Читать книгу Mond der Unsterblichkeit - Kim Landers - Страница 8
3.
ОглавлениеEine Woche war vergangen. Der Alltag hatte Amber eingeholt. Fast, denn noch waren Semesterferien. Der Start an der neuen Uni stand erst bevor. Gleich schossen ihr unzählige Fragen durch den Kopf, was sie dort erwartete. Nein, besser nicht darüber nachdenken, sondern alles auf sich zukommen lassen, entschied sie. Aber sie langweilte sich. Ihr fehlten die Freundinnen und Unternehmungen. Alle kulturellen Einrichtungen waren zu weit entfernt, und allein machte nichts Spaß. Zum ersten Mal seit Jahren sehnte sie den Schulanfang herbei.
Umso mehr freute sie sich darüber, wenn ihr Vater mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen früh das Haus verließ, und abends ebenso gut gelaunt zurückkehrte. Das wirkte ansteckend. Selbst ihre Mutter sprühte vor Elan. Sie ging darin auf, den Räumen mit Accessoires eine eigene Note zu verleihen.
Nur Kevin war der Alte geblieben, und verbrachte die meiste Zeit wie üblich vor dem Computer mit Online-Spielen.
In den Tagen bis zum Semesterbeginn erkundete Amber die Gegend um Gealach. Nur Clava Cairn ließ sie aus. Eine Scheu hielt sie davon ab. Erst am letzten Ferientag, einem nebligen Spätsommermorgen, beschloss sie, doch den Hügel nach Clava Cairn hinaufzugehen. Weil es in Schottland weitaus kühler war als in London, streifte sie die Jeansjacke über. Hier war eben alles anders, die Natur rauer, die Luft kühler, und die Menschen verschlossener als sie es vom quirligen London gewöhnt war. Ein kräftiger Wind schlug ihr entgegen, als sie am Ufer des Loch Gealach entlang stapfte, um den Trampelpfad zu erreichen, der zur Hügelkuppe führte. Im Vorbeigehen scheuchte sie eine Schar Enten auf, die sich am Ufer niedergelassen hatte. Quakend flatterten sie davon.
Amber beobachtete einen Haubentaucher, der im Wasser gründelte, bis ihn der Nebel verschluckte. Das seichte Plätschern des Wassers, und die natürliche Idylle wirkten beruhigend. Doch als sie sich dem Wald näherte, begann ihr Herz schneller zu klopfen. Sie schalt sich hysterisch und ging energischen Schrittes weiter. Bevor sie den Trampelpfad betrat, drehte sie sich um, und sah zum Schloss zurück. Aber das verbarg sich hinter der inzwischen dichter gewordenen Nebelwand. Nur die Spitze des Wehrturms lugte heraus. Amber hatte den Anstieg unterschätzt. Der Boden war glitschig. Immer wieder rutschte sie aus. Nach der Hälfte der Strecke krampften ihre Waden, weshalb sie eine Pause einlegen musste. Was für eine blöde Idee.
Sie überlegte, umzukehren, doch dann trieb die Neugier sie weiter. Schließlich erreichte sie nach einer Weile die Lichtung, in dessen Mitte sich der Steinkreis befand. Atemlos näherte Amber sich den aufrechtstehenden Menhiren, die wiederum den Steinkreis umrahmten. Die Bäume hinter dem Steinkreis verschwanden im Nebel, sodass man glauben konnte, diese Stätte sei eine Insel im Nirgendwo. Hatte sie nicht eben einen vorbeihuschenden Schatten gesehen? Ein Flüstern gehört? Sie zuckte zusammen. Amber spürte die Kräfte, die von diesem Ort ausgingen, als unangenehmes Prickeln auf der Haut. Sie entschloss sich zur Rückkehr, doch etwas sog sie fest, ihre Beine klebten am Boden, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Sie sackte mit dem Hinterteil auf die Steine. Was war mit ihr los? Noch immer drehte sich alles. Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, das Schwindelgefühl möge vorübergehen.
Amber schrak zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Sie hatte keine Schritte gehört.
„Entschuldigen Sie bitte, Miss, ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich dachte, Sie bräuchten vielleicht Hilfe.“
Die Stimme des Mannes klang freundlich und voller Mitgefühl. Amber sah zu ihm auf. Sofort fielen ihr die über der Nasenwurzel zusammengewachsenen, grauen Augenbrauen des Alten auf, die auf den ersten Blick einen strengen Eindruck vermittelten. Aber der warme Ausdruck in seinem Blick milderte dies. Sein wettergegerbtes Gesicht zeugte von häufigem Aufenthalt im Freien. Amber schätzte ihn auf siebzig, vielleicht auch älter.
