Читать книгу Mond der Unsterblichkeit - Kim Landers - Страница 7
2.
ОглавлениеAmber legte ihre Wange an die kühle Wagenscheibe, und sah zum sternklaren Himmel hinauf. Seit dem frühen Morgen befanden sie sich auf dem Weg nach Schottland. Ihre Glieder waren vom langen Sitzen schon ganz steif. Sie sehnte sich danach, endlich anzukommen. Gealach. Was für ein langweiliger Name. Genauso langweilig wie diese Gegend. Selten sah man am Straßenrand ein Haus. Hier existierten nur Moore, Berge, zerklüftete Felsen, Seen und Schafsbauern. Landschaftliche Idylle à la sterbenslangweilig.
Das gleichmäßige Brummen des Motors wirkte einschläfernd. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Sie gähnte und streckte die Beine aus, so weit es der Vordersitz zuließ. Und das war nicht gerade viel. Das Kätzchen schlief zusammengerollt auf ihrem Schoß und schnurrte. Amber warf einen Blick zu Kevin, der glücklicherweise schlummerte. Sein gegeltes Bürstenhaar glänzte im matten Schein der Innenbeleuchtung. Ihr Bruder hatte sie während der Fahrt mit seinen flapsigen Sprüchen genervt. Warum mussten pubertierende Jungs so anstrengend sein? Amber sah zu ihrer Mutter, die noch immer in dem Buch mit dem Titel „Mein Traumprinz“ las. Dieser Anflug von Romantik entlockte Amber ein Schmunzeln. Typisch Mom. Sie war in ihre Lektüre immer so vertieft, dass sie alles andere vergaß. Was las sie nur über einen Traumprinzen, wenn der tollste Mann der Welt, an ihrer Seite saß? Trotz der Geheimratsecken, dem graumelierten Haar, und dem leichten Bauchansatz war Dad noch immer ein attraktiver Mann. So etwas blieb anderen Frauen auch nicht verborgen, weshalb ihre Mutter im letzten Jahr von ihm verlangt hatte, den Job als Teppichvertreter an den Nagel zu hängen.
Über diese Gedanken döste Amber ein und erwachte erst, als ihre Mutter sie stupste, weil sie sich Gealach Castle näherten. Verschlafen rieb sie sich die Augen. Auch Kevin wachte auf und verbreitete sofort schlechte Laune.
„Na endlich. Ey, nicht noch mal so ne lange Fahrt, nicht mit mir. Wir hätten fliegen sollen, first class.“ Knurrend verschränkte er die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund.
Amber betrachtete das Schloss, dessen Konturen sich scharf vom dunklen Nachthimmel abhoben, als hätte sie jemand mit einem spitzen Stift gezeichnet. Gealach Castle, das Mondschloss, thronte imposant auf einem Hügel. Ihm zu Füßen lag Loch Gealach, auf dessen schwarzer Wasseroberfläche sich silbern die Mondsichel spiegelte, und dem Namen alle Ehre machte.
In die mächtige Steinmauer waren kleine, quadratische Fenster eingelassen, die feindselig wie Schießscharten aussahen, und nur im Erdgeschoss vergittert waren. Die Mauer mündete in einen Wehrturm, dessen Zinnen wie spitze Zähne emporragten. Die strenge Architektur des Schlosses erinnerte an ein Gefängnis. Bei dem Gedanken daran, in diesem düsteren Gemäuer gefangen zu sein, lief eine Gänsehaut über ihren Körper. Sie spürte eine dunkle Aura, die das Schloss umgab. Für einen Moment schloss sie die Augen. An diesem Ort hatten Schmerz und Verzweiflung geherrscht. Drohendes Unheil schwebte wie eine schwarze Wolke über den Mauern.
„Oh, Mann, total abgefahren! Wie in nem Horrorfilm“, rief Kevin aus.
„Richtig bedrückend“, bestätigte Amber. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt. Aber die anderen würden sie für hysterisch halten, und behaupten, ihre Fantasie ginge mal wieder mit ihr durch.
