Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 9
6
ОглавлениеEin unterdrücktes Kichern wanderte um den Tisch, und wir alle sahen uns unwillkürlich nach den Lehrern um, die langsam über den immer noch taunassen Rasen auf uns zutrotteten.
»Hetty bläst sich ja richtig auf«, sagte Mini. »Die hat bestimmt ein Ei gelegt.«
»Warum habt ihr sie überhaupt eingeladen?« fragte Thomas. »Sie ist doch einfach gräßlich.«
»Sie hat es selber angeboten«, erklärte Lisbeth. »Und wir konnten doch nicht einfach nein sagen.«
»Warum nicht?« fragte Thomas.
»Sie ist ja immerhin unsere Mathelehrerin.«
»Ja, Gott soll uns schützen!« sagte Thomas. »Aber daß ihr das das Recht gibt, zu unserem Info-Wochenende mitzukommen, kann ich einfach nicht einsehen. So viel Mathe haben wir nun auch wieder nicht.«
»Habt ihr sie gestern abend gehört?« kicherte Lisbeth. »Als wir am Becken saßen und Wein tranken und fetzige Rockmusik gehört haben, da hat sie plötzlich gefragt: ›Habt ihr den Mond gesehen? Der steht jetzt über der Ekliptik.‹ Oder darunter. Oder wo immer der nun gestanden hat. Was sagt ihr dazu?«
»Typisch!« antwortete Mini. »In Hetty gibt es nicht mehr Sinn für Romantik, als Honig in einer Kröte ist.«
»Psssst!« fiel Anne ihm ins Wort. »Die können dich hören!«
Wir verstummten allesamt, und deshalb herrschte ein peinliches Schweigen, als die Lehrer am Tisch ankamen.
»Ach, was seht ihr frisch aus«, gackerte Hetty, auf ihre übliche, überdrehte Wir-sind-ja-alle-eine-große-Familie-Tour.
»Saugut gesagt, Hetty!« rief Mini überschwenglich. »Hast du das die ganze Nacht geübt?«
So redet er immer mit ihr, freundlich-ironisch, und die Alte rafft nicht, daß er sie bloß verarschen will.
Wir nutzten die Gelegenheit, um unser unterdrücktes Lachen loszuwerden, und prusteten ungeniert los, während Hetty sich verwirrt umsah, ohne zu begreifen, was denn nun so witzig sein sollte. »Wir sind frisch«, erklärte Lisbeth. »Wir haben schon gebadet, während ihr euren Rausch ausschlafen mußtet.«
Gut gebrüllt, Lisbeth! Denn die Lehrer hatten sich durchaus nicht zurückgehalten; sie hatten alle drei auch ganz schön gebechert. »Du kannst hier sitzen«, sagte Fotto in seiner Gemeinheit und erhob sich galant für Hetty. »Ich glaube, ich geh’ noch eine Runde an der Matratze horchen, bis der Bus kommt. Ich hab’ die ganze Nacht kein Auge zugemacht.«
Das war auf alle Fälle eine fette Lüge.
»Du siehst auch ganz schön mitgenommen aus«, sagte Palle, als er sich setzte.
»Mitgenommen! Das ist nicht das richtige Wort, ich bin tot! Es ist ein mieser Witz, daß ich hier stehe. Ich bin überhaupt ein mieser Witz«, endete Fotto theatralisch und fuchtelte mit seinen Pinguinpfoten.
»Aber so schlimm kann das doch gar nicht sein«, tröstete ihn Hetty mit ihrem verständnisvollsten Lächeln.
»Schlimm! Viel schlimmer. Frag bloß meinen Vater. Das sagt der schon seit meiner Geburt.«
Das konnte sogar stimmen. Fottos Mutter war siebenundvierzig, als sie ihn bekamen, und ich glaube, beide Eltern fanden den Witz etwas daneben.
»Erzähl mir nix von Vätern!« rief Lisbeth. »Die sind ja wohl so ungefähr das Übelste, was es gibt. Mich kribbelt’s am ganzen Körper, wenn meiner anfangt zu predigen, und das tut er andauernd. Er ist so stockkonservativ, daß man es einfach nicht glauben will. Ich meine, der Mann ist doch Arzt, aber er glaubt wirklich immer noch, daß der Pastor die kleinen Kinder zusammen mit dem Trauschein bringt.«
Mich interessierte diese ganze Debatte im Augenblick nicht die Bohne, aber über Väter im allgemeinen war ich mit den übrigen am Tisch durchaus einer Meinung.
»Meiner ist einfach ein Waschlappen«, sagte Thomas mit freundlicher Nachsicht.
Das hätte der Regalfabrikant hören sollen, dachte ich. Aber es war etwas dran. Jedenfalls war es Thomas’ Mutter, die in dieser Ehe das Zepter schwang.
