Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 10
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ОглавлениеDer Bus setzte uns schließlich dort ab, wo er uns am Freitag aufgelesen hatte, und ich ging den Rest meines Heimweges zu Fuß.
Wir wohnen in einem Reihenhaus. Im letzten von zehn total identischen kleinen roten Häusern, Haus – Garage, Haus – Garage, Haus – Garage, in der ganzen Straße. Es ist nicht ganz so öde, wie es sich anhört, auch wenn an diesem Tag alles ungewöhnlich langweilig und sonntäglich trist aussah.
Wir waren erst vor zehn Monaten dort eingezogen. Vorher hatten wir in einer Wohnung in einem älteren Zweifamilienhaus gelebt, und wir waren gern umgezogen. Wir hatten jetzt mehr Platz, und das Haus war viel besser eingerichtet.
Auf dem Weg zu unserem Haus überlegte ich, ob ich an den Strand gehen oder ein paar Stunden schlafen sollte. Ich wurde langsam müde, aber es kam mir einfach nicht richtig vor, bei diesem schönen Wetter im Haus herumzuhängen, man wußte ja nicht, wie lange es anhalten würde, und außerdem schlafe ich auch nicht gern tagsüber.
Das Haus wirkte leer und verlassen, als ich in die Diele kam, und ich nahm an, daß meine Mutter und Rikke am Strand wären. Aber als ich die Tür zu meinem Zimmer aufmachte, rief meine Mutter: »Bist du das, Claus?«
»Ja, wo steckst du?«
»In der Küche. Komm, laß dich ansehen!«
Sie schien zu erwarten, daß ich mich in den beiden Tagen bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte.
Sie saß am Tisch in der Eßecke und nähte.
»Du nähst?« rief ich überrascht, weil das eigentlich nicht ihre starke Seite ist. »Warum bist du nicht an der frischen Luft? Ich dachte, ihr wärt am Strand!«
»Rikke ist auch gegangen. Und gestern waren wir fast den ganzen Tag am Strand. Das hat mir gereicht. Ich hab’ mich dermaßen verbrannt, daß ich heute nacht im Stehen schlafen mußte. Ist das nicht schwachsinnig? Wenn du meinen Rücken anfaßt, dann schrei’ ich.«
Ich hatte ihren Rücken schon jahrelang nicht mehr angefaßt, dann tickte sie nämlich immer total aus. Mit fünfzehn, sechzehn Jahren hatte es mir ein ganz gemeines Vergnügen bereitet, ihr auf die Schulter zu schlagen oder einen Stoß in den Rücken zu verpassen, aber das hatte sie mir schnell wieder abgewöhnt. »Das kannst du mit deinen Kumpels machen«, hatte sie dann gefaucht. »Du weißt ja gar nicht, wie hart du schlägst.«
»Was nähst du denn da?«
»Diesen elenden Duschvorhang, siehst du das nicht? Der ganze Saum ist aufgerissen.«
»Das ist er doch schon lange.«
»Ja, aber er näht sich nicht von allein, oder? Und ich hab’ bisher weder Zeit noch Lust gehabt, mich darum zu kümmern. Es dauert eine Ewigkeit, so was mit der Hand zu nähen.«
»Warum hast du Mo-Mo nicht darum gebeten?«
»Weiß ich nicht. Dann müßte ich ihn ja erst mal rüberbringen, und jetzt – jetzt ist er jedenfalls genäht, fast wenigstens.«
»Es ist aber auch zu blöd, daß du keine Nähmaschine hast.« »Nein, um Himmels willen, was sollte ich denn mit so einem Monstrum? Dann müßte ich ja ständig nähen. Normalerweise übernimmt doch sowieso Mo-Mo alles hier im Haus, was genäht werden muß.«
Das stimmte. Mo-Mo ist meine Großmutter, und sie ist verdammt geschickt. Sie näht sehr gern, und sie kann es auch gut, deshalb ist es immer Mo-Mo, die unsere Hosen länger oder kürzer macht, neue Reißverschlüsse einnäht und so. Es ist seltsam, daß meine Mutter in dieser Hinsicht überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr hat. Ich habe viele Jahre lang geglaubt, alle Frauen würden gern nähen und meine Mutter sei in dieser Hinsicht etwas unnormal.
Jetzt musterte sie mich.
