Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 7
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ОглавлениеDie Sonne war schon ein ganzes Stück über den Horizont gestiegen, als ich nach dem Laufen am Strand ankam. Sie verteilte großzügig Goldflecken auf dem Wasser, es funkelte und glitzerte, und ich mußte die Augen zusammenkneifen. Ich setzte mich auf einen großen Stein, um zu verschnaufen und mich etwas abzukühlen, ehe ich in die Wellen sprang. Als ich in der fünften Klasse war, hatte ich einen Schulkameraden, der nach einer langen, heißen Radtour sofort ins Wasser gewetzt war und nie mehr herauskam. Seither war ich vorsichtig. Hoch oben über mir schrien sich die Möwen die neusten Fischkurse zu, aber abgesehen von ihren langen, scharfen Schreien war alles so still, daß ich hören konnte, wie die Wellen über den Strand züngelten.
Es war ein schöner Morgen, und ich saß eine Weile da und genoß ihn einfach, aber dann begann ich zu frösteln, denn die Luft war noch ziemlich kalt, obwohl es später sicher heiß werden würde. Rasch zog ich mich aus, rannte in großen Sprüngen durch das seichte Wasser, warf mich auf den Bauch und kraulte los. Nach der kalten Luft kam mir das Wasser fast warm vor. Warm und doch sauber. Aber natürlich konnte es trotzdem verschmutzt sein. Ein Stück weiter die Küste hinunter war Badeverbot erlassen worden. Ich stand wieder am Strand und zog mich gerade an, als Thomas und Mini den Strandweg hinunterkamen. Thomas’ 191 Zentimeter ragten über Minis 170 auf. Sie sahen aus wie Pat und Patachon.
»Warst du schon schwimmen?« rief Mini von weitem.
»Ja.«
»Und wie war’s?«
»Spitze!«
»Du hast deine Uhr ja anbehalten«, sagte Mini, als sie bei mir angekommen waren.
»Die ist wasserdicht und so stabil, daß ich sogar zwischen Korallen tauchen kann, ohne daß etwas kaputtgeht.«
»Na, das muß ja rasend nützlich für dich sein«, grinste Mini. »Ist die nicht kalt?«
»Die Uhr?«
»Die See, du Idiot!«
»Die ist spitze, das hab’ ich dir doch gesagt. Fast warm. Viel wärmer als die Luft.«
»Das ist ja auch das mindeste, was wir erwarten können«, meinte Mini.
Er hatte sich noch vor Thomas ausgezogen und lief ins Wasser, aber als es ihm bis zum Nabel reichte, brüllte er los, machte mit einem Luftsprung kehrt und kam wieder herausgeplatscht. »Spitze, du Arschloch!« rief er anklagend. »Das ist doch saukalt!« »Ist es nicht, du mußt bloß richtig untertauchen.«
Ich sah ihm nach, als er wieder ins Wasser lief. Er war zwar klein, sah aber nicht mehr aus wie ein Junge. Er wirkte fast erwachsener als wir anderen, mit seiner Matte von schwarzen Haaren auf der Brust. Einer etwas fadenscheinigen Matte zwar, aber immerhin. Er sah aus wie ein erwachsener Mann, nur eben wie ein kleiner Mann.
Thomas kraulte in einer geraden Linie drauflos. Typisch Thomas! Voll ins offene Meer. Alle guten Ratschläge, immer am Ufer entlang schwimmen und so, waren ihm schnurzegal. Er nahm wohl an, daß wir ihn im Notfall retten würden. Oder besser gesagt, er kam erst gar nicht auf die Idee, daß etwas passieren könnte. Ihm doch nicht. Nicht Thomas, the golden boy. Wonderboy! Zähneklappernd kam Mini wieder aus dem Wasser. »Meine Fresse, das war ja vielleicht kalt. Das war verdammt noch mal kein Vergnügen! Ich kann Baden überhaupt nicht ausstehen, ist doch total unnatürlich. Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß wir im Wasser herumplatschen, dann hätte er uns Kiemen und Schwimmhäute zwischen den Zehen verpaßt.«
»Wenn du es so schrecklich findest, warum machst du’s dann?« Mini grinste. »Um nicht als Waschlappen bezeichnet zu werden. Ich mache die schwachsinnigsten Sachen, um nicht Waschlappen genannt zu werden. Das muß ich einfach, weil ich so klein bin. Sag mal, wo zum Teufel will der denn noch hin?«
Er zeigte auf den kleinen Punkt weit draußen, der Thomas’ Kopf war.