Mom starrte auf die Schlosskulisse. „Imposant! Diese wuchtigen Mauern. Die konnte bestimmt keiner einnehmen. Finlay, du hast nicht zuviel versprochen. Dieses Schloss besitzt das gewisse Flair.“
Dad klopfte mit der Faust gegen das Eingangsportal, da nirgendwo eine Klingel zu finden war. Amber schüttelte den Kopf. Okay, hier war also die Zivilisation zu Ende. Wahrscheinlich gab es auch keinen Fernsehanschluss, und Internet gehörte hier noch in Sciencefiction-Filme.
Knarrend öffnete sich ein Flügel des Portals. Ein Mann mit unfreundlicher Miene und schulterlangem, schlohweißem Haar blickte auf sie herab. Er hob fragend die Augenbrauen. Sein dunkler Anzug entstammte einem vergangenen Jahrhundert. Mit einem hageren, bleichen Gesicht über einem weißen Stehkragen wirkte er wie ein Totengräber.
„Sie wünschen?“
„Ich bin Finlay Stern, Sir, der neue Geschäftsführer der Brauerei. Ich wollte zu Mr. Macfarlane. Ist er zu Hause?“
„Ich bin Gordon Macfarlane. Hatte Sie nicht mehr erwartet. Aber wenn Sie nun da sind, kommen Sie rein.“ Macfarlane ignorierte die Hand ihres Vaters und öffnete stattdessen die Flügeltür, um die Familie einzulassen.
„Es tut mir leid, Mr. Macfarlane, dass wir nicht pünktlich heute Nachmittag eingetroffen sind, aber auf der Fahrt mussten wir wegen einer Straßensperre einen großen Umweg fahren. Und dann haben wir ein Schild übersehen und uns verfahren.“ Dad lachte auf, ihm war diese Situation sichtlich unangenehm. Das erste Treffen mit seinem zukünftigen Arbeitgeber, das bereits unter keinem guten Stern stand.
„Hatten Sie Ihre Ankunft für heute avisiert?“
Eine gewisse Feindseligkeit lag in Macfarlanes Stimme, bei der sich Ambers Nackenhaare aufstellten. In Nachbarschaft mit diesem aristokratischen Snob sollte sie sich wohlfühlen? Das von ihrem Vater beschriebene Bild eines gutmütigen Mannes traf jedenfalls nicht zu. Das konnte ja heiter werden. Dad sah seinen neuen Chef irritiert an.
„Verzeihen Sie, Sir, aber wir hatten den Termin bei unserem letzten Telefonat besprochen.“
Macfarlane würdigte ihn keines Blickes, sondern ging voran in die Mitte einer riesigen Halle und bedeutete mit einem Handzeichen, ihm zu folgen. In Amber sträubte sich alles. Das Gemäuer wirkte genauso abweisend wie dieser Macfarlane. Eine gewisse Verschlagenheit lag in seinem Blick, die ihr Furcht einflößte. Die schaurige Aura des Schlosses schien auch ihn in Besitz genommen zu haben.
„Mag sein“, kam es knapp zurück.
Mom schaltete sich ein, und setzte ihr betörendes Lächeln auf, das bislang nie die Wirkung verfehlt hatte. „Mr. Macfarlane, ich kann nur sagen, dass es uns unendlich leidtut, zu so später Stunde einzutreffen. Wir wollen Sie auch nicht länger behelligen, aber wir sind müde. Könnten Sie uns bitte nur unsere Wohnung zeigen?“
„Das wollte ich soeben tun. Folgen Sie mir.“
Sein Gang war hölzern. Das Wort ‚bitte’ schien ein Fremdwort für ihn zu sein. Sicher war er es gewöhnt, ausschließlich Befehle zu erteilen. Seine arrogante Art ließ Amber zweifeln, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen. In ihr regte sich die Hoffnung, Dad würde vielleicht den Job nicht mehr annehmen wollen. Doch stattdessen buhlte er förmlich um die Aufmerksamkeit seines neuen Arbeitgebers. Er eilte Macfarlane hinterher und erzählte von seinem letzten Job in London. Schweigend hörte der Schlossherr zu.