»Und, hast du ein schönes Wochenende gehabt?« fragte sie. »Du siehst ein bißchen kaputt aus.«
»Bin ich auch. Ich hab’ heute nacht nicht geschlafen, aber sonst war es wohl ziemlich gut.« »Es war wohl ziemlich gut«, wiederholte sie. »Das klingt aber nicht überzeugend.«
»Das war nicht so gemeint, es war wirklich gut. Sehr gut. Anders.« »Nun erzähl schon. Muß ich dir wirklich jedes Wort aus der Nase ziehen? Fang mit dem Anfang an. Mußtest du denn jetzt bei ihrer Großmutter schlafen?«
Ich lachte. »Erstens ist das ein ziemlich trüber Gedankengang von dir, zweitens haben wir überhaupt nicht geschlafen, und drittens habe ich nicht bei ihrer Großmutter geschlafen, weil sie nämlich keine hat. Und sie hat auch keinen Großvater, keinen Onkel, keine Tante oder sonstwen. Nein, das ist gelogen, sie hat einen Onkel, aber mit dem redet sie nicht mehr.«
»Warum nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wegen einer alten Familienfehde, glaube ich, aber genau weiß ich es nicht.«
»Hat sie denn wirklich überhaupt keine Familie? Irgendwen muß sie doch haben!«
»Warum muß sie das? Ihre Großeltern sind tot, sie hat keine Geschwister, und ihr Vater hatte auch keine. Ihre Mutter hatte nur den einen Bruder, mit dem Hannah wie gesagt keinen Kontakt hat, also ... keine Familie, keine Probleme.«
»Arme Kleine! Heißt das, daß sie mutterseelenallein da draußen haust?«
»Nein, sie hat ihre Ayah, und außerdem kommt jeden Tag ein Gärtner.«
Mutter sah mich überrascht an. »Ihre ›Ayah‹? Das ist doch ein indisches Kindermädchen, oder nicht?«
»Ja«, sagte ich. »Woher weißt du das?«
Sie lächelte mich nachsichtig an. »So was weiß man einfach, mein Junge. Aber wovon lebt sie? Am Hungertuch nagt sie ja wohl nicht gerade, wenn sie eine Ayah und einen Gärtner hat.«
»Nein, auf Sozialhilfe ist sie absolut nicht angewiesen. Sie hat haufenweise Geld. Ihre Eltern waren reich, und ihr Vater war noch dazu an Kopf und Hintern versichert, und er ist ja bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.«
»Das hast du schon erzählt. Aber wer kümmert sich um alles?« »Keine Ahnung. Das meiste erledigt sie wohl selber, und vielleicht hat sie irgendeinen uralten Familienanwalt, der sich um die Finanzen kümmert.«
»Trotzdem muß es ein seltsames Leben sein«, meinte Mutter nachdenklich. »Einfach gar niemanden zu haben.«
»Manchmal ist das vielleicht sehr lustig«, widersprach ich. »Und sie hat ja die Ayah.«
»Hm«, brummte Mutter und zündete sich eine Zigarette an.
»Du rauchst zuviel«, sagte ich automatisch. Das sage ich immer, wenn sie sich eine ansteckt, es ist fast schon ein Reflex geworden. »Weiß ich doch«, antwortete sie. Das tut sie jedesmal, aber es hilft überhaupt nicht. »Was habt ihr gemacht?«
»Alles mögliche. Gegessen und getrunken, über die Schule gequatscht und noch mehr gefressen und getrunken. Im Schwimmbecken herumgeplatscht und ...«
»Gab’s da auch ein Schwimmbecken?«
»Da gab’s einfach alles.«
Ich riß mich zusammen und beschrieb ihr das Haus und die Ereignisse des Wochenendes – nur in großen Zügen natürlich, man soll seinen Eltern schließlich nicht alles erzählen.
»Heißt das, daß du letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen hast?« fragte sie erschüttert, als ich meinen Bericht beendet hatte. Sie starrte mich an, als ob sie damit rechnete, daß ich jeden Moment aus Schlafmangel tot umfallen könnte.
»Ja. Ich hab’ doch gelesen.«
»Was hast du gelesen?«
»Die Flucht des Hirsches«, antwortete ich und kam mir etwas schwachsinnig vor.
»Stimmt das?« rief sie hingerissen. »Das war aber auch höchste Zeit. Und wie auf dem nordischen Riesen lastet der türmende Schnee, ist mir auch zugewiesen ein ungeheures Weh«, deklamierte sie, während sie mit der Zigarette dazu den Rhythmus dirigierte.
