Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 4
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ОглавлениеWenn ich mir das jetzt so überlege, dann habe ich manchmal das Gefühl, daß alles – alles, was dann später geschehen ist – in Wirklichkeit mit dem Info-Wochenende bei Hannah angefangen hat, kurz nachdem wir in die 2 g gekommen waren. Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her. Ein Jahr und zehn Monate, um es ganz genau zu sagen.
Es war das Wochenende, an dem Thomas mit Anne im Bett war, obwohl er keine Lust dazu hatte, und an dem ich nicht mit Agathe im Bett war, obwohl ich große Lust dazu gehabt hätte.
Es war auch das Wochenende, wo Samstagnacht oder eher Sonntagmorgen das Fest und seine Teilnehmer so ziemlich in Auflösung übergingen – wo Lisbeth eine Flasche Rotwein ins Schwimmbecken fallen ließ und Fotto ins Rhododendronbeet kotzte. Aber wie Mini richtig bemerkte, wäre es umgekehrt schlimmer gewesen; schließlich hat ein Bad im Rotwein noch niemandem geschadet. Mini faßte seine Bemerkung übrigens in bedeutend mehr und bedeutend schlimmere Worte, er kann den Mund einfach nicht aufreißen, ohne daß sich ein ganzer Abfallhaufen herauswälzt. Ich glaube, das hängt damit zusammen, daß er nur 1 Meter 70 groß ist, wenn ihr versteht, was ich meine.
Es stimmt natürlich nicht, daß alles an diesem Wochenende angefangen hat, das weiß ich genau. Irgend etwas wäre sicher auf jeden Fall passiert. Auch wenn wir damals keine Ahnung davon hatten – der Countdown hatte doch schon längst begonnen. Trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, daß einiges anders gekommen wäre, wenn wir nicht genau an diesem Wochenende in genau diesem Haus zusammengewesen wären.
Was ich jetzt am allerunglaublichsten finde, ist eigentlich, daß dieses Wochenende für einige von denen, die dabei waren, so gut wie gar nichts bedeutete. Für sie war es vielleicht nicht anders als viele andere Wochenenden. Vielleicht war ich der einzige, unter dem die Erde zu beben anfing. Aber das habe ich selbst erst später richtig wahrgenommen, nachdem meine ganze Welt in Zeitlupe einen Purzelbaum geschlagen hatte.
Genau so, in Zeitlupe, sehe ich es jetzt, während ich versuche, Zusammenhang und Überblick zu erhalten. Mich daran zu erinnern versuche, was in den letzten beiden Jahren gesagt und getan worden ist. Es ist so viel passiert, daß ich Zusammenhang und Überblick noch immer nicht gefunden habe, auch wenn ich jetzt ein bißchen mehr begreife. Wenn man etwas aus der Entfernung betrachtet, kann man plötzlich ein Muster sehen, das nicht zu erkennen war, als man noch mittendrin steckte, und manches versteht man dann ganz von selbst. Das Problem ist bloß, daß man sich an alles mögliche durcheinander erinnert und daß es schwer ist, die unwichtigen Details von den wirklichen Ereignissen zu unterscheiden. Die Details erschienen damals so wichtig. Sie hatten Ähnlichkeit mit Ereignissen, und die eigentlichen Ereignisse wirkten dagegen bloß wie unwesentliche Details.
Es gibt bestimmt Leute, die mich für bescheuert halten werden, weil ich damals nicht sofort kapiert habe, was Sache war, und weil ich nichts unternommen habe, um den Lauf der Geschichte zu ändern, zumindest den Lauf dieser Geschichte. Ab und zu kommt mir das auch selbst so vor, aber es ist so verflixt leicht, hinterher klüger zu sein, und damals wußte ich einfach nicht genug.
Irgendein Schlaumeier sagt bestimmt auch: »Na und? So einen Knuff versetzt uns das Leben eben manchmal, und alle jungen Leute müssen da durch, um erwachsen zu werden.«
Das kann nur einer sagen, der das nicht mitgemacht hat. Ich finde, es ist genug passiert, mehr als genug.
