Читать книгу Die Chiòcciola-Trilogie - Kiara Borini - Страница 14
Dennis wird erwachsen
ОглавлениеAm Nachmittag beschloss ich, dass ich Dennis über die Vorfälle beim Picknick informieren sollte. Natürlich in einer entschärften Fassung. Selbstverständlich ohne den Kuss. Aber das mit den Pasten und dem Sanddorn sollte er schon wissen. Und dass sein Freund Rìccio künftig nicht mehr in Erscheinung treten sollte. Natürlich ohne zu viel von dem Grund zu verraten, der ihm das Geheimnis entlockt hat.
„Sanddorn? Ja, ist ein großer Vitamin-C-Lieferant. Aber was da auf subatomarer Ebenen passiert, wer weiß das schon. Da fehlt ja selbst den Experten auf diesem Planeten das entsprechende Wissen. Was macht dein Hinterteil? Ist der Dorn noch drin? Soll ich mir das einmal ansehen?”
„Untersteh’ dich!”
Eigentlich sollte es erlaubt sein, jüngere Brüder für solche Vorschläge zu hauen. Das Problem ist nur, wenn der jüngere Bruder größer und stärker ist. Also mussten wieder einmal Argumente helfen.
„Was meint Rìccio eigentlich zu der Idee mit dem Sanddorn?”
„Rìccio weiß noch nichts von meiner Entdeckung. Außerdem, da ist noch etwas. Rìccio und Chiòcciola sind die gleiche Person!”
„Dachte ich mir schon.”
„Wie bitte? Du dachtest dir das schon?”
„Ja, beide heißen ‘Schnecke’. Schnecken sind zwittrige Wesen, die erst im Geschlechtsakt die Rollen festlegen. Dazu haben sie so eine Art Speer, mit dem sie die Rollenverteilung ausfechten.”
„Wirklich? So etwas gibt es auch bei uns?”
„Ja, und wer verliert, wird das Mädchen.”
Ich war sprachlos. Dennis hatte sich schlau gemacht und vor mir erkannt, um was es eigentlich ging. Das mit dem Verlierer-Mädchen gefiel mir allerdings überhaupt nicht.
„Ich musste ja kein Picknick vorbereiten, deshalb hatte ich Zeit zu lesen.”
„Und deine Computerspiele?”
Dennis deutete auf den Bildschirm hinter ihm und erklärte stolz.
„Ich muss nicht mit jedem, der mich herausfordert, aktiv spielen. Für die ersten Level habe ich mir ein Script geschrieben, das fast genauso unschlagbar ist wie ich. Und wenn es jemand doch bis ans Ende der vom Script beherrschten Level schafft, dann muss ich mich eben selbst an den PC setzen. Aber so habe ich Zeit zum Lesen und Nachdenken.”
„Du - nachdenken - worüber?”
„Über dich und Rìccio und den Kuss.”
„Du weißt von dem Kuss?”
„Na ja, Rìccio hat mich gefragt, ob das eine gesellschaftlich akzeptierte Option sei, bei einem Picknick? Und dann natürlich, ob du davon schwanger werden könntest.”
„Rìccio hat dich um Erlaubnis gefragt, ob er mich küssen darf? Und das mit der Schwangerschaft ist doch wohl ein Scherz, oder? Wer weiß das nicht heutzutage, dass das nicht geht.”
„Nicht direkt gefragt, nur so allgemein. Und bei denen funktioniert die Reproduktion wohl durch beliebigen Austausch von Zellmaterial.”
Beliebiges Zellmaterial? Mir wurde ganz heiß und kalt. „Und was hast du ihm - ihr- geantwortet?”
„Auch nur so allgemein, dass es Ethnien auf diesem Planeten gibt, da müsste ich ihn, als dein Bruder, hinterher töten.”
Jetzt war mir klar, warum Rìccio so schrecklich bemüht war, eine Mauer zwischen uns aufzubauen. Ich hätte meinen Bruder würgen können, da fuhr er auch schon fort.
„Dass du von dem Kuss schwanger geworden sein könntest, glaube ich nicht. So etwas ist zwischen verschiedenen Spezies eher die Ausnahme. Mit dem Geschlechtswechsel musst du dir auch keine Sorgen machen. Das ist sogar recht verbreitet, das gibt es nicht nur bei Außerirdischen. Erinnerst du dich an Nemo und seinen Vater?”
„Ja, natürlich!”
„Eigentlich wäre Nemos Vater Nemos Mutter geworden, nachdem diese gestorben ist, aber das wollte man den Kindern wohl nicht zumuten.”
„Erzähl mir mehr!”
„Clownfische leben in langfristigen Beziehungen. Wenn das Weibchen stirbt, dann wir das Männchen innerhalb von einer Woche zum Weibchen.”
„Du meinst er verhält sich wie ein Weibchen?”
„Nein, er wird zu einem richtigen fortpflanzungsfähigen Weibchen.”
„Das bedeutet, dass es bei denen nicht von Geburt festgelegt ist, wer die Kinder bekommt?”
