Читать книгу Die Chiòcciola-Trilogie - Kiara Borini - Страница 11
Schnecken-Schrecken
ОглавлениеDennis meinte, wir sollten ins KaDeWe fahren. Wenn es irgendwelche Lebensmittel bei uns gibt, dann sind die dort in der fünften Etage praktisch zusammengetragen. Dort gäbe alles; man müsse nur die Gänge abklappern, um das zu finden, was dem Raumschiff fehlt.
Also planten wir für den kommenden Tag einen Ausflug nach Berlin.
Pünktlich um neun standen Dennis und Rìccio bereits abreisefertig im Flur, während ich mir noch einen Erdbeer-Smoothie machte, den ich auch vorhatte zu trinken.
Weil aber beide offensichtlich keine Verzögerung duldeten und mit ihren imaginären Hufen scharrten, groß ich den Inhalt des Mixers in ein verschraubbares Glas und packte es in meinen Shopper. Ich hatte lange überlegt, welche Tasche denn für Berlin cool wäre, dann fiel meine Wahl auf einen Shopper, den ich vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, und der mir für Berlin passend schien. Dumm war nur gewesen, dass die Farbe nicht zu meinem T-Shirt passte, und ich mich entschied, mich nochmals umzuziehen. Das rächte sich jetzt mit dem Smoothie.
‘Chiòcciola kommt nicht mit, sie hat eine gerötete Oberfläche.’
Mist, auch mein Pelz brannte etwas. Wir hatten uns nicht eingecremt und die Sonne war dann wohl doch zu stark gewesen.
„Ich hoffe, es ist nicht zu schlimm”, meinte ich und mir war schon vor dem Aussprechen klar, dass es wohl eher ein Vorwand war. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht gestern?
Eine unangenehme Tatsache der Ferien war, dass der Bus, der uns während der Schulzeit zum Bahnhof bringt, in den Ferien nicht fuhr. Also mussten wir die gut sechs Kilometer zu Fuß zurücklegen. Dennis und Rìccio waren ein paar Schritte voraus und ich konnte nur Dennis Wortfetzen hören. Das mit den Gedanken klappte irgendwie heute nicht so gut. Vielleicht lag es daran, dass die beiden etwas voraus gingen. Oder lag es daran, dass das mit den Gedanken einfacher war, wenn sich nur zwei an dem Austausch beteiligten. Also trottete ich hinterher und lauschte den Gesprächsfetzen, die von Dennis zu mir hinüberdrangen. Es ging wohl um irgendwelche Raum-Zeit-Dinge.
Am Bahnhof angekommen, informierte uns die Tafel über dem Bahnsteig bereits darüber, dass der Regional Express zwanzig Minuten Verspätung haben würde.
‘Wenn die Verspätung doch die Regel ist, warum ändert man nicht die Regel?’
Rìccio hatte meine Gedanken wohl richtig erraten.
„Es sind ja auch manchmal fünfzehn Minuten”, kam mir Dennis dazwischen. Aber es zeigte auch, dass dieser Gedankenflur offensichtlich auch mit drei Beteiligten funktionierte.
Und wahrscheinlich wegen der langen Wartezeit hätten wir fast vergessen, für Rìccio eine Fahrkarte zu lösen. Zu sehr sind wir an unsere Monatskarten gewöhnt.
Die Fahrt war unspektakulär und sogar entspannend, denn anders als sonst hatten wir sogar Sitzplätze.
Am Bahnhof Zoo stiegen wir aus und gingen am Aquarium lang bis wir auf Höhe des KaDeWe rechts in die Nürnberger Straße einbogen. Von dort hatten wir es nur noch ein kleines Stück auf der Tauentzienstraße bis wir vor dem KaDeWe standen.
Ich hatte mich wirklich nur ganz kurz in der riesigen Kosmetikabteilung umgesehen und im Vorbeigehen eine Duftprobe mitgenommen. Aber die beiden waren wie vom Erdboden verschwunden. Da Dennis auf dem Weg in die Feinkostabteilung das Stockwerk mit der Multimedia-Abteilung passieren musste, dachte ich, dass ich meine Verspätung sicher mehr als wettmachen würde auf dem Weg in den fünften Stock.
Ich beeilte mich also nicht zu sehr, sondern hielt im Vorbeigehen meine Augen und Nase auf, ob es noch etwas Neues zu entdecken gäbe, was den Weg auf einen der kommenden Geburtstags- oder Weihnachtswunschzettel finden konnte.
Richtig stolz auf mich war ich, als ich oben ankam, dass ich nicht noch einen Schlenker zu den Taschen gemacht hatte. Aber schließlich hatten wir etwas Wichtiges vor.