„Schon gut, es geht schon wieder. Mir war nur einen Moment schwindelig. Liegt wohl an dem Aufstieg und der ungewohnten Anstrengung auf dem matschigen Boden.“ Amber wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn.
„Sie kommen von Gealach Castle, Miss?“ Es blitzte interessiert in seinen grauen Augen auf, während er lächelte.
„Ja.“
„Sind Sie ein Gast der Macfarlanes, Miss?“
Amber schüttelte den Kopf. „Nein, mein Vater ist der neue Geschäftsführer der Brennerei.“
„Dann sind Sie die Stern-Tochter?“ Er lachte rau und rieb sich mit der Hand über den Stoppelbart, was ein kratzendes Geräusch verursachte.
„Stimmt genau. Kennen Sie meinen Vater?“
„Nein, aber hier in unserem kleinen Ort spricht sich alles schnell rum. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist Ambrose Hornby, aber alle nennen mich Hermit, der Eremit.“
Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie fühlte sich warm und wider Erwarten bei einem Mann seines Alters fest und fleischig an. Doch sie spürte auch die Verdickungen an seinen Fingern. Als hätte er ihre Gedanken gespürt, streckte er ihr seine Hände entgegen.
„Gicht. Sie hat sich über Nacht in meine alten Knochen geschlichen. Muss damit Leben.“
„Meinen Namen kennen Sie ja schon.“ Sie lächelte schief. Amber wollte aufstehen, doch sie begann erneut zu schwanken und sank zurück.
„Haben Sie Geduld, das vergeht gleich wieder. Liegt an dieser Aura, diesem bösen Ort.“ Er blickte sich ängstlich um, als erwarte er, irgendjemand nähere sich, um ihn am Kragen zu packen.
„Böser Ort? Ich dachte, das hier sei eine Grabstelle, ein Ort des Friedens.“
„Ist es. Und noch viel mehr.“
„Sie sprechen in Rätseln, Mr. Hornby.“
„So nennt mich hier niemand. Nennen Sie mich Hermit. Passt schon.“
„Also gut, Hermit, ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen. Liegt hier vielleicht ein Massenmörder begraben oder ist der Platz verflucht?“ In Ambers Kopf spielten tausend Teufelchen auf der Pauke und verursachten Migräne.
„So in etwa. Passt schon.“
Amber stöhnte auf. Sie wollte nach Hause zurück, und sich nicht mit diesem seltsamen Hermit unterhalten. „Ich muss jetzt gehen“, sagte sie und erhob sich. Zwar schwankte sie noch ein wenig, aber sie fühlte sich nicht mehr so benommen. Er hielt sie am Arm zurück.
„Ich möchte Sie nur warnen“, raunte er.
„Wovor?“ Amber versuchte, sich seinem Griff zu entziehen.
„Vor Macfarlane.“
„Aber weshalb?“
„Das werden Sie bald selbst herausfinden.“
Hermits Worte brachten in Amber eine Saite zum Klingen, die unangenehme Schwingungen auslöste. Dennoch wollte sie ihm nicht zeigen, wie sehr er sie verunsichert hatte. Amber spielte mit den Knöpfen ihrer Jacke. Vielleicht war dieser Hermit nur geistig verwirrt? Oder abergläubisch?
„Halten Sie Augen und Ohren offen. Ich möchte Sie nur warnen.“
Hermit ließ sie endlich los. Plötzlich wirkte seine Miene versteinert, und sein Blick richtete sich ins Leere. Die Begegnung wirkte so irreal, dass sie zu träumen glaubte. Nur seine Gegenwart holte sie in die Realität zurück.
„Danke, aber ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“
„Versprechen Sie mir, Miss, dass Sie an Halloween nicht heraufkommen werden?“
Amber zweifelte an seinem Verstand. Der Alte hatte wohl zu viele Gruselfilme gesehen. Doch das Flehen in seinem Blick bezeugte, dass seine Bitte ernst gemeint war. „Hermit, es ist wirklich rührend, wie Sie sich um mich sorgen, aber bitte glauben Sie mir, dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Außerdem bin ich kein Freund von Halloween, wenn es Sie beruhigt. So, aber jetzt muss ich wirklich nach Hause, sonst geben meine Eltern noch eine Vermisstenanzeige auf. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Leben Sie wohl.“
Diese düstere Stimmung, die auch Hermit verbreitete, missfiel Amber. Sie lief auf den Trampelpfad zu, der hinab zum Loch führte. Sie drehte sich noch einmal kurz um, um dem Alten zuzuwinken, aber dieser war bereits im Nebel verschwunden. Nachdenklich stieg Amber den Hügel hinab. Sie hatte die Worte des Alten nicht hören wollen, weil er ihre Empfindungen spiegelte. Sie legte die deprimierende Stimmung erst ab, als sie das Schloss betrat.