„Nein, und noch interessanter ist ja, dass es wechseln kann. Es gibt übrigens noch andere Tiere bei uns, bei denen das Geschlecht nicht genetisch bestimmt ist, sondern beispielsweise durch die Temperatur beim Brüten. Reptilen und Amphibien zum Beispiel. Ab einer bestimmten Temperaturschwelle entstehen Weibchen, sonst Männchen. Uns noch interessanter: Bei Krokodilen und Schildkröten ist es genau umgekehrt mit der Temperatur.”
„Du bist schrecklich gut informiert bei diesem Thema.”
„Ja, denn es hätte ja auch mich treffen können. Denn ehrlich gesagt, ich finde Chiòcciola schon sehr attraktiv!”
Klasse, dieser Kuss entwickelt eine immer größere Dimension. Jetzt habe ich auch noch die potentielle Freundin von meinem jüngeren Bruder geküsst. Das wird ja immer verwirrender! Und mit dem Alien-Baby auch recht bedrohlich!
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Dennis und ich beschlossen, mit unseren Rädern zu einem Hofladen zu fahren, der sich auf Sanddornprodukte spezialisiert hatte. Chiòcciola/Rìccio hatten wir erst gar nicht gefragt. Zum einen, weil wir so mit den Fahrrädern die etwa 15 Kilometer je Strecke schneller zurücklegen konnten, zum anderen wollten wir auch unseren Kopf frei bekommen. Unsere eigenen Gedanken denken, schien uns auf einmal sehr erstrebenswert.
Der Weg führte auf dem ersten Stück in die Richtung zu der Lichtung. Obwohl wir an einigen Stellen nicht den Weg nahmen, den ich zu Fuß gegangen war, war die Strecke selbst auf Mountain-Bikes recht anspruchsvoll.
Als wir an der Lichtung ankamen, drehte sich Dennis zu mir um uns grinste mich unverschämt an. Ich versuchte ihn einzuholen, was mir aber erst gelang, als der Weg besser ausgebaut war und dann in einem langen Gefälle kurvenreich zu dem Dorf führte, zu dem wir aufgebrochen waren.
Der Hofladen war relativ unscheinbar, aber vollgestopft mit allem, was man wohl aus Sanddorn herstellen konnte. Und das war eine ganze Menge. Am Tresen stand ein Körbchen mit Sanddornbonbons, die zum Probieren ausgestellt waren. Ich konnte nicht widerstehen und war wirklich angenehm überrascht. Fruchtig, nicht zu süß und ohne diese künstlichen Zitrusaromen, die sonst bei Bonbons oft zu finden sind. Sie schmeckten wirklich gut.
Allerdings zeigte uns der Preis auch, dass es vielleicht angezeigt sein könnte, vorab einen Kassensturz zu machen. Wir legten also die Reste von unserem Taschengeld zusammen und prüften, was sich innerhalb unseres Budgets realisieren ließe.
Am Ende verließen wir mit einer Sanddornmarmelade, einem Fruchtsaftkonzentrat und zwei Flaschen Sanddorn-Schorle den Laden und radelten zurück.
Der Weg zurück war anstrengender. Zwar war die Steigung nicht so steil, dafür aber viel länger. Trotzdem ich die Gangschaltung intensiv benutzte, schien kein Gang wirklich passend zu sein und als wir oben bei der Lichtung angekommen waren, deutete ich an, dass ich eine Pause machen wollte. Meine Beine taten mir weh, und ich hatte auch noch gar keine Lust, wieder zurückzukehren. Also legte ich mein Rad auf die Wiese und setzte mich ins Gras. Dennis setzte sich neben mich.
„Die Aussicht ist sehr schön!”
„Ja.”
„Wenn ich eine Gelegenheit gehabt hätte, Chiòcciola zu küssen, hätte ich auch diesen Ort gewählt. - Es tut noch weh, das mit Rìccio, oder?”
„Ja.”
„Was bedrückt dich mehr, dass du Rìccio geküsst hast, und er gleichzeitig eine sie ist, oder dass du ihn überhaupt geküsst hast? Oder dass es sich um ein Alien handelt, bei dem durch Küssen Babys entstehen könnten?”
„Ich weiß nicht. Ich bin ganz durcheinander.”
„Das verstehe ich. Aber andererseits sind andere nie die, für die wir sie halten. Nicht einmal wir selbst wissen doch, was oder wer wir wirklich sind.”
„Na, das ist doch wohl in der Praxis nicht sonderlich schwierig, oder. Du bist ein Junge, ich ein Mädchen. Das sieht man doch wohl. Schwierig ist es doch nur, wenn es mit solchen Verwandlungstricks unmöglich wird, das Ganze zu erkennen.”
„Gut, ja. Aber andererseits eiert das IOC, das Internationale Olympische Komitee, seit vielen Jahren enorm rum und drückt sich vor der Frage, wie genau definiert ist, wer als Frau starten darf!”