»Ich bin überzeugt, ihr übertreibt«, protestierte Hetty. »Irgendwer von euch muß doch auch etwas Positives über Väter zu sagen haben.« Ihre glubschigen Pekinesenaugen wandelten suchend um den Tisch, aber niemand sagte etwas. Das Schweigen wurde so peinlich, daß sie mir fast leid tat.
»Ja«, sagte ich deshalb. »Ich.«
»Na, das hab’ ich mir doch gedacht!« Hetty lächelte erleichtert und sah mich auffordernd an, während ich langsam den letzten Bissen zerkaute. Dann schluckte ich und sagte laut und deutlich: »Meiner ist tot.«
Man konnte wirklich Mitleid mit ihr kriegen. Zuerst ließ sie ihr Kinn sinken und glotzte bloß blöd vor sich hin, dann sah sie die anderen an, als ob sie fragen wollte, ob das auch wirklich stimmte, und schließlich nahm sie schweigend einen Schluck Kaffee, während sich an ihrem Hals zwei rote Flecken zeigten.
Einen Augenblick lang schwiegen alle, dann bot Hannah, die gute Gastgeberin, schnell mehr Kaffee an, und gleichzeitig kam Palle Hetty zu Hilfe.
»Was habt ihr denn so die ganze Nacht gemacht?« fragte er.
Das war nicht besonders intelligent, aber etwas Besseres war ihm wohl in der Eile nicht eingefallen.
Natürlich war es Lisbeth, die ihm eine entsprechende Antwort gab: »Tu bloß nicht so, mein lieber Palle, als wüßtest du nicht, womit man sich in einer rauschenden Festnacht vergnügen kann.« Es klang ziemlich anzüglich, und alle lachten.
»Laßt uns aus dem Spiel«, meinte Niels Ole, der dritte Lehrer im Bunde. »Wir sind um kurz nach zwei ins Bett gegangen und haben im Hühnerhaus in aller Unschuld geschlafen.«
»Dieses Häuschen ist wirklich toll«, sagte Hetty. Sie war nicht leicht zum Verstummen zu bringen. »Zwei hübsche kleine Schlafzimmer, jedes mit einem eigenen Bad.«
Es klang, als wollte sie extra betonen, daß es zwei Zimmer gegeben hatte. Als ob irgendwer Hetty Ibsen etwas unterstellen würde!
»Und mit wem hast du also geschlafen?« fragte Mini freundlich, und wieder errötete Hetty, während Palle und Niels Ole plötzlich einen scheußlichen Geschmack im Mund zu haben schienen. »Wir können übrigens auch Claus aus dem Spiel lassen«, meinte Lisbeth. »Der hat unter dem Flügel gelegen und die ganze Nacht brav gelesen. Noch dazu Gedichte. Aber Claus war ja schon immer ein Fall für sich.«
Entweder wußte sie mehr über Die Flucht des Hirsches, als sie zugeben wollte, oder das mit den Gedichten war einfach nur gut geraten.
»Stimmt das, Claus?« rief Hetty überrascht. »Ja, aber warum denn bloß?«
»Warum nicht?« fragte ich genervt. Ich hatte gedacht, ich hätte sie endlich zum Mundhalten gebracht, aber sie glotzte mich schon wieder aus ihren leeren Spiegeleiaugen an. Sie war abscheulich, und ich war wütend auf Fotto. Wenn diese fette Fuhre nicht abgehauen wäre, dann säße ich jetzt nicht Hetty gegenüber.
»Ich mein’ ja nur, hier sind so viele süße Mädchen, da hättest du doch sicher eine spannendere Beschäftigung finden können.« Sie ließ ihren Blick um den Tisch wandern und lächelte.
Ehe ich antworten konnte, sagte Mini leise und vertraulich zu ihr: »Ja, verstehst du denn nicht, Hetty, Claus interessiert sich nicht für Mädchen.«
»Nicht?« fragte Hetty unsicher und sah ihn verwirrt an.
»Nein. Bist du noch nie auf die Idee gekommen?«
»Nein ... nein, eigentlich nicht.« Sie lächelte entschuldigend. Sie fand wohl, daß das ihrer Aufmerksamkeit einfach nicht hätte entgehen dürfen. Wo sie doch immer damit protzte, daß sie einen »Ganzheitsüberblick« über ihre Schüler hätte. Eine richtige Pädagogin mußte alles, einfach alles über ihre Schüler wissen, das war ihre Grundüberzeugung.
Sie sah mich fragend an. »Stimmt das, Claus?«
Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Mit ihr konnte ich jedenfalls nichts anfangen, mit ihren fettigen Haaren, ihrem Hängebusen, ihrem schlappen Jeansrock und ihren blassen Spargelbeinen in den flachen braunen Sandalen. Sie sah aus, als ob sie in der heißesten Zeit der Frauenbewegung verlegt und durch einen Irrtum erst zehn Jahre später wiedergefunden worden wäre.