Morgen begann ihr erster Tag in der neuen Uni. Sie fühlte sich etwas beklommen, die vertrauten Gesichter würden ihr fehlen. Sicherlich konnte diese kleine Universität nicht mit der renommierten in London konkurrieren, dennoch hoffte sie auf ein abwechslungsreiches Studienangebot.
Es war ihr zur abendlichen Gewohnheit geworden, sich in den Sessel ans Fenster zu setzen, und in die Dunkelheit hinauszusehen. Sie nahm gerade Platz, als ihr Vater eintrat.
„Na? Wie geht es meiner Großen?“
Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Die Brille steckte in seiner Jacketttasche und seine Kleidung roch nach Alkohol.
„Hallo, Dad, gut.“
Selbst in ihren Ohren klangen die Worte wenig überzeugend. Er kam auf sie zu und beugte sich zu ihr herunter.
„Du kannst mir nichts vormachen. Es ist wegen morgen, nicht wahr? Ich weiß, dass ich viel von dir verlangt habe, als ich den Job annahm, und dich damit zwang, die Uni zu wechseln. Aber ich habe Schulden und wir hätten aus der Wohnung ausziehen müssen …“
„Du brauchst mir das nicht zu erklären, Dad. Ich mache dir keine Vorwürfe, ehrlich. Ein guter Studienabschluss ist mir nur sehr wichtig, und ich stand in London so kurz davor.“
„Ich weiß. Doch ich bin davon überzeugt, dass du auch das mit Bravour auch hier schaffen wirst. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Er strich ihr liebevoll über das Haar. Amber ergriff seine Hand und drückte sie.
„Danke für dein Vertrauen, Dad.“
Er lächelte. „Übrigens sind wir heute Abend zu Mr. Macfarlane zum Essen eingeladen. So in einer halben Stunde.“ Er wandte sich zum Gehen.
Amber stöhnte innerlich auf. Nach der Begegnung mit Hermit war ihr Macfarlane noch unsympathischer geworden. „Ach, Dad, kann ich nicht hierbleiben?“
„Wir wollen doch meinen Chef nicht verärgern. Sein Sohn wird vielleicht mit uns essen. Vielleicht ist er ja dein Typ?“ Er zwinkerte ihr zu.
„Dad!“ Sie warf ein Kissen nach ihm, das er lachend auffing.
„Seit der Sache mit Charles bist du nur noch selten ausgegangen. Du solltest dich nicht nur hinter deinen Büchern vergraben, sondern das Leben genießen.“
Dann warf er das Kissen zurück, und schloss die Tür.
Amber verspürte nicht die geringste Lust den Abend am Tisch dieses sonderbaren Macfarlane zu verbringen, nur Dad zuliebe folgte sie der Einladung. Moms übertriebene Aufregung wegen des Essens ging ihr auf die Nerven. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft.
Draußen war es dunkel, der Himmel wolkenverhangen. Süßer Blütenduft aus dem Garten wehte herüber. Der kühle Wind ließ sie frösteln, tat aber gut. Stille. Alles wirkte so friedlich, und doch konnte dieser Eindruck nicht das Echo der Verzweiflung und Furcht unterdrücken, das die dicken Mauern bargen. Sie hörte ein Flüstern, das aus jeder Mauerritze zu dringen schien, als wollte ihr das alte Gemäuer von seiner schrecklichen Vergangenheit erzählen.
„Verloren, wir sind verloren“, flüsterten geisterhafte Stimmen. Amber schrak zusammen. Sie fühlte, es waren die Stimmen ruheloser Seelen. Eine Hand an die Kehle gepresst, drehte sie sich im Kreis. Die Stimmen kamen von überall, schlossen sie ein. „Verloren, alle verloren.“ Hier war die dunkle, furchterregende Macht zu spüren, die dieses Schloss seit Langem beherrschte und den gepeinigten Seelen keine Ruhe gönnte, die sich nach Erlösung sehnten.