„Wie kann das eine Frage sein. Das sieht man doch. Vielleicht nicht unbedingt bei den russischen Kugelstoßerinnen, aber sonst, ist das doch recht offensichtlich.”
„Wirklich? Wusstest du, dass bei Hausrindern, die zwei Kälbchen werfen, von denen eins männlich, eins weiblich ist, die Wahrscheinlichkeit, dass das weibliche jemals Nachwuchs haben kann, unter zehn Prozent liegt? Das ist so häufig, dass es sogar einen Namen dafür gibt: ‘Freemartin’.”
„Klasse, jetzt werde ich schon mit Rindviechern verglichen!”
Dennis fuhr unbeirrt fort: „Ursache ist, dass die Blutstammzellen von beiden Embryos sich in der Plazenta vermischen und so das Kuh-Kälbchen in der entscheidenden Phase, wenn die Gebärmutter gebildet wird, soviel Blut mit männlichen Chromosomen hat, dass es nicht dazu kommt, weshalb es keinen Nachwuchs bekommen kann und nie Milch geben wird. Für die Bauern ist das natürlich ein großer Verlust.”
„Wir sind doch ebenfalls gemischte Zwillinge. Du meinst ich bekomme später ebenfalls keine Kinder? Das wird ja immer bescheuerter. Alle vier Wochen Bauchschmerzen und keine Kinder!”
„Beim Menschen sind diese Effekte sehr viel seltener. Und wie du schon sagst, bei dir deutet alles darauf hin, dass es normal funktioniert. Aber umgekehrt, auch ich könnte weibliches Blut in mir haben.”
„Was ist denn noch so, wie es scheint? Irgendwie habe ich seit dem Kuss das Gefühl, dass ich den Boden unter den Füßen verliere.”
„Dann wird dir das wahrscheinlich auch nicht sehr gefallen. Auf Puerto Rico gibt es eine Sippe, in der Mädchen gelegentlich mit Beginn der Pubertät plötzlich zu Jungen werden.”
„Du meinst, die wachsen ganz normal als Mädchen unter anderen Mädchen auf und sind dann über Nacht plötzlich Jungen? - Schrecklich!”
„Nicht über Nacht. Es dauert schon ein paar Wochen. Aber ja, sie waren vorher unauffällig und sind hinterher ebenfalls unauffällig, nur andersherum. - Und ja, ich glaube, dass das eine Menge Freundschaften unter Stress stellt.”
„Das meine ich auch. Ich muss meiner Freundin absagen, dass ich nicht mehr zum Shoppen mitkomme, weil ich plötzlich keinen Minirock mehr benötige sondern einen Fußball. Das bringt doch alles durcheinander!”
„Bestimmt! Aber fällt dir auf, dass du gerade zwei unterschiedliche Ebenen miteinander vermischst?”
„Wieso? Welche Ebenen?”
„Wie dein Körper aussieht und wie du dich verhältst. Das ist doch nicht zwingend deckungsgleich. Wenn du Lust hast, an einem Motorradmotor zu schrauben, heißt das doch nicht, dass du nicht schwanger werden kannst.”
„Dann sagt es aber auch nichts darüber aus, ob ich lieber einen Jungen oder ein Mädchen küsse!”
„Dann haben wir ja sogar schon drei Ebnen. Und eine vierte Ebene wäre noch, wenn dir jemand sagt, was du zu tun hast, nur weil dieser jemand dich in eine bestimmte Gruppe einsortiert.”
„Stimmt. Das hat bei mir eigentlich nie jemand gemacht. Zumindest ist es mir nicht bewusst. Wahrscheinlich habe ich mich eher selbst in eine Gruppe eingeordnet.”
„Das macht bestimmt jeder so. Und was das Küssen anbelangt, höre einfach auf dein Herz. Ich hätte es wahrscheinlich so getan, selbst bei dem, was ich jetzt über unsere Nachbarin weiß.”
„Aber haben die uns nicht an der Nase herumgeführt, als sie mit uns so unterschiedlich umgegangen sind?”
„Es waren nicht zwei, sondern nur eine oder einer. Und ja, Rìccio hat mit mir alles gemacht, was ich mit meinen Kumpels so gemacht hätte. Chiòcciola wahrscheinlich das gleiche, was du mit deinen Freundinnen so tust. Aber hätte ich mit Chiòcciola Videospiele gespielt? Wärest du mit Rìccio shoppen gegangen? Sie haben weniger mit uns gespielt, als uns vielmehr durch das Benutzen unserer Rollenbilder einen Spiegel vorgehalten. Und sie waren für beide von uns in den anderen Rollen attraktiv.”
„Und doch war es eine Person. Was sagt das nun über uns?”
„Ich weiß es nicht! Aber toll sieht sie schon aus, oder?”
Der Rest des Weges ging rasant abwärts und man musste sich gut konzentrieren, um nicht zu stürzen. Das war gut, denn so bekam ich wieder einen klaren Kopf und auch der Fahrtwind war angenehm.
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