Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 5
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ОглавлениеBei Hannah? Ich dachte zuerst, das sollte ein Witz sein. Wir waren zwar eine kleine Klasse mit nur sechzehn Schülern, aber ich konnte mir trotzdem nicht vorstellen, wie diese ganze Bande samt zwei, drei Lehrern sich in ein kleines weißes Steinhaus quetschen sollte, in dem schon Großväter, Großmütter und alte Tanten saßen. Aber die Mädchen waren wild begeistert. Später ging mir auf, daß sie natürlich etwas gewußt hatten, was ich nicht wußte.
»Für das ganze Wochenende?« fragte Mini skeptisch.
Er dachte offenbar das gleiche wie ich.
»Ja, natürlich!« krähten die Mädchen im Chor. »Das wird spitze!« »Aber, ich meine, hast du denn genug Schlafplätze für uns alle? Für alle zusammen?« fragte Mini vorsichtig. Er hatte ganz offenbar Angst, Hannah zu verletzen, aber er hörte sich trotzdem sehr skeptisch an.
»Ja«, antwortete Hannah. »Das wird schon gehen. Wir haben ja auch noch den Hühnerstall.«
Den Hühnerstall! Es wurde wirklich immer besser!
»Da stecken wir die Lehrer rein«, sagte Fotto mit einem Grinsen. »Ja, das hab’ ich mir auch überlegt. Das ist sicher die praktischste Lösung«, meinte Hannah, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich freute mich auf die Gesichter, die die Lehrer machen würden, wenn sie hörten, daß sie in einem Hühnerstall schlafen sollten. Womöglich legten sie dann Eier!
»Aber ein paar von euch müssen einen Schlafsack mitbringen«, fügte sie fast wie um Entschuldigung bittend hinzu.
Ich glotzte sie überrascht an. Was hatte sie sich denn vorgestellt? Daß wir den Greisen die Bettdecken klauen würden?
Die Mädchen waren Feuer und Flamme. Sie quasselten alle wild durcheinander, hundert Wörter pro Sekunde, und wir anderen konnten nicht den kleinsten Mucks dazwischenwerfen. Sie planten schon alles in sämtlichen Einzelheiten. Mädchen planen gern – besonders die Details. Sie sind die geborenen Sekretärinnen. Wenn wir dabeigeblieben wären und wenn ich zugehört hätte, wäre ich von Hannahs Haus nicht so überrascht gewesen, aber wir verdrückten uns, als uns aufging, daß wir überflüssig waren. So lief es immer, wenn etwas organisiert werden mußte. Die Mädchen regelten alles, denn sie konnten das viel besser als wir – dachten sie. Im letzten Moment warfen sie uns dann allergnädigst noch ein paar Aufträge an den Kopf, so wie man einer Hundemeute Knochen hinwirft. Zum Beispiel: »Ach, Mini, du sorgst doch für Tischplatten und Böcke?« Oder: »Claus, sei ein Schatz und bring doch bitte zwölf Stühle mit.« Und dann konnte man nur noch dankbar sein, zwölf Stühle an Land ziehen, selbst wenn man sie stehlen mußte, und sie auf den Gepäckträger laden.
Aber diesmal gab es keine Aufträge. Niemand sollte sich um Tische und Stühle kümmern, niemand sollte die Getränke besorgen, niemand sollte überhaupt irgendwas tun. Alles wurde ohne unsere Einmischung geregelt. Von den Mädchen, nahm ich an, oder von unsichtbaren Händen. In Wirklichkeit erledigten Hannah und ihre Ayah alles.
Wir waren siebzehn, als wir freitags am frühen Abend mit einem gemieteten Bus losfuhren. Vierzehn Schüler und drei Lehrer: Palle, Niels Ole und unsere absolut ungenießbare Mathelehrerin Hetty Ibsen. Es waren nur vierzehn Schüler, weil Hannah ja schon draußen war und weil der Stumme Truls sich an nichts beteiligte. Niemand wußte, warum, und niemand interessierte sich dafür. Er war eine Größe für sich, ein Einzelgänger. Lisbeth hatte einmal behauptet, er gehöre irgendeiner Sekte an, aber wir hatten uns geeinigt, daß er einfach bloß verrückt war.
Das Haus war die erste Überraschung, Hannahs Ayah die zweite. Ich fahre viel Rad, und ich war hier oft vorbeigekommen, aber das Haus hatte ich noch nie gesehen. Es lag verborgen hinter Bäumen und einer mehrere Meter hohen Hecke. Von außen konnte man höchstens ein Stück vom Dach und im Winter etwas Weißes erkennen, das war alles.
