, dass Dieter sich mit Mark angefreundet hatte, was wohl bedeutete, dass er nun regelmäßig mit ihm rechnen musste. Er hatte ihn in den letzten Jahren hin und wieder im Dorf gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Wenn sich ihre Blicke einmal versehentlich begegnet waren, so hatte sich Mark stets verstohlen abgewandt. Und darüber war Alexander auch sehr froh gewesen. Doch heute, in dieser Situation und in Anbetracht der feucht-fröhlichen Stimmung, würde er wohl oder übel ein paar Worte mit ihm wechseln müssen.

Normalerweise zählte ihre Runde mindestens die dreifache Zahl Männer, doch der Rest hatte sich laut Aussage von Simon verspätet, und wiederum zwei waren krank. Ihr Stammtisch fand stets im einzigen Gasthof statt, den das Dorf Niedertalbrück noch hatte: im Goldenen Hahn, der jedoch gar nicht so golden war, wie man vermuten mochte. Die zwei kleineren Bars im Ort, das Crystal’s und The Club, hatte das Jungvolk erobert.

Der Goldene Hahn war an diesem Donnerstag Abend nicht besonders gut besucht. Außer den vieren saßen ein paar vereinzelte Rentnerehepaare in den anderen Ecken der Gaststube. Ein Mann lungerte an der Theke herum. Die Lautsprecher, die in in den Ecken an der Wand hingen, spielten leise Elvis Presley, was Alexander ein wenig seltsam erschien. Gewohnt war jedoch der allgegenwärtige Duft nach Wiener Schnitzel und Spätzle mit dunkler Soße.

Seit dem Tag, an dem Alina ihr Kind zum Geheimnis erklärt hatte, waren gute vier Wochen vergangen. Der Stand der Dinge war noch immer derselbe. Die Wissenschaftler forschten Tag und Nacht. Die Stichprobentests an der Bevölkerung waren bereits durchgeführt worden, mit dem Ergebnis, dass von den rund zehntausend ausgewählten männlichen Probanden hundert Prozent zeugungsunfähig geworden waren (was jedoch noch keinesfalls bedeuten musste, dass dies auf die gesamte männliche Bevölkerung zutraf, wie man immer wieder mit Nachdruck betonte). Es wurde stark vermutet, dass der entdeckte Virus dafür verantwortlich war. Die Frauen waren davon gänzlich unbeschadet geblieben, was nur einen schwachen Trost darstellte.

„War einer von euch bei diesen Untersuchungen?“, fragte Alexander. Alina und er hatten gebetet, dass er nicht zu den Probanden gehören möge, und dieses Gebet war erhört worden.

„Mich haben sie vorgeladen“, entgegnete Simon, der sofort wusste, wovon Alexander sprach, mit seiner hohen Stimme. „Ich sag’s euch, so was hab ich noch nie erlebt. Musste drei Stunden warten, obwohl außer mir nur noch zwei andere da waren. Und die kamen erst nach mir dran.“

„Wer waren die?“, fragte Mark neugierig, und schwenkte sein Glas, um den letzten Schluck des Rotweins zu belüften.

„Nie gesehen, keine Ahnung. Haben mich dann irgendwann abgeholt. Musste zum Doktor, erst untersuchen lassen. Widerlicher Kerl. Dann gab’s eine Röntgenaufnahme. Und zum Schluss halt noch eine Probe.“

„Haben Sie dich auch noch abgemolken, du armer Knilch“, lachte Mark, leerte sein Glas und gab der Kellnerin ein Zeichen, ihm noch eine Karaffe zu bringen.

„War ja zu erwarten.“ Simon fuhr sich mit der Hand über den Schädel. Dann fing er an, mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch zu trommeln.

„Mein Cousin arbeitet bei Durex“, warf Mark ein. Die Kellnerin servierte seinen Wein und bekam als Zeichen der Dankbarkeit einen Klaps auf den Hintern. Sie beschwerte sich nicht darüber, was wohl daran lag, dass sie offenbar aus Polen oder Ungarn stammte und gerade genug Deutsch sprach, um die Bestellungen zu verstehen und die richtigen Getränke zu servieren. „Armer Knilch. Hat sich so hochgearbeitet und jetzt können sie ihre Produktion wohl bald auf Luftballons umstellen. Dann ist immerhin nicht alles verloren.“ Er hob sein Glas empor und legte den Kopf in den Nacken.

