Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 6

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Durch Fottos Schnarchen hindurch konnte ich die Uhr auf dem Kaminsims die Sekunden verticken hören. Es hörte sich an wie eine alte Jungfer, die eifrig, aber völlig sinnlos die Nacht in kleine Scheibchen schnitt. Schnipp-schnapp, schnipp-schnapp.

Jetzt räusperte die Uhr sich leise, zögerte kurz und schlug dann. Ich zählte die Schläge. Sechs. Unwillkürlich schaute ich auf meine Uhr, eine Rolex, die mein Vater mir zur Konfirmation geschenkt hatte. Wahrscheinlich hatte er sie in irgendeiner obskuren Kneipe billig erstanden, aber die Uhr war in Ordnung, sie ging auf die Sekunde genau, wie auch die Uhr auf dem Kaminsims. Natürlich. Es war unvorstellbar, daß in Hannahs Haus irgend etwas nicht ordnungsgemäß funktionierte.

Ich drehte mich mühselig um. Ich lag nun schon seit vier Stunden hier unter dem Flügel und fühlte mich am ganzen Körper wie gerädert. Außer Lisbeth hatte mich niemand gestört. Sie hatte mehrfach hereingeschaut, um zu fragen, ob ich ihre Zigaretten gesehen hätte. Jedesmal hatte ich schon lange vorher ihre Klagerufe gehört: »Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut? Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

Ich hatte nur noch zehn Seiten zu lesen. Ich hatte gelesen und gelesen und gelesen und gelesen. Vier Stunden lang. Die Flucht des Hirsches von Christian Winther. Ein richtig berühmtes klassisches Werk, an die hundertfünfzig Jahre alt, glaub’ ich. Natürlich hatte ich schon oft von diesem Buch gehört, aber ich hatte es nie näher angeschaut, deshalb hatte ich keine Ahnung, worum es da ging, als ich mich hinlegte und das Buch aufmachte. Ich wäre fast wieder aufgestanden und hätte mir in der Bibliothek ein anderes Buch geholt, als ich entdeckte, daß das ja Reime waren, richtige altmodische Herz-und-Schmerz-Reime. Ich lese eigentlich ganz gern Gedichte, doch diese hier wirkten einen Tick zu verstaubt.

Aber ich hatte einfach keinen Nerv mehr, wieder aufzustehen, und außerdem dachte ich, ich würde bestimmt ganz toll davon einschlafen können. Also überflog ich ohne große Begeisterung die ersten Seiten. Und dann war ich von der Geschichte plötzlich gefangen. Es war ja ein Roman in Reimen, wer hätte das ahnen können? Und der Dichter verstand sein Handwerk wirklich. Ich hatte richtig fühlen können, wie sich die kleinen Haare in meinem Nacken sträubten, als ich die Strophe zu Anfang des Buches gelesen hatte:

Die Zeit der Ritter und die Zeit der Gilden

hat mir die Sinne, hat mein Herz entfacht.

Des Haders viel – es blitzte von den Schilden,

es stieg der Hengst und wetterte zur Schlacht;

doch auch mit weichen, zartgestimmten Tönen

aus jener Zeit kann ich das Herz versöhnen.

Es gab Handlung und Spannung, viel Liebe, glückliche wie unglückliche, es gab Treue und Verrat und eimerweise Tränen, es gab sogar Sex, und das verblüffte mich sehr. Aus irgendeinem Grund ist es nur schwer vorstellbar, daß es Sex schon in alten Zeiten gegeben hat; das kommt einem genauso merkwürdig vor wie der Gedanke, daß die eigenen Eltern ein Sexualleben haben. Einige von ihnen jedenfalls.

Es war ein seltsamer Zufall, daß mir das Buch ausgerechnet in dieser Nacht in die Hände gefallen war, denn es war vielleicht die einzige Nacht in meinem Leben, in der ich es lesen konnte. Wegen der Stimmung, der Stimmung der Nacht und meiner eigenen, und weil ich Agathe hatte – oder besser gesagt, weil ich sie nicht hatte. Sie haßte mich nämlich offenbar immer noch.

Draußen wurde es langsam hell. Ich knipste die Lampe aus und sah in den Garten hinaus, wo Bäume und Büsche morgengrau und unbeweglich standen, als ob sie noch nicht ganz wach wären, oder wie Tänzer, die in starrer Haltung darauf warten, daß das Rampenlicht eingeschaltet wird.

Kein Wind rührte sich, und am blassen Himmel war keine einzige Wolke, es würde also ein ebenso prachtvoller Tag werden wie gestern.

Wenn ich das Buch ausgelesen hätte, wollte ich ausgiebig laufen und ans Meer zum Schwimmen gehen, um meine Knochen wieder an ihren richtigen Platz zu schütteln, sie schienen unter meiner Haut wild durcheinandergeraten zu sein.