Übrigens hielten wir uns selbst für erwachsen. Wir hatten die Lage voll im Griff und durchschauten alles. Wir waren genauso unbesiegbar wie die spanische Armada. Und die ist bekanntlich 1588 von den Engländern vernichtend geschlagen worden. Wir waren achtzehn Jahre alt oder zumindest fast achtzehn. Wir hatten das Wahlrecht und den Führerschein (oder würden beides bald haben), wir hatten ein Recht auf unsere eigenen Meinungen, wenn wir damit niemandem schadeten, aber wir konnten mit all dem überhaupt nichts anfangen. Wir waren Schulkinder, du meine Güte, die reinsten Babys waren wir! Ich zumindest war eins. Das größte Baby von uns allen, ein richtiges Riesenbaby!
Tatsache ist jedenfalls, daß ich in vieler Hinsicht ungeheuer unerwachsen war. Ich habe nämlich erst vor kurzem in einer Zeitung gelesen, daß zweiunddreißig Prozent aller dänischen Jungen von fünfzehn Jahren ihr erstes sexuelles Erlebnis schon hinter sich haben. Ich aber war fast achtzehn und hatte noch nie mit einem Mädchen geschlafen.
Und zwar, weil ich in Agathe verliebt war. In die Frau, nicht in ihren Namen. Ich hatte Agathe immer für einen scheußlichen Namen gehalten, bis ich sie sah. Und dann war ich hin und weg von ihr und dem Namen. Ich weiß nicht, wo sie sich vorher versteckt hatte, ich entdeckte sie nämlich erst, als ich schon seit zwei Monaten aufs Gymnasium ging. Sie ging nicht in meine Klasse, aber eines Tages sah ich sie plötzlich in der Mensa. Dort saßen Hunderte von Schülern, aber ich sah nur sie. Die anderen verschwanden einfach, so wie sich die Wasser teilten, als die Israeliten durch das Rote Meer gingen.
Sie war die schönste Frau mit dem tollsten Gang und den scheußlichsten alten, geflickten Hosen, die ich je gesehen hatte. Ich wußte sofort, daß sie Agathe heißen mußte, es konnte gar nicht anders sein. Ich war vom Fleck weg so ungeheuer verknallt, daß ich bloß noch dumm grinsen und schwachsinnige Sprüche loslassen konnte, während ich in Wirklichkeit am liebsten meine Jacke vor ihr auf den Boden geworfen hätte, damit sie unbeschmutzt übers Parkett hätte wandeln können. Ich hätte mir auch die Hose vom Leibe gerissen, wenn das irgendwas gebracht hätte, aber sie würdigte mich keines Blickes, sondern schritt mit geradem Rücken und hochgereckter Nase an mir vorbei. Und so ging es weiter. Ich liebte sie, aber sie haßte mich – und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, warum. Ich hatte ihr nie etwas getan, hatte sie nie belästigt, hatte keine zwei Worte mit ihr gewechselt, und trotzdem haßte sie mich.
Wenn ich abstoßend häßlich gewesen wäre, hätte ich das ja noch einsehen können, aber das war ich nicht. Meine Mutter behauptete immer, ich sei der flotteste Typ am ganzen Gymnasium. Das denken sicher alle Mütter von ihren Söhnen, und natürlich war es eine wüste Übertreibung. Der flotteste Typ war eindeutig Thomas, das fanden er und ich jedenfalls. Aber Nummer zwei zu sein war ja schließlich auch nicht schlecht. Leider ließ Agathe sich davon überhaupt nicht beeindrucken, eher im Gegenteil. Und deshalb litt ich in meiner unerwiderten Liebe und meiner Jungfräulichkeit still vor mich hin, denn wenn ich nicht mit Agathe ins Bett konnte, dann wollte ich mit überhaupt keiner ins Bett. Es wäre mir fast wie Untreue vorgekommen. Thomas verstand das, aber Mini wäre vor Lachen fast vom Stengel gefallen, als mir das ihm gegenüber einmal herausrutschte. Er zappelte auf seinem Stuhl herum und gakkerte dermaßen, daß er das Gleichgewicht verlor, nach hinten umkippte und krachend mit dem Hinterkopf auf den Boden aufschlug. Leider bekam er davon nicht einmal eine Gehirnerschütterung.