„Die Durex-Leute werden schon irgendwo unterkommen.“ Simon verdrehte die Augen. „Aber was ist mit den Hebammen, den Kindergärtnerinnen, den Lehrern?“

„Die Schnullerhersteller“, warf Dieter säuerlich ein. „Die Windelproduzenten. Die Zwiebackbäcker, Herrgott noch eins.“

„Ich lass mich von dieser Sache nicht verrückt machen“, erklärte Alexander und nahm einen Schluck von seiner Whisky-Cola. Es war bereits die zweite an diesem Abend. „Das Ganze ist jetzt seit einem Monat offiziell. Die Wissenschaftler sind an der Sache dran. Und denkt doch mal nach: Wie wahrscheinlich ist es, dass wirklich jeder einzelne Kerl auf dieser Welt mit diesem verfluchten Virus in Kontakt gekommen ist?“

„Na ja, die haben gesagt, dass er sich über’s Trinkwasser verbreitet hat“, rief Dieter aus und leerte sein Glas. „Was irgendwie logisch erscheint, da dieser Drecksmeteorit ja mitten ins Meer fallen musste.“

„Schon, aber vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der seitdem keinen Tropfen Trinkwasser benutzt hat?“

„Du meinst, ein fetter Typ, der irgendwo auf seiner Couch rumhängt, sich von einem riesigen Jahresvorrat an Bier, Cola und Red Bull ernährt und seit einem Monat nicht mehr unter der Dusche war?“ Dieter, der selbst einen beachtlichen Leibesumfang aufwies, sah ihn an, als könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein solches Wesen auf diesem Planeten existierte.

„Möglich.“ Auch Alexander leerte sein Glas. Ihm gelang es ohne Mühe, genauso besorgt dreinzublicken wie die anderen, und darüber war er froh. Er bemerkte jedoch, dass sein Atem schneller ging als gewöhnlich, und er konnte diese Reaktion beim besten Willen nicht unterdrücken. Daher entschloss er sich, eine dritte Whisky-Cola zu bestellen.

Als man sie ihm brachte, blickte er einen Moment lang in die schwarzbraune Tiefe des Glases, so als ob er sich über den Rand eines steinernen Brunnens beugte. Für einen Moment glaubte er, wenn er sich nur fest konzentrierte, könne er darin kleine, kaum sichtbare, bedrohlich geformte Organismen sehen, mit Stacheln übersät und von einer unheilvollen, außerirdischen Lebenskraft erfüllt, die sie, die Menschen, heimgesucht hatte. Dann sah er sein eigenes Gesicht, dass sich auf der zitternden Oberfläche spiegelte, und er erschrak über den unsinnig ängstlichen Ausdruck in seinen Augen und hob schnell den Kopf. Das alles konnte doch gar nicht wahr sein. Außerirdischer Virus. Was für ein Scheiß.

„Selbst wenn das nicht der Fall wäre, dann müssten doch statistisch gesehen zumindest ein oder zwei Männer auf der Welt immun dagegen sein“, grübelte Simon, der den ganzen Abend nur Malzbier getrunken hatte und runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen? Das frage ich mich schon die ganze Zeit, seitdem dieser Wahnsinn begonnen hat.“

„Von so einer Statistik höre ich jetzt aber das erste Mal“, hörte sich Alexander sagen. Er konnte nicht anders, als den Kopf zu seinem Glas hinabzusenken.

„Simon, du bist ja so ein wunderbarer Klugscheißer“, röhrte Mark und schlug seinem Sitznachbarn mit der flachen Hand auf den schmächtigen Rücken, sodass dieser sich an seinem Malzbier verschluckte und einen Hustenanfall bekam, was Mark erneut in brüllendes Gelächter ausbrechen ließ.

„Aber das ist schon richtig so, einfach nie die Hoffnung aufgeben, mein Junge. Der Meinung sind deine Frau und du ja wohl auch, Alex, hab ich recht?“ Mark zwinkerte ihm zu und grinste über das ganze gerötete Gesicht. Alexander warf ihm einen lauernden Blick zu. „Was willst du damit sagen?“

Hatten sie sich das Du angeboten? Er erinnerte sich nicht, aber es machte wohl keinen Unterschied.

Simon stieß einen letzten Huster aus und schob seine Brille, die ihm bei Marks Angriff beinahe ganz von der Nase gerutscht wäre, zurück auf ihren Platz.