Ich sah sie verblüfft an. »Meine Güte! Kennst du das? Kannst du’s auswendig?«
»Natürlich kenn’ ich es, das gehört zur Allgemeinbildung. Aber ich kann es nicht auswendig, ich kann nur diese eine Strophe. In alten Zeiten gab’s das als Konfirmationsgeschenk.«
»Als Konfirmationsgeschenk! Das ist doch nichts für solche Gören! Hast du’s auch bekommen?«
Sie sah mich gekränkt an. »Ich habe gesagt, in alten Zeiten.Bei uns gab’s den Fänger im Roggen.«
»Aber woher kennst du es dann?«
»Ich glaube, wir haben Auszüge daraus in der Schule gelesen, genau weiß ich es nicht mehr. Ich kann mich aber noch gut daran erinnern, daß ich es einmal in den Sommerferien bei meiner Tante und meinem Onkel gelesen habe.« Einen Moment lang machte sie ein sehnsüchtiges Gesicht. »Es regnete, und ich lag oben in einem Mansardenzimmerchen mit Blümchentapete und weißen Mullgardinen und las und las. Es war sehr romantisch.« Sie seufzte. »Ich hab’s übrigens geerbt, es steht hier im Regal.«
Gereizt schlug sie nach einer Fliege, die ihren Kopf umschwirrte. »Wirklich? Warum hast du das nie gesagt?«
»Hab’ ich doch, Mensch! Als ich noch geglaubt habe, es wäre meine Aufgabe, dir Kultur zu vermitteln. Ich hab’ es dir nicht nur gesagt, ich hab’ dir das Buch in die Hand gedrückt, und du hast es aufgeschlagen und mit allen Anzeichen von Abscheu und Entsetzen gesagt: ›Igitt! Das reimt sich ja alles!‹ Und dann hast du es mit spitzen Fingern weggelegt, als ob du dir eine ansteckende Krankheit daran holen könntest.«
Ich grinste. »Heute nacht hätte ich das beinahe schon wieder so gemacht, aber dann habe ich einen Blick hineingeworfen und hing fest. Aber trotzdem, wie kann man das Konfirmanden geben! Und noch dazu damals! Darin wimmelt’s doch bloß so von Sex!« »Aber auch von Liebe und Romantik. Apropos, wie steht’s mit Tante Agathe? Die hast du überhaupt noch nicht erwähnt.« »Nenn sie bloß nicht Tante Agathe«, sagte ich genervt. »Entschuldigung«, lachte sie. »Aber das ist so verlockend.« »Jedenfalls hat es nicht geklappt.«
»Kein bißchen?«
»Nix.« »Aber du mußt doch mit ihr getanzt oder wenigstens mit ihr geredet haben.«
»Ich hab’ nicht mit ihr getanzt, aber dreimal mit ihr geredet. Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir tanzen wollte, und sie hat nein gesagt. Ungeheuer amüsant. Sie haßt mich.«
»Unsinn«, sagte Mutter.
»Doch, sie haßt mich, Mutter. Entweder blickt sie glatt durch mich durch, oder sie starrt mich angewidert an, als ob die Katze mich gerade ins Haus geschleppt hätte. Und du hättest sie damals in der Schule erleben müssen, als sie erfahren hat, daß sie neben mir sitzen muß – sie war außer sich vor Wut!«
»Ja, das hast du mir erzählt, aber warum? Es muß doch einen Grund geben. Es muß irgendwas geben, was du noch nicht erzählt hast.«
»Nein, gibt es nicht.«
»Vielleicht hast du es vergessen, aber du mußt irgendwann etwas zu ihr gesagt haben, was sie sauer auf dich gemacht hat. Das muß so gewesen sein, Claus. Es muß einen vernünftigen Grund geben.« Meine Mutter glaubt an vernünftige Gründe. Sie glaubt überhaupt an die Vernunft. Ich kapiere einfach nicht, wie sie über vierzig sein und immer noch glauben kann, daß es immer für alles einen vernünftigen Grund gibt.
»Ehrlich, Mutter«, sagte ich. »Vor heute abend habe ich keine zwei Wörter mit ihr geredet. Vielleicht gefallt ihr meine Nase nicht. Kann doch sein, daß sie Jungs mit blauen Augen und mausgrauen Haaren haßt.«
»Unsinn! Du siehst gut aus, du hast Ähnlichkeit mit deinem Vater.«
Auf diesen Vergleich hätte ich gut verzichten können.
Mutter stand auf und legte mir den Duschvorhang über die Arme. »Hängst du den bitte auf?«
Wieder schwirrte die Fliege um sie herum, und sie schlug erfolglos mit einem Vorhangzipfel nach ihr.
»Was wir hier im Haus brauchen, ist ein entomologischer Lufttraffikregulator«, sagte ich und ließ die Fliege nicht aus den Augen. »Ein was?«
»Ein entomologischer Lufttraffikregulator. Für die Fliegen.«
Ich hatte diese Bezeichnung nicht erfunden, aber sie war ganz schön stark. Ich konnte sehen, wie sich ihre innere EDV-Anlage in Gang setzte und alles schnurrte und blinkte.
Mutter hatte mit diesen Wortspielen angefangen. Das erste hatte sie mitgebracht, als sie von einem Wochenendseminar zurückgekommen war und ich sie fragte, was sie denn abends gemacht hätten. Sie antwortete, es sei »unter anderem zu rhythmischer Umgruppierung der unteren Extremitäten gekommen«. Ich hielt das für etwas Schweinisches, Gruppensex oder so, bis mir endlich aufging, daß sie getanzt hatten.
Ich ging nach oben, hängte den Vorhang auf und beschloß zu duschen, wo ich schon einmal hier war.
Ich trocknete mich gerade ab, als Mutter an die Tür klopfte und triumphierend rief: »Eine Fliegenklatsche!«