»Jetzt macht er kehrt«, sagte ich.
»Leih mir mal dein Handtuch«, sagte Mini und sah sich danach um. Seine Lippen waren blau vor Kälte.
»Ich hab’ kein Handtuch dabei.«
»Kein Handtuch!« rief er vorwurfsvoll. »Du bist mir vielleicht ein Heini! Erst lockst du mich mit haufenweise falscher Reklame ins Wasser, und dann hast du nicht mal ein Handtuch. Ich bring’ dich vor Gericht, wenn ich an Lungenentzündung eingehe!«
»Alles klar. Lauf eine Runde, dann wird dir schon warm.«
Er wetzte zweimal hin und her, dann kam er keuchend und nach Luft schnappend wieder zurück zu dem Stein, auf dem ich hockte, wühlte in seinen Hemdtaschen und zog ein zerknülltes Päckchen Zigaretten hervor.
»Miese Kondition«, stellte ich fest. »Sind das Lisbeths Kippen?« »Ja, es ist ungesund, daß sie so viel raucht«, antwortete er ohne Hemmungen. »Außerdem waren nur noch vier übrig. Aber Hannah hat versprochen, zum Frühstück neue zu besorgen.«
»Für dich ist es genauso ungesund.«
»Weiß ich doch. Wenn ich rauche, wachse ich nicht mehr. Das haben sie mir schon erzählt, als ich gerade mal elf war, und gestimmt hat’s auch.«
Er warf die leere Packung weg.
»Schwein«, sagte ich automatisch.
»Sonst ist es hier gut, was?« fragte er.
»Zu viele Steine«, sagte Thomas, der jetzt auch aus dem Wasser gekommen war und sich neben uns trockenschüttelte.
»Ich meine nicht den Strand. Den könnt ihr von mir aus an die Russen verscheuern. Aber das andere, Haus und Garten und alles. Sie ist einfach steinreich. Geld wie Heu. Dallas kann da nicht mithalten.«
»Du übertreibst wie immer, Mini«, sagte Thomas.
»Kohle hat sie jedenfalls, und nicht zu knapp. Stell dir vor, achtzehn Jahre und den Hintern voll Geld. Sie kann tun und lassen, was ihr gerade paßt. Ach, wenn ich das doch wäre.« »Vielleicht hätte sie lieber ihre Eltern behalten«, meinte Thomas trocken.
»Aber wieso denn?« fragte Mini, und es hörte sich wirklich an, als ob er das ernst gemeint hätte.
Wir gingen im Gänsemarsch den schmalen Strandweg entlang zurück zum Haus. Thomas zuerst, dann Mini und zuletzt ich. Obwohl Thomas und ich jeder für sich genommen ganz normal aussehen, wußte ich doch, daß wir zusammen mit Mini wie Leibwächter wirkten, weil wir fast gleich groß und gleich gebaut waren. Manchmal ging mir das auf den Keks, aber Mini machte es überhaupt nichts aus, im Gegenteil, oft nutzte er es aus. Wenn wir zum Beispiel in der Disco waren und er mit seinem großen, dreckigen Mundwerk auf eine Schlägerei zusteuerte, dann zeigte er bloß auf uns und sagte: »Ihr könnt das mit meinen Freunden klären. Ich schlage mich aus Prinzip nie. Hat mir der Arzt verboten.«
Zum Glück hatte noch nie jemand dieses Angebot wahrgenommen; wir müssen so total abschreckend ausgesehen haben, daß ich immer noch nicht weiß, ob ich mich überhaupt prügeln kann.
Aber natürlich hätten wir es im Notfall gemacht, schließlich waren wir seine Freunde, und wie Mini zu sagen pflegte: »Freunde hat man, um sie zu mißbrauchen.«
Wir drei waren befreundet seit dem Tag, an dem ich zum erstenmal in meiner neuen Klasse gestanden und leicht verloren in all die fremden Gesichter gestarrt hatte. Damals war ich zwölf, wir waren gerade hierher nach Lilleby gezogen, und es war der reine Zufall, daß ich in dieselbe Klasse kam wie Mini und Thomas – und übrigens auch wie Lisbeth.