„Na ja“, erklärte Mark, „meine Schwester meinte, sie hätte Alina schon zweimal in der Drogerie getroffen, und beide Male hatte sie einen Schwangerschaftstest gekauft. Vor ein paar Tagen bin ich ihr dort selbst über den Weg gelaufen. Sie hat so getan, als würde sie mich nicht kennen. Was soll’s. Jedenfalls hat sie wieder das Gleiche gekauft. Fünf Stück hat sie auf’s Kassenband gelegt. Man könnte ja auf den Gedanken kommen, ihr leitet seit neuestem ein Heim für schwer erziehbare Mädchen!“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Tja, da hättet ihr euch wohl ein paar Monate früher an die Arbeit machen müssen. Aber wie ich sagte, ist doch nur recht, wenn die Hoffnung …“

Alexander spürte den Drang aufzuspringen, hielt sich aber im letzten Moment auf dem Sitzpolster und kompensierte den Impuls, indem er sein Glas lautstark auf die eichenhölzerne Tischplatte knallte. „Wie wäre es, wenn du einfach dein versoffenes Mundwerk hältst? Das geht dich einen Scheißdreck an, und ich hab keine Lust, mir deine Sprüche darüber anzuhören. Alina ist fix und fertig wegen dieser Sache. Außerdem erinnerst du dich anscheinend schon nicht mehr an … du weißt, was ich meine.“ Alexanders Stimme war immer lauter geworden und bebte bei den letzten Worten so stark, als würde er während dem Sprechen von unsichtbaren Händen durchgeschüttelt. Dieter fasste ihn am Arm.

Mark legte den Kopf ein wenig schief und presste die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Bitte, mach mir bloß keine Angst“, flötete er und leerte dann sein gesamtes Glas mit einem einzigen, langen Schluck.

„Nur eine kleine Warnung“, entgegnete Alexander leise. Er glaubte nicht, dass sein Gegenüber dies hörte, doch vielleicht war das besser so. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch in der Verfassung war, dieser Warnung Taten folgen zu lassen. Du musst ruhig bleiben, verdammt, ganz ruhig, atme einfach tief durch. Das nächste Mal verplapperst du dich, wenn du dich nicht im Griff behältst.

Und doch, er hasste Mark dafür, wie er über Alina gesprochen hatte. Wie laut er es herausposaunt hatte. Verdammter Schwätzer. Sie hatte all die Schwangerschaftsteste zur Nachkontrolle gekauft. Und natürlich war sie jedes Mal zum gleichen Ergebnis gekommen.

Einige Sekunden lang herrschte Stille. Nur das leise Geplapper der Rentnerpärchen, die neugierig aus ihrer Ecke herüber schauten, war aus dem Hintergrund zu hören, und die leise, aber eindringliche Stimme von Elvis. Dieter und Simon warfen sich ratlose Blicke zu.

„Ähm … ich denke, wir können darauf vertrauen, dass die Wissenschaftler früher oder später eine Lösung finden“, brach Simon vorsichtig die Stille. „Irgendwo in Bonn, in einem großen Forschungszentrum haben sich einige der besten Wissenschaftler aus Deutschland und anderen Ländern zusammengetan und arbeiten quasi rund um die Uhr. Kam neulich in den Nachrichten. So wird es noch in einigen anderen Ländern der Erde sein, denke ich mir. Und abgesehen davon, was ist mit den weltweiten Samenbanken? Da könnte man auch noch einiges rausholen, wenn man sparsam damit umgeht. Und sonst … besteht immer noch die berechtigte Hoffnung, dass sich jemand findet, der von dem Virus verschont wurde.“

„Das wäre der Messias.“ Dieter, der nach wie vor geistesabwesend in die Ferne blickte, fing an, sein Glas zwischen seinen Händen zu drehen. Alexander, der noch immer ein wenig zitterte, blickte ihn mit einem Ausdruck der Entgeisterung an, verstand seine Worte jedoch nicht.

Mark schien ihn gar nicht gehört zu haben. „Stellt euch das vor. Die Menschheit bangt um Ihre Zukunft. Alle Kerle der Welt verspritzen nur noch nutzlosen, toten Saft. Die Alten gehen einer nach dem anderen über den Jordan und die Bäuche der Frauen bleiben unbefruchtet und leer. Und jetzt stellt euch vor, ihr seid der Einzige, der die Macht hat, die Menschheit von ihrem Joch zu befreien … der Einzige, der das Fortbestehen der Menschheit sichern kann.“ Ein trauriges Lächeln trat auf sein Gesicht. Ohne zu wissen warum, fiel Alexander plötzlich ein, dass Dieter vor mehr als zehn Jahren seine einzige Tochter verloren hatte. Sie war mit drei Jahren an Leukämie gestorben. „Sie würden vor ihm auf die Füße fallen und ihn anbetteln, dass er ihre Frauen schwängert. Dass er die nächste Generation zeugt. Mein lieber Mann, der Typ hätte wirklich den Rest seines Lebens alle Hände voll zu tun. So jemand wäre wie Gott.“

Mark rülpste.

Simon kratzte sich am Kopf.

„Ich geh dann mal besser“, sagte Alexander und stand auf.

Operation White Angel

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