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Die Feinkostabteilung ist riesig! Ich kam bei den Käsebrötchen raus und schlenderte durch die Gänge. Zunächst wunderte es mich nicht, dass ich die beiden nicht sah. Die Abteilung ist riesig und neben allerlei exotischen Gemüse- und Obstsorten, gab es jeden erdenklichen Käse zu kaufen. Also welchen zum Essen und solchen, den nur Berlin Touristen ernsthaft in Betracht ziehen zu kaufen. Selbst bei den Broten gab es mehr Auswahl, als man wohl jemals durchprobieren könnte. Es folgten Weinregale und solche mit hochprozentigem Alkohol. Mich faszinierte vor allem welche Preise für manche Flaschen verlangt wurden.
Irgendwann kam ich in eine kühlere Region, in der Frischfleisch zum Verkauf angeboten wurde. Neben den üblichen Sorten auch Wildspezialitäten und eher ungewöhnliche Fleischsorten wie etwa Bärenfleisch.
Ich bin bestimmt nicht sehr geradlinig durch den Gänge gestreift, denn manche Regale sah ich mehrfach, und bestimmt hatte ich einige auch unbemerkt ausgelassen.
Dann sah ich im Übergang zur Fischabteilung plötzlich Dennis, der versuchte Rìccio zu trösten. Beide standen vor einer Tiefkühltruhe und Rìccio sah wie vor Schmerzen gekrümmt aus.
‘Ihr esst auch Schnecken?!’
Der Gedanke traf mich wie ein Schlag. Was ich dann fühlte, war abgrundtiefe Verzweiflung und Trauer. Instinktiv legte ich meinen Arm um seine Schulter.
„Es ist keine übliche Nahrung für uns. In unserer Familie hat so etwas bestimmt noch niemand gegessen”, versuchte ich ihn zu beruhigen. Obwohl ich mir bei Pa gar nicht mal so sicher war, wie ich versuchte, überzeugt zu klingen. Wo der alles schon mit Delegationen hingereist war und was als landestypisch vorgesetzt bekommen hat? Das dumme war nun, dass ich diese Gedanken sicher gar nicht so recht vor Rìccio verbergen könnte. Ich versuchte sie dennoch möglichst schnell beiseite zu wischen.
Dennis blickte etwas irritiert. Solch einen Gefühlsausbruch hätte er seinem neuen coolen Alien-Freund wohl nicht zugetraut.
Langsam trockneten die Tränen.
‘Ich weiß nicht, ob ihr das versteht. Wesen, die ihr Haus mit sich herumtragen, sind eine sehr alte Lebensform und mit uns immer noch verbunden.’
Dennis und ich sahen uns schweigend an. Was sagt man auch dazu?
„Du meinst, weil ihr auch eure organischen Häuser habt?”
‘Vor vielen Milliarden Jahren haben unsere Vor-Vorfahren schon das Weltall bereist. Aber anders als wir haben sie ihre Reste nicht wiederverwertet und mitgenommen, sondern auf den fremden Welten zurückgelassen.’
Ich schluckte. „Du meinst, dass eventuell das Leben auf anderen Welten entstanden ist, weil eure Vor-Vorfahren ihren Abfall auf fremden Welten zurückgelassen haben.”
‘Ja, und auch die Familienmitglieder, die auf der Reise gestorben sind.’
„Wir sind also evolutionsgeschichtlich das Langzeitergebnis einer vor Jahrmilliarden zurückgelassenen toten Großmutter?”
‘Eventuell ja. Vielleicht war es auch nur eine ausgeleerte Toilette. Aber es ist viele Milliarden Jahre her. Auch für uns ist es nur eine Legende.’
Das beruhigte mich dann doch ungemein. Dennis wirkte ebenfalls weiß um seine Nase. Ich zog beide also an den Armen hinter mir her und bugsierte sie zu einem der Kaffeebar-Stände und bestellte drei Espressi.
Die Rückfahrt verlief unaufgeregt und irgendwie wollte wohl auch keiner das Gespräch um tote Omas als eventuelle Keimzellen irdischen Lebens vertiefen.
Nur Dennis murmelte auf der Fahrt vor sich hin: „Und jetzt habt ihr so etwas wie eine ‘Oberste Direktive?’
‘Wir verschmutzen andere Welten nicht mehr, aus Prinzip, ja.’
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Ich saß auf der Terrasse, vor mir eine Karaffe mit kaltem Wasser, Eiswürfeln und ein paar Blättern Minze und einem Spritzer Limettensaft. Vor ein paar Jahren hatten wir auf einer Fahrradtour eine paar Pflanzen Minze entdeckt und dann in unserem Garten eingepflanzt. Der Sandboden hatte den Pflanzen wohl gefallen. Jedenfalls haben sei sich gut ausgebreitet und so sind wir vor einiger Zeit dazu übergegangen, sie auch für Getränke und Desserts zu nutzen.