Freundschaft erinnert auf eine Weise an Verliebtheit. Sie entsteht spontan, fast ehe man sich richtig kennengelernt hat. Es muß mit unserer Chemie zu tun haben, oder mit einer unerklärlichen gegenseitigen Anziehungskraft, die man sofort spürt. Manchmal verschwindet sie ebenso rasch, wie sie gekommen ist, aber richtige Freundschaften halten ewig, glaube ich.
Ich wußte jedenfalls sofort, daß wir drei Freunde werden könnten, und das wurden wir dann ja auch.
Vor allem Thomas und ich. Mini war schon immer ein wenig zu unruhig, zu schwer greifbar gewesen, er hatte zu viele kluge Sprüche drauf und zuviel Hihi, Haha, große Worte und große Gesten. Man konnte nur schwer an ihn herankommen. Außerdem wohnte er auf dem Land, und deshalb sahen wir außerhalb der Schule nicht viel von ihm.
Aber Thomas – mit ihm war es von Anfang an eine richtige Freundschaft. Ich bewunderte ihn auch ein bißchen. Er war dreizehn, hatte die magische Grenze zwischen Kind und Teenie überschritten. Damals hatten die wenigen Monate Altersunterschied eine phantastische Bedeutung.
Wir hatten die gleichen Interessen und die gleichen Ansichten – das heißt, ich übernahm die von Thomas.
Ich fuhr auch mit ihm ins Sommerlager, weil Thomas, der schon öfter dabeigewesen war, das toll fand. Bei meiner ersten Fahrt lernte ich »Hölzchen wachsen« kennen, oder genauer gesagt, eine etwas sozialere Ausgabe dieses Spiels.
Ich stand in unserem Schlafsaal und wollte gerade meinen Rucksack auspacken, als Thomas kam und fragte, ob ich beim Hölzchenwachsen mitmachen wollte.
Ich wußte nicht, was das bedeutete – vieles hier schien in einer Art Geheimsprache abzulaufen. Weil ich das nicht zugeben wollte, antwortete ich einfach nur: »Wo?«
»Zwei Schlafsäle weiter.«
Wir mußten anklopfen und ein Losungswort nennen, und als wir eingelassen worden waren, war mir sofort klar, warum. Dort saßen nämlich ein paar muntere Jungs auf ihren Etagenbetten und holten sich einen runter.
Ich hatte mich verhört. Thomas hatte nicht »wachsen« gesagt, sondern »wichsen«, und dieses Spiel war mir durchaus vertraut, nur hatte ich es noch nie zusammen mit anderen gemacht.
Wir wetteiferten miteinander, und ich schnitt gar nicht schlecht ab, schließlich traf ich zu Hause in meinem Zimmer immer den Papierkorb.
Anfangs hatte ich es im Badezimmer gemacht, aber wenn ich das zu lange blockierte, dann klopfte meine Mutter an die Tür und fragte: »Du piddelst doch wohl nicht an dir herum?«
Nein, das meinte sie nicht damit, sie dachte, ich drückte mir Pickel oder Mitesser aus. Ich wußte nie, was ich antworten sollte, aber ich kann mir vorstellen, daß sie mich in Ruhe gelassen hätte, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte.
So oder so, ich bewunderte Thomas, und ich beneidete ihn. Er hatte einfach alles im Griff, verfügte über irgendeine Form von angeborener Autorität, und als wir richtig in die Pubertät kamen und ich nur noch aus Armen und Beinen, großem Mund und Adamsapfel bestand, wuchs er nur einfach gleichmäßig vor sich hin, und alles verlief bei ihm ganz harmonisch, als ob es eine Aufgabe wäre, die er so gut wie möglich lösen wollte.
Damals sagte Mini eines Tages zu mir: »Meine Fresse, Mann, was ist der Unterschied zwischen dir und der Polizei vor hundert Jahren?«
»Was?« fragte ich.
»Die Polizei vor hundert Jahren hatte Pickelhauben, aber du hast bloß Pickel!«
Er hatte recht, ich sah aus wie ein wandelndes Geschwür, während Thomas’ Haut einfach nur »erwachsener« wurde und bei ihm der Bartwuchs einsetzte.
Morgens beguckte ich mich im Spiegel und wünschte, ich könnte so aussehen wie Thomas. Wie das Idol, the golden boy, wonderboy, nach dem alle Mädchen verrückt waren.