Ich konnte auch mit Agathe nichts anfangen, mit dieser sauren Gurke, oder mit Lisbeth, die mir das alles mit ihrer blöden Bemerkung eingebrockt hatte, oder mit meiner nervigen kleinen Schwester. Mini hatte schon recht – ich konnte mit Mädchen überhaupt nichts anfangen.
»Natürlich stimmt das«, sagte ich. »Was haben Mädchen schon, was wir nicht haben?«
Das war nun keine intelligente Bemerkung, und Søren brach gleich in aasiges Lachen aus. »Ich könnte durchaus zwei Dinge nennen«, sagte er und stupste Lisbeths eine Brust an.
Mini senkte die Stimme. »Du kannst es schließlich auch gleich erfahren, Hetty. Claus zieht Knaben vor.«
»Ja, aber immer«, sagte ich für einen Moment voller Überzeugung, und dachte an die Wichtel, die ich im Fußball trainierte. Natürlich waren die mir lieber als ein Haufen flennender kleiner Mädels. Davon war damals im Verein auch die Rede gewesen, aber ich hatte abgelehnt.
Uns war klar, daß unsere Bemerkungen mißverstanden werden konnten; darauf hatte Mini es schließlich angelegt, aber ich glaube nicht, daß wir wirklich dachten, Hetty könnte uns auf den Leim gehen. Aber genau das tat sie, und sie genoß jede Sekunde davon. Ihre Pekinesenaugen strahlten vor Sensationslust, sie bekam wieder rote Flecken am Hals, und sie befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen, als sie sich zu mir vorbeugte und ihren Blick über mein Gesicht gleiten ließ, klebrig wie eine Schnecke auf Wanderschaft: »Weißt du, was ich finde, Claus?« fragte sie und stierte mich an.
Ich schüttelte den Kopf, ich hatte keine Ahnung, was sie fand, und es war mir auch völlig egal.
»Ich finde es ganz toll, daß du das so einfach zugibst. Ganz toll.« Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Es ist doch so.« Mini bebte vor unterdrücktem Lachen, und Lisbeth gab ein paar seltsame Hustentöne von sich, aber zum Glück stand Hetty auf, ehe alle losprusteten: sie wollte nämlich packen.
»Meine Fresse«, lachte Mini, sobald sie außer Hörweite war. »Wie blöd darf jemand eigentlich sein?« Er sagte mit Falsettstimme: »Ich finde das ganz tall, sießer Claus. Echt tall!« Er schüttelte den Kopf. »Die Frau ist doch total schwachsinnig!«
»Also bitte«, sagte Palle mit Lehrerstimme.
»Na, entschuldige mal«, sagte Mini. »Ich weiß ja, daß sie eure Kollegin ist und so weiter, aber sogar ihr müßt das doch sehen können. Die Alte ist verrückt, alles kann man ihr einreden.«
»Eben deshalb weiß ich nicht, ob euer kleines Spielchen eben sehr klug war«, antwortete Palle.
»Es war total idiotisch!« warf Thomas dazwischen. Er klang gereizt, fast schon wütend. »Und es war blöd von dir, auf den Witz einzugehen, Claus.«
»Ach, hör doch auf!« sagte Mini abwehrend. »Es war bloß ein Jux. Und sie hätte es schließlich nicht so verstehen müssen. Das war doch ihre eigene schmutzige Phantasie.«
»Ihr wißt genau, daß sie hört, was sie hören will, und daß sie sich immer für die ›spannendste‹ Interpretation entscheiden wird. Sie ist vielleicht nicht dumm, aber sie ist total eingleisig, und das ist gefährlich.«
Palle und Niels Ole waren aufgestanden. Sie hatten offenbar keine Lust, sich noch weiter an der Diskussion zu beteiligen, und das konnte ich gut verstehen. Denn dann würden sie Hetty verteidigen müssen, und das war sogar für Lehrer eine hoffnungslose Aufgabe. Das einzig Positive, das sich über sie sagen ließ, war, daß sie ein Superexamen hingelegt hatte. Und an ihr konnte man ja sehen, wie viel, oder besser gesagt, wie wenig das wert war!
»Keine Panik, Thomas«, sagte Mini. »Sogar Hetty muß doch raffen, daß das bloß ein Jux war, wenn sie es sich gut überlegt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Thomas. Er klang immer noch nicht nur genervt, sondern sogar besorgt, und dafür konnte ich einfach nicht den geringsten Grund entdecken.
»Ich hoffe, das Frühstück hat trotzdem geschmeckt«, sagte Hannah, die perfekte Gastgeberin, und beendete damit die Diskussion. Aber natürlich sollte Thomas recht behalten. Es gab jeden Grund zur Besorgnis.