Amber hielt sich die Ohren zu. Das sind nur Visionen, reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Mein Gott, wie konnte sie sich nur in die Enge treiben lassen? Sie zwang sich, die negativen Schwingungen zu ignorieren. Eine Weile verharrte sie auf der Stelle, bis das Geflüster verstummte. Erleichtert atmete sie auf und folgte langsam dem schmalen Weg an der Schlossmauer entlang. Vor ihr befand sich der Torbogen, auf dem das Wappen der Macfarlanes prangte. Fasziniert sah sie zu dem von Halogenlicht angestrahlten Wappen hinauf, das einen Krieger darstellte, der in der rechten sein Schwert und in der linken Hand eine Krone hielt.
Plötzlich nahm sie seitlich eine Bewegung wahr. Zwei rotglühende Augen fixierten sie aus der Dunkelheit. Ein tiefes, drohendes Knurren folgte. Amber blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie sich ein Körper geschmeidig aus dem Gebüsch schob. Ein Wolf, größer als ein Löwe, baute sich zähnefletschend vor ihr auf. Wilde Wölfe in Schottland? Unmöglich! Und doch stand sie einem gegenüber.
Gefahr, echote es in ihrem Kopf, worauf ihr Herz im Höllentempo Adrenalin durch den Körper pumpte. Das Tier duckte sich und näherte sich ihr im Zeitlupentempo. Im Schein des Halogenlichts erkannte sie das Spiel der Muskeln unter dem dunklen Fell. Panik stieg in ihr auf, wenn sie an die vielen Schlagzeilen dachte, die von Kampfhunden berichteten, die Menschen angefallen hatten. Und dieses Exemplar war nicht nur groß, sondern auch angriffslustig. Langsam, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, ging Amber Schritt für Schritt rückwärts. Jeden Moment rechnete sie damit, dass es ihr an die Kehle springen würde. Bei einem Raubtier dieser Größe hatte sie keine Chance zu entkommen.
Schon setzte der Wolf zum Sprung an. Amber wich nach hinten aus und stieß zu ihrem Entsetzen mit dem Rücken gegen die Mauer. Wie gelähmt beobachtete sie jede Bewegung des Tieres, was ihr die Situation nicht gerade erleichterte. Zu spät. Tränen schossen in ihre Augen. Die riesigen Reißzähne des Wolfes schimmerten wie Elfenbein und waren beeindruckend groß. Zitternd erwartete sie seinen Angriff. Wie hypnotisiert starrte sie in die rotglühenden Augen, die ihren Blick festhielten. Die Pupillen erweiterten sich und ihr Geist versank darin, tauchte in eine Welt unvorstellbarer Grausamkeit ein. Die Szenen, die sich im Zeitraffer vor ihr abspulten, waren beängstigend real. Sie sah, wie der Wolf sich auf ein Mädchen stürzte. Seine Fangzähne verbissen sich in ihrer Kehle und zerfetzten diese in seiner Blutgier. Die Arme des Mädchens, die eben noch versucht hatten, die Bestie von sich zu stoßen, sanken schlaff herab. Der Blick des Mädchens war starr. Dann wechselte das Bild abrupt. Auf einem steinernen Altar lag ein Mann mit angstgeweiteten Augen. Seine nackte Brust war blutbesudelt und mit unzähligen, tiefklaffenden Wunden übersät. Das Blut schoss in einer Fontäne aus seiner Halsschlagader, das ein Mann in weißer Kutte mit einem Pokal auffing. Amber ahnte, er würde das Blut des Geopferten trinken wollen. Von Entsetzen gepackt, versuchte sie sich von diesen Bildern zu befreien, aber irgendeine Kraft kontrollierte ihr Hirn.
Plötzlich hörte sie einen schrillen Pfeifton, der von einer Art Flöte stammte. Die entsetzlichen Szenen verschwanden wie bei einem Filmriss. Benommen erkannte sie das Rucken, das durch den Körper des Wolfes ging. Ehe sie es sich versah, verschwand er jaulend in der Dunkelheit. Ambers Blick fiel auf einen Mann in weißer Kutte, der im Torbogen stand. Sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Er hielt einen hölzernen Druidenstab in der Hand. Eine Aura des Bösen umgab sie, die von dem Mann in der weißen Kutte ausging, und schnürte ihr die Kehle zu. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war er verschwunden, wie ein Trugbild, das sich in Nichts auflöste. Sie wusste nur eins: Sie musste hier weg. Womöglich kehrte die Bestie zurück. Wie von Furien gehetzt, rannte sie zum Hauptportal des Schlosses zurück. Atemlos erreichte sie die Stufen, hastete hinauf und klopfte ans Tor.