Ich knipste die Lampe wieder an, legte mich besser zurecht und versuchte, eine halbwegs bequeme Position zum Liegen zu finden. Ich hatte gerade wieder angefangen zu lesen, als eine durchdringende, klagende Stimme mich geradezu aus dem Buch herausheulte. »Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

Wieder Lisbeth. Mußte dieses wahnsinnige Weibsbild denn nie schlafen? Rasch löschte ich das Licht, schloß die Augen und stellte mich schlafend. Vielleicht war das eine überflüssige Sicherheitsmaßnahme, vielleicht würde sie dieses Zimmer erst gar nicht betreten. Sie konnte sich doch verflixt noch mal selber sagen, daß ich ihre Zigaretten weder vor drei noch vor zwei noch vor einer Stunde und folglich auch jetzt noch nicht gesehen hatte.

Das konnte sie nicht.

Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, und Lisbeth kam wie ein gereizter Zyklop ins Zimmer getrampelt.

»Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

Die Schritte näherten sich dem Flügel und hielten neben mir inne. »Claus!« Sie trat mich mit fünf langen, harten Zehen in meine wunden Rippen. »Knackst du?«

Ja, ich schlief. Das konnte sie doch wohl sehen, die blöde Kuh.

Sie trat ein bißchen fester, bohrte ihre Zehen zwischen meine Rippen, und ich hätte fast laut aufgestöhnt.

»Knackst du?« wiederholte sie ungeduldig.

Dann schwieg sie erwartungsvoll, und ich kniff meine Augen fest zusammen.

»Claus, zum Teufel, du elender Blödi, ich weiß genau, daß du nicht knackst. Du tust bloß so! Wenn du wirklich schlafen würdest, dann wärst du jetzt aufgewacht.«

Ich unterdrückte ein Grinsen. Das war typische Lisbethlogik.

Sie trat mich immer noch in die Seite, es schien fast automatisch abzulaufen. Ich konnte genausogut aufgeben.

»Okay, dann schlaf’ ich eben nicht«, sagte ich und schlug die Augen auf.

»Ich hab’s ja gewußt. Du siehst übrigens ganz schön niedlich aus, wenn du knackst – auch wenn du gar nicht wirklich knackst. Was machst du hier?«

»Ich lese.«

»Du kannst doch wohl nicht die ganze Nacht lesen – und bei dem Licht! Hier unter dem Flügel ist es doch stockfinster!«

»Ich hab’ das Licht ausgemacht, als du gekommen bist.«

»Warum denn? Wolltest du nicht mit mir reden?«

Sie klang nicht einmal verärgert, nur neugierig.

»Nein. Jetzt kommst du schon zum viertenmal hier reingeplatzt. Warum mußt du dich ausgerechnet an mir austoben? Warum weckst du nicht lieber Fotto?«

»Fotto! Das geht doch gar nicht. Der ist voll wie eine Strandhaubitze, schläft wie ein Ochse und schnarcht wie ein Schwein. Außer dir ist in dieser Bude einfach kein Mensch wach und nüchtern.« »Aber du bist doch auch wach – und wie!«

»Aber nüchtern bin ich nicht.«

»Warum suchst du dir keinen Schlafplatz? Für ein paar Stunden solltest du dich schon aufs Ohr hauen. Warum wuselst du bloß so rum? Du spukst schon die halbe Nacht wie die Weiße Frau durch die Gegend. Wo steckt denn Søren?«

»Der pennt.« Sie setzte sich auf den Boden, beugte sich vor und stützte sich auf die Ellbogen, um mich unter dem Flügel hindurch anblicken zu können.

»Und du hast meine Kippen wirklich nicht gesehen?«

»Nein, hab’ ich nicht. Das hab’ ich dir schon vor drei Stunden und vor zwei Stunden und vor einer Stunde erzählt. Wo zum Henker sind meine Kippen? Das hat sich wie eine endlose Litanei durch die frühen Morgenstunden gewunden.«

»Wie poetisch! Was zum Kranich ist eine Litanei?«

»Ein Klagegesang«, antwortete ich. »Manchmal beeindruckst du mich wirklich, Lisbeth.«

»Echt?« rief sie erfreut. »Meine Güte, ich hätte so gern eine Kippe! Warum beeindrucke ich dich?«

»Weil deine Unbildung monumental ist.«

»Ba!« Sie schnitt mir eine Grimasse. »Bloß weil ich nicht weiß, was eine Litanei ist. Das weiß ja wohl kein normaler Mensch.«

»Ich schon.«

»Ja.« Sie grinste, und ich hielt klüglich den Mund. Eine Diskussion mit Lisbeth ist wie ein Gefecht mit einem Spiegelkabinett. Ehe man sich versieht, ist alles verwandelt, verzerrt und total absurd, und am Ende weiß man nicht mehr, ob man selbst oder sie hier völlig verrückt geworden ist.

Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meins heran und hauchte mir ihren Fuselatem voll in die Nase, während sie eindringlich fragte: »Hast du meine Kippen wirklich nicht gesehen?« Ich holte tief Luft und wollte gerade mit gewaltigem Nachdruck losreden, als sie mir zuvorkam: »Gut! Gut! Reg dich ab! Du hast sie also nicht gesehen, und das hast du mir schon viermal oder vierhundertmal oder viertausendmal erzählt, aber irgendwer hat sie geklaut. Ich finde es ganz schön übel, andrerleuts Kippen zu mopsen, wo wir hier draußen mitten im ödesten Niemandsland sitzen und nicht einmal die kleinste Fluppe aufzutreiben ist.«

»Aber deshalb brauchst du dich doch nicht so anzustellen! Als ich ins Haus gegangen bin, hattest du eine Zigarette in der Hand, du hast also vor vier Stunden erst geraucht.«

»Vor vier Stunden erst! Ein halbes Fest ohne Kippen! Das ist einfach zu arg. Aber du kannst das natürlich nicht raffen, du bist ja so verdammt heilig und rauchst selber nicht. Ich möchte wetten, das war Mini, dieser elende kleine Mistkerl! Das würde ihm ähnlich sehen. Der hatte schon vor Mitternacht alles weggepafft, und trotzdem hatte er immer eine Kippe in der Hand, wenn ich ihn gesehen habe. Aber meinst du, er hätte mich auch nur einmal ziehen lassen? Er ist ein richtiger kleiner Stinker, und ein Miststück von einem Dieb.«

»Geh jetzt schlafen, Lisbeth«, sagte ich müde.

»Willst du denn nicht reden?«

»Nicht über deine Zigaretten.«

»Na gut, worüber reden wir dann?«

»Über nichts. Ich will das Buch hier auslesen.«

»Hast du heute nacht ein ganzes Buch gelesen?« rief sie ungläubig. »Ich sag’ ja immer, du bist einfach knatschverrückt.«

»Außerdem können meine zarten Nerven zu dieser Tageszeit deine Sprache nicht verkraften. Du hörst dich ja fast genauso übel an wie Mini!«

»Zarte Nerven! Du hast überhaupt keine Nerven. Du hast nicht einmal Gefühle. Dir ist es scheißegal, daß irgendwer meine Kippen geklaut hat.«

»Na und?«

»Du bist vielleicht öde«, sagte sie und stand auf. »Ich muß wohl Søren wecken gehen und in seinen Armen Vergessen suchen.« »Hau schon ab!« antwortete ich müde.

Sie lachte und rappelte sich hoch.

Ich sah ihr nach, als sie zur Tür ging. Ich wäre so gern in Lisbeth verliebt gewesen. Das hätte alles viel einfacher gemacht. Jetzt hatte sie zwar Søren, aber früher hatte sie sich für mich interessiert. Das war in der neunten Klasse, doch damals kümmerte mich das alles noch nicht. Ich bin eben immer schon ein bißchen langsam gewesen.

Mit Lisbeth wäre alles so leicht. Sie sagt, was sie denkt und fühlt und meint; sie schreit es fast von den Dächern. Und für sie ist Sex so natürlich und notwendig wie das Atmen. Ich wäre bestimmt schon längst nicht mehr Jungfrau, wenn ich mich in sie verliebt hätte. Sie war nur einfach nicht mein Typ. Vielleicht kannte ich sie zu gut. Sie war lieb, sie war verrückt, sie war nicht so dumm, wie sie vorgab, und ich mochte sie wirklich von allen Mädchen am besten leiden, aber ich hätte mich niemals in sie verlieben können.

Ich fand sie auch zu groß und grob – in jeder Hinsicht. Sie war zu sehr wie ein Junge. Obwohl sie lange blonde Haare hatte, hatte sie nichts vom »blonden Dummchen«; mit ihren hellen Nasenhaaren, der Flachsmähne und den fast weißen Wimpern und Augenbrauen über meeresblauen Augen sah sie eher aus wie ein junger Wikinger. Ihre Figur war schon feminin, mit großen Brüsten, breiten Hüften und kräftigen Oberschenkeln. Sie war ziemlich attraktiv, wenn man diesen Typ mochte. Søren ging das so. Er war nicht bloß scharf auf sie, sondern total schwachsinnig lallend verschossen, so sehr, daß es manchmal fast komisch wirkte.

Ich fragte mich, ob ich mit meiner lächerlichen Verliebtheit in Agathe wohl auch so komisch wirkte. Und das tat ich bestimmt.

Ich seufzte, legte mich zurecht und machte mich an die letzten Seiten.

Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch

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