Aber zurück zum Wesentlichen. Alles fing wie gesagt in Hannahs Haus an, und auf irgendeine Weise hatte das Haus etwas damit zu tun. Es war so anders als alles, woran wir gewöhnt waren, daß wir selbst auch ein bißchen anders wurden. Nicht viel, aber genug. So wie eine kleine Abweichung am Anfang ausreicht, um eine Bowlingkugel an allen Kegeln vorbeisausen zu lassen.
Entscheidend waren das Haus, die Umgebung und die ganze Atmosphäre dort draußen, nicht Hannah selbst. Vor dem Wochenende hatte ich sie kaum gekannt, und hinterher kannte ich sie auch nicht besser, obwohl ich jetzt sehr viel mehr über sie wußte.
Sie war am Ende des ersten Gymnasiumsjahres plötzlich neu in unsere Schule gekommen, aber wir landeten erst später in derselben Klasse. Sie ware eine von dieser zurückhaltenden, unauffälligen Sorte, die man nicht sieht, solange man nicht gerade über sie stolpert. So erschien sie mir jedenfalls damals, aber auch das war ein Punkt, an dem ich nicht besonders klar sah.
Vom Aussehen her erinnerte sie mich an Marleen Merlin, diesen Stummfilmstar, mit ihren langen, dunklen Haaren, dem spitzen Gesichtchen und der Brille. Sie wäre eigentlich sehr niedlich gewesen, wenn sie nicht so eine scheußliche Haltung gehabt hätte. Das hört sich vielleicht schwachsinnig und rückständig an, aber so war es eben. Sie reckte den Kopf vor und den Hintern zurück, und ihre Schultern zog sie über die Ohren. Normale Menschen hätten am ganzen Körper einen Krampf, wenn sie auch nur eine halbe Stunde so herumlaufen müßten, aber Hannah schien das nichts auszumachen. In alten Zeiten sagten die Väter immer zu ihren Kindern: »Halt dich gerade!«, und Hannahs Vater hätte ihr einen großen Dienst erwiesen, wenn er das gesagt hätte. Womöglich hat er es ja auch getan, aber dann hat es nichts geholfen, und inzwischen war er tot, das wußte ich immerhin. Ich wußte auch, daß sie und ihre Eltern in Indien gelebt hatten und daß ihre Mutter gestorben war, als Hannah elf war. Sechs Jahre später war sie nach Dänemark übergesiedelt, weil sie dort Abitur machen wollte. Kurz darauf kam ihr Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und Hannah zog in unsere Gegend.
Sie wohnte draußen auf dem Land, und ich nahm an, daß sie zu Verwandten gezogen war. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie ein bißchen altmodisch wirkte, hatte ich die Vorstellung, daß sie bei alten Menschen lebte, bei ihren Großeltern oder Großtanten oder so, und daß sie in einem kleinen weißen Steinhaus wohnten. Das Haus war wirklich weiß, aber ansonsten stimmte keine von meinen Vermutungen.
Ursprünglich hatten wir für unser Info-Wochenende ein Ferienhaus mieten wollen, aber offenbar waren wir zu spät dran, denn wir konnten einfach keins auftreiben. Heutzutage veranstaltet ja jeder Heini sein Info-Wochenende, schon die neunten Klassen fangen damit an.
Die Mädchen hatten die Organisation übernommen. Sie fanden heraus, daß erst im Dezember wieder Ferienhäuser frei wären, und das kam für uns nicht in Frage. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, noch etwas zu finden, als Hannah plötzlich mit leichtem Zögern sagte: »Wir könnten es natürlich draußen bei mir machen.«