Bei Tisch herrschte eine gespannte Atmosphäre. Gordon Macfarlane wirkte noch mürrischer als sonst und war wie immer kurz angebunden. Amber dachte an die Szene vorhin. Die Furcht saß ihr noch immer in den Gliedern, aber sie hatte niemandem etwas davon erzählt. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Zittern, das ihren Körper durchlief. Wer hätte ihr auch schon die Geschichte von einem Wolf abgekauft, hier in Schottland, wo es seit Urzeiten keine mehr gab?
Ihre Eltern bemühten sich ein Gespräch aufrecht zu erhalten, an dem weder sie noch Kevin sich beteiligten. Letzterer stocherte nur lustlos im Essen herum, und fixierte den Gastgeber misstrauisch aus den Augenwinkeln.
„Mr. Macfarlane, es ist zu schade, dass Ihr Sohn nicht mit uns essen kann. Wir hätten ihn sehr gern kennengelernt.“ Mom tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, und lächelte.
„Hm. Andere Sachen sind ihm wichtiger als sein Vater.“ Macfarlane schnaubte.
„Ach, das ist es bestimmt nicht, junge Leute sind manchmal gedankenlos“, versuchte Mom ihn zu beschwichtigen.
„Sie kennen ihn nicht. Er ist ein Träumer, dem jeglicher Bezug zur Realität fehlt.“
Amber sah erschrocken zu Macfarlane, der seine Gabel in das Roastbeef stach, als wolle er es noch einmal ermorden. Wieder spürte Amber die unangenehmen Schwingungen, die von Macfarlane ausgingen, wie oben beim Steinkreis. Hermits Warnung ging ihr erneut durch den Kopf.
„Aber ist das nicht das Vorrecht der jungen Generation?“ Obwohl ihre Mutter den Sohn nicht kannte, schien sie ihn verteidigen zu wollen.
„Er ist fast dreißig Jahre alt und kein Teenager mehr, Mrs. Stern. Ich will jetzt nicht mehr über diesen Taugenichts reden.“ Zur Bekräftigung schlug er mit der flachen Hand auf die Tischkante.
Amber schüttelte innerlich den Kopf. Ein Vater, der so schlecht über seinen Sohn sprach, war keinen Penny wert. Sie sehnte das Ende des Essens herbei, und stand gleich nach dem Dessert auf, froh, dieser bedrückenden Atmosphäre nach dem emotionalen Ausbruch des Gastgebers entfliehen zu können. Dieser Macfarlane gewann bei ihr keinen Sympathiepunkt.
Als Amber ihren Eltern später ihre Empfindungen über Gordon Macfarlane mitteilte, überraschte sie deren heftige Reaktion.
„Amber, komm mir bloß nicht wieder mit diesem ich-kann-seine-negative-Aurafühlen-Geschwätz. Ich dachte, das Thema hätten wir ein für alle Mal ausdiskutiert“, echauffierte sich Mom. Sofort verstand Amber die Anspielung auf ihre Fähigkeiten, Empfindungen anderer zu spüren. Es war der einzige Punkt, an dem ihre Eltern sie nicht verstanden. „Mr. Macfarlane hat sich nur über seinen Sohn geärgert. Vielleicht hat er ja auch recht, und der ist wirklich nur ein Tagträumer. Schließlich braucht er einen Erben, der sich um alles kümmert, das Schloss, die Brauerei. Das bedeutet Verantwortung. Und das könnte man von einem Dreißigjährigen weiß Gott erwarten.“
Amber konnte nicht verstehen, weshalb ihre Mutter diesen griesgrämigen Schlossbesitzer auch noch in Schutz nahm.
„Macfarlanes Sohn hat sich tatsächlich nicht einmal in der Brennerei sehen lassen, obwohl er gestern hier gewesen sein soll. Ein wenig mehr Interesse an der Arbeit seines Vaters könnte der wirklich zeigen“, tutete ihr Vater ins gleiche Horn. „Ich kann verstehen, wenn es Macfarlane bedrückt, dass sein Sohn sich nicht für das Familienunternehmen interessiert, und dass, wo es sich schon seit mehreren Generationen im Besitz der Familie befindet.“
Amber zog es vor, zu schweigen. Gerade von Dad hätte sie mehr Menschenkenntnis erwartet. Sie fühlte sich müde und ging in ihr Zimmer.