Aber auch wenn die Pickel nach und nach verschwanden und ich Arme und Beine unter Kontrolle bekam – ich würde doch nie so aussehen wie Thomas. Ich würde niemals sein Filmstargesicht und die tollen dunklen Haare bekommen. Ich tröstete mich damit, daß er sicher später eine Glatze kriegen würde; sein Vater hatte nämlich eine. Aber vor allem würde ich niemals dieses gewisse Etwas bekommen, das Thomas zu jemand ganz Besonderem machte.
Er war nicht so verrückt wie Mini, und er war längst nicht so albern wie ich, aber trotzdem lachten wir viel miteinander. Wir trieben auch zusammen Sport, zuerst Fußball, später Schwimmen und Federball, aber als wir so fünfzehn, sechzehn wurden, verloren wir das Interesse daran. Thomas jedenfalls. Unser Schwimmtrainer war stocksauer, als wir aufhörten, in Gedanken hatte er uns schon als Olympiasieger gesehen. Wir hatten den richtigen Körperbau dazu, behauptete er, und die Kraft – aber leider fehlte uns die Energie. In den letzten beiden Jahren, bevor Thomas wegging, brachten wir bloß noch ein paar Radtouren und ein bißchen Joggen zustande, und als Thomas dann als Austauschschüler in Amerika war, fing ich an, mit Lisbeth Federball zu spielen.
Er fuhr Ende August in die USA, kurz nachdem wir aufs Gymnasium gewechselt waren. In Lilleby gibt es kein Gymnasium, deshalb kamen wir aufs Gymnasium in die nächstgrößere Stadt, nach Storeby, wo Agathe, Anne und die meisten anderen aus unserer Klasse wohnen und das nur zwölf Kilometer von Lilleby entfernt liegt.
Thomas wollte eigentlich ein ganzes Jahr in den USA bleiben, aber er kam schon Anfang Mai zurück, weil sein Vater einen Herzinfarkt gehabt hatte. Ich fand das ziemlich schwachsinnig, denn dem Vater ging es gar nicht so schlecht, und aus irgendeinem Grund konnte Thomas kein neues Visum mehr bekommen, wenn er erst einmal nach Hause gefahren war. Das behauptete er jedenfalls, aber ich hatte auch das Gefühl, daß er Ärger mit einem Mädchen gehabt hatte, auch wenn er das nicht direkt so sagte. Ich ging davon aus, daß ich eines schönen Tages erfahren würde, was wirklich los gewesen war, schließlich erzählten wir uns immer alles.
Es war typisch Thomas, daß er wieder in die Klasse hineinglitt, als ob er niemals fortgewesen wäre.
»Was ich verpaßt habe, holen wir in den Sommerferien nach«, sagte er.
Es war auch typisch, daß er einfach erwartete, daß ich mit ihm zusammen lernen würde. Wir büffelten los, und ich ging das gesamte Pensum des Schuljahres zweimal durch, aber trotzdem war Thomas besser als ich. Im Vergleich mit ihm würde ich immer Nummer zwei bleiben.
Ich war glücklich darüber, daß er sich nicht für Agathe interessierte, denn er hätte sie mir jederzeit wegschnappen können, da war ich mir sicher. Thomas bekam immer, was er haben wollte, er brauchte bloß darauf zu zeigen. Aber zum Glück hatte er nie auf Agathe gezeigt.
Statt dessen wollte er offenbar Anne. Ehe er losgefahren war, waren die beiden ein bißchen zusammengewesen, und nach seiner Rückkehr ging es einfach so weiter, als ob nichts passiert wäre – ob er nun drüben eine andere gehabt hatte oder nicht.
Jetzt betrachtete ich Thomas, wie er da auf dem Strandweg vor mir herging, und zwei Zeilen, die ich nachts gelesen hatte, jagten mir durch den Kopf:
So kräftig und geschmeidig,
als ginge er zum Tanz.
Damit könnte Thomas gemeint sein, dachte ich. So würde er immer gehen, und wenn es zu seiner eigenen Hinrichtung wäre. Ich habe ja schon gesagt, daß ich damals ein Riesenbaby war, und es war eine kindlich-romantische, sentimentale Vorstellung, die mit dem Buch und diesem ganz besonderen Augustmorgen zu tun hatte – aber in diesem Moment erschien mir Thomas wirklich so.