Und jetzt lag das Haus plötzlich in all seiner Pracht da, mitten in einem schönen, gepflegten Garten voller Blumen, eine Art angloindischer Bungalow, wie man sie aus Filmen kennt, fast ganz von einer Terrasse umgeben. Es gab ein riesiges Eßzimmer und einen fast genauso großen Wintergarten, der nach Süden schaute, außerdem eine Bibliothek und eine große Diele. Im anderen Flügel lagen vier Schlafzimmer, alle mit Bad, und hinter der Küche hatte die Ayah ihre winzige Wohnung.
Es war das »Sommerhaus« von Hannahs Eltern gewesen. Jetzt wohnte sie das ganze Jahr über hier, und sie mußte sicher ein Vermögen allein für die Heizung blechen.
Hannahs Ayah war eine alte Inderin im Sari, die barfuß im Haus herumlief. In der Stadt hätte sie in dieser Kleidung Aufsehen erregt, aber hier paßte sie gut zu dem indischen Kram und dem vielen Messingzeug, das hier herumstand.
Im Eßzimmer war der Tisch gedeckt, als wir kamen. Was mich am meisten beeindruckte, war, daß es zwölf völlig gleiche Stühle gab. Ich kannte niemanden, der zwölf identische Stühle hatte, nicht einmal Thomas, und dabei war sein Vater Möbelfabrikant.
Die Mädchen hatten, sicher auf ausdrückliche Aufforderung der Lehrer hin, beschlossen, daß wir freitags eine leichte Mahlzeit und nur ein Glas Wein oder Bier bekommen würden, denn schließlich sollten wir an diesem Abend und am Samstagvormittag das kommende Schuljahr planen – in allen Einzelheiten!
Aber schon am Samstagnachmittag nahmen wir Rache dafür, und Samstagabend servierte die Ayah ein Festmahl mit Strömen von Wein, weshalb einige von uns schon vor Mitternacht blau waren. Aber wenn jemand erwartet, daß deshalb etwas Dramatisches passierte, dann wartet dieser Jemand vergeblich. Obwohl das Ganze an diesem Wochenende anfing, geschah nichts, was uns aufgefallen wäre, jedenfalls damals nicht.
Das Wetter war schon seit Tagen ganz phantastisch, wie es im August eben sein kann. Die Dunkelheit umschloß uns warm und samtweich, und darum fand das Fest hauptsächlich im Garten statt. Vielleicht lief deshalb alles ziemlich friedlich ab, aber ich glaube, wie gesagt, auch, daß es etwas mit Hannahs Haus zu tun hatte.
Abgesehen davon, daß alle pausenlos mit und ohne Bekleidung ins Schwimmbecken sprangen, daß Fotto sich übergab und daß die Hollywoodschaukel zusammenbrach und zwei Blumentöpfe umriß, passierte kein Unfall, niemand lief Amok und bearbeitete die kostbaren Teppiche mit dem Rasenmäher oder warf mit den Möbeln um sich.
Ich war nicht blau, ich betrinke mich nie. Deshalb half ich Fotto aufs Klo, als ihm schlecht wurde. Es war harte Arbeit, denn er ist zwar kleiner als ich, aber anderthalbmal so schwer. Er ist um die 1 Meter 80 groß und wiegt hundert Kilo. Er frißt und säuft wie ein Schwein, und zu irgendeinem Zeitpunkt wird ihm immer schlecht. Trotzdem machen wir uns nie über ihn lustig, anscheinend haben wir uns also an ihn gewöhnt. Die einzige Anspielung auf seine Fülle ist sein Name. Fotto bedeutet ursprünglich »fetter Otto«, aber ich glaube, auch daran erinnert sich kaum noch jemand.
Als er seine angeregte Unterhaltung mit der Kloschüssel beendet hatte, schleppte ich ihn in den Wintergarten und ließ ihn auf das helle Ledersofa fallen. Ich zog ihm die Schuhe aus, tippte ihn mit einem Finger an, worauf er umkippte, und deckte ihn zu. Ich hoffte, daß er sich jetzt leergekotzt hatte, denn dem hellen Sofa und den echten Teppichen würden solche Attacken sicher nicht gut bekommen.
Dann suchte ich mir meinen Schlafsack, brachte ihn in den Wintergarten, rollte ihn aus und stellte eine Tischlampe auf den Boden, weil ich noch lesen wollte. Mit einem Buch, das ich in einem Regal in der Bibliothek gefunden hatte, machte ich es mir unter dem Flügel gemütlich.
Die anderen kamen jetzt nach und nach ins Haus und beschlagnahmten die Schlafzimmer – paarweise oder in Gruppen. Irgendwer lärmte immer noch am Schwimmbecken herum, aber ich mochte nicht nach draußen gehen. Ich kann gut darauf verzichten, mit Leuten zusammenzusein, die sternhagelvoll sind.
Ich las, Fotto schnarchte, und nach und nach wurde es fast im ganzen Haus still.