Gerade hatte ich es mir gemütlich gemacht, den großen Sonnenschirm aufgespannt, mir meinen neuen eBook-Reader geholt und im Online-Shop etwas zum Lesen besorgt. Es ging um irgendeinen geplanten aber nicht realisierten Italien-Urlaub, weil kleine Katzenbabys dazwischen gekommen waren. Das klang mir vertraut, das mit dem Nicht-Urlaub. Doch bevor ich die erste Seite fertig gelesen hatte, sprang ich auf, denn ich wusste auf einmal, dass Chiòcciola an der Tür wartete. Warum ging sie nicht einfach durch den Garten auf die Terrasse. Manchmal ist das mit dem Gedankenübertragen zwar praktisch, aber manchmal auch wieder komisch. Ich stand also auf, ging durch das Wohnzimmer, um die Eingangstür zu öffnen.
Zu meiner großen Überraschung stand dort nicht Chiòcciola sondern Rìccio. Das hatte ich nicht erwartet. Mir kamen die Gedanken so vertraut vor, und Rìccio hatte sich diesbezüglich doch die wenigen Male, die wir bisher zusammengetroffen waren, arg reserviert gezeigt.
‘Es tut mir leid. Gestern haben mir die Schnecken im Tiefkühlfach nur so schrecklich wehgetan. aber ich hätte nicht so reagieren sollen.’
Eigentlich wollte ich ‘Hallo’ sagen. Aber so kam nur ein verstümmeltes „Egal - hallo - macht nichts” aus meinem Mund.
Rìccio schien das nicht zu stören. Nach einer mir endlos erscheinenden Pause bat ich ihn endlich ins Haus und wir gingen auf die Terrasse.
‘Das mit den Tieren mit Panzer auf eurem Grill war schon schrecklich. Aber gestern hat es mich sehr betroffen gemacht.’
„Chiòcciola hat dir davon erzählt?”
‘Das musste sie gar nicht, ich wusste es sofort.’
„Ach ja, bei euch ist das mit dem Gedankentrick ja noch viel wirkungsvoller.”
Ich goss ihm ein Glas Wasser ein. Er nahm es und trank.
‘Aber ich habe Dennis angesehen, dass es keine angemessene Reaktion war.’
„Mir war es sympathisch.”
‘Wirklich? Es gibt doch bestimmt auch bei euch bestimme Muster wie man sich verhalten soll, oder?’
„Du meinst Benimmregeln?”
‘Ja, aber auch etwas anderes. Du benimmst dich zum Beispiel anders als Dennis, obwohl ihr fast gleich alt seid.’
„Jetzt weiß ich, worauf du hinaus willst. Rollen, die Mädchen und Jungen unterschiedlich ausfüllen. Ja, das ist kompliziert. Eigentlich sollte alles gleich sein. Aber im richtigen Leben ist es doch anders und viel komplizierter. Mich nervt zum Beispiel vieles an dem Verhalten von Dennis und seinen Freunden oft total. Aber vielleicht gibt es manchmal - also gelegentlich - auch etwas an meinem Verhalten was ihm nicht gefällt. Aber sicher ist das viel seltener.”
‘Und ich nerve dich mit meinem Verhalten ebenfalls? Das tut mir leid.’
Ich weiß nicht, warum ich an dieser Stelle dann aufgestanden bin und mich hinter ihn gestellt habe und die Hand auf seine Schulter gelegt habe.
„Mir war dein Verhalten gestern nicht nur verständlich, sondern auch sehr sympathisch.”
Und dann fuhr ich ihm noch aus unerfindlichen Gründen mit der Hand durch sein braun gelocktes Haar.
‘Danke!’
Um das Maß der Peinlichkeit voll zu machen, habe ich dann noch gesagt, „Wir können ja mal ein Picknick machen. Das machen Jungen und Mädchen so.”
‘Gute Idee! Was ist ein Picknick?’
Glücklicherweise fasse ich mich in solchen Situationen meist recht schnell und so erklärte ich ein Picknick folgendermaßen:
„Man nimmt eine Decke und bereitet leckere Speisen vor, die man in kleine Plastikdosen packt, die beim Schließen leise furzen, was ältere Frauen so lustig finden, dass sie Partys veranstalten, um solche Dosen zu kaufen. Dann nimmt man noch Getränke mit, sucht sich einen schönen Platz und isst das Ganze.”
‘Das ist eine gute Idee, dann lerne ich auch andere Speisen von euch kennen. Nur, Annika, du musst keine Tiere dafür töten, ich mag sehr gern Obst und Gemüse.
Ich werde auch ein paar von unseren Tuben mitbringen.’
Das war der Moment, an dem ich doch sowohl sprachlos als auch neugierig wurde.
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