Kevin stieß Amber an. „Der Kerl hat bestimmt was gegen Heavy Metal, wetten? Der sieht genauso zerknittert aus wie seine Vorhänge.“
Sie stiegen eine breite Treppe zu einer Galerie hinauf. Das gedrechselte Geländer mit aufwändigen Schnitzereien, Darstellungen von verschiedenen Blättern der Umgebung, war eine Augenweide. Oben angekommen staunte Amber über die zahlreichen Gemälde, die den Flur zu beiden Seiten flankierten. Es handelte sich um die Ahnengalerie der Macfarlanes. Damen in mittelalterlichen Gewändern, schottische Krieger, die meisten mit auffallend maisblondem Haar. Mit düsteren Mienen sahen die Ahnen auf die Besucher herab.
„Das reinste Gruselkabinett“, gab Kevin flüsternd zum Besten.
Amber hatte das Gefühl, als folgten ihnen die Blicke misstrauisch, und wäre am liebsten schnell vorbei gelaufen. Doch dann hätten ihre Eltern sie wieder als albern bezeichnet. Sie schenkten den Gemälden keine Beachtung, sondern waren in ein Gespräch mit dem Schlossbesitzer vertieft. Amber folgte ihnen in einigem Abstand. Plötzlich hielt Kevin sie am Ärmel fest.
„Sieh dir das mal an“, flüsterte er und deutete auf die Wand neben ihnen.
Ein goldumrahmtes Gemälde, größer als die anderen, zog sie in ihren Bann. Schwarze Augen in einem klassisch schön geschnittenen Gesicht blickten spöttisch auf sie herab. Auf den vollen Lippen lag der Hauch von einem Lächeln. Goldblonde Locken umrahmten den Kopf des jungen Kriegers. Sein muskulöser Oberkörper war unbekleidet. Er trug eine Art schwarze Lederhose und in seinen Händen hielt er Schild und Schwert. Alles an ihm strahlte Dominanz und gleichzeitig Sinnlichkeit aus. Es war die Mischung aus Ästhetik und Gefahr, die Amber an diesem Porträt faszinierte. William Macfarlane, Erbauer von Gealach Castle, stand darunter auf einer goldfarbenen Tafel eingraviert.
Kevin boxte sie gegen den Arm. „Das meine ich doch gar nicht, sondern das.“ „Aua, spinnst du?“ Sie rieb sich die Stelle, an der morgen bestimmt ein blauer Fleck prangen würde, und warf einen ärgerlichen Blick zu ihrem Bruder.
„Sorry“, sagte er kleinlaut. Dann hob er seinen Arm und deutete auf ein anderes Bild.
Auf dem Gemälde war eine Landschaft zu sehen. Sie erkannte ein Hügelgrab, das in helles Licht getaucht war, was sie an Darstellungen christlich heiliger Orte erinnerte.
„Sieht fast so aus wie der Stall von Bethlehem“, sagte Kevin und kicherte. „Das passt gar nicht hierher, zwischen diese Zombies.“
„Sei nicht so respektlos“, wies sie ihn zurecht. Du kannst froh sein, dass Mom das nicht gehört hat. Komm, wir sollten ihnen lieber folgen, sonst dürfen wir uns einen Vortrag anhören.“
Macfarlane führte sie eine Treppe hinauf zu einem anderen Flügel des Schlosses, der mit dem Haupttrakt durch einen Wehrgang verbunden war. Im Vorbeigehen spähte Amber durch die Schießscharten. Wieder drängten sich Bilder in ihr auf. Blut rann an den steinernen Wänden hinunter, begleitet von den Schreien Sterbender. Ein Zittern erfasste ihren Körper.
Macfarlane schloss eine Holztür auf, die ihm knarrend entgegen sprang. Zunächst erwartete Amber den Anblick eines nüchtern eingerichteten Raumes. Doch zu ihrer Überraschung betraten sie im Schein brennender Fackeln einen quadratischen Raum, an dessen weiß gekalkten Wänden Dudelsäcke hingen. Zu ihren Füßen lag ein Schafwollteppich, in dem man knöcheltief versank. Ein eichener Schrank mit einem aufgemalten Entenidyll war der Blickfang. Dieser Raum strahlte eine unerwartete Behaglichkeit aus, und stand im krassen Gegensatz zur Einrichtung des Haupttraktes, den Macfarlane nutzte.
„Oh, wie wundervoll!“ Mom konnte ihre Begeisterung nicht verbergen, und presste die Hände an ihre geröteten Wangen.
„Meine Frau war Innenarchitektin und hat die Einrichtung dieses Flügels entworfen“, erklärte Macfarlane.
„Das trifft genau unseren Geschmack, nicht wahr, Finlay? Wir werden uns hier sicher wohlfühlen, Mr. Macfarlane. Vielen Dank.“
Angesichts Moms übertrieben gezeigter Freude verdrehte Amber die Augen. Die wollte nur Pluspunkte für Vater sammeln. Aber auch sie musste gestehen, dass die Wohnung ihre Erwartungen übertraf. Überall spürte man die Hand einer Frau. In den verspielten Motiven der Dekoration, wie in den Blümchenmustern der Tapete oder dem großen Himmelbett, das Amber von nun an ihr Eigen nennen konnte.
„Im Erdgeschoss ist ein separater Eingang. Weitere Fragen morgen. Ich werde mich jetzt zu Bett begeben. Stern, ich erwarte Sie morgen früh um neun in der Brennerei, im Büro. Gute Nacht.“ Bevor Macfarlane die Tür schloss, legte er einen Schlüsselbund auf den kleinen Beistelltisch in der Diele. „Die Schlüssel für Ihre Haustür und den Keller.“ Schon verschwand er hinter der Tür, durch die sie vorhin getreten waren. Er schloss hinter sich ab, als befürchtete er, belästigt zu werden.
Amber wachte auf, als sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die leichten Vorhänge bahnten. Das Kätzchen, das sie Morgaine genannt hatte, lag zu ihren Füßen und blinzelte sie verschlafen an.
Amber räkelte sich in dem pastellfarbenen Himmelbett mit den vielen Kissen, das herrlich bequem war. Sie hatte unruhig geschlafen. Immer wieder träumte sie von Blut und hörte Schreie.
Gähnend stand sie auf, und öffnete die Vorhänge. Sie liebte die Morgenstimmung, wenn das Leben allmählich erwachte. Der Ausblick aus dem Fenster war atemberaubend. Zu ihren Füßen lag der Loch Gealach. Eine Schar Enten flog über ihn hinweg, um im Uferschilf zu landen. Das grauschimmernde Wasser kräuselte sich wie ein Waschbrett. Auf der linken Seite schmiegte sich der Wald wie ein grüner Teppich an den Hügel, auf dessen Kuppe ein einzelner Menhir stand. Wie ein warnender Finger reckte er sich aus dem Grün. Amber verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.
Der Anblick erschien ihr vertraut. Sie erinnerte sich, ein ähnliches Foto in dem Bildband gesehen zu haben, den sie von den Freundinnen zum Abschied geschenkt bekommen hatte. Er befand sich noch im Koffer. Sie zog ihn heraus und blätterte, bis sie das Foto fand.
Der Menhir gehörte zum Steinkreis von Clava Cairn, einer Grabhügelanlage.
„Clava Cairn, Clava Cairn“, murmelte Amber vor sich hin. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal in einem anderen Zusammenhang gelesen. Sie wühlte wieder im Koffer, bis sie ein in Leder gebundenes Buch herauszog, das sie in einem Londoner Antiquariat gekauft hatte. Es war ein besonders wertvolles Stück. Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben, über keltische Legenden. Amber schlug das Kapitel „Die Legenden von Clava Cairn“ auf.
An den Festen des Mondes öffnet sich an diesem Ort das Tor zur Anderswelt.
Dieser letzte Satz hallte in ihrem Kopf nach, nachdem sie das Buch zugeschlagen hatte. Lange saß sie am Fenster und blickte zu dem Menhir hinauf. Obwohl im Zimmer warme Temperaturen herrschten, begann sie zu frösteln. Sie zog die Knie an, und schlang die Arme darum. Wie gestern, als sie den Wehrgang hinter sich gelassen hatten, beschlich sie ein ungutes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Irgendetwas Bedrohliches schwebte über dem Schloss und dieser Gegend.