Читать книгу Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch - Kirsten Holst - Страница 8

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Als wir zurückkamen, war auf der östlichen Terrasse vor dem Eßzimmer ein riesengroßes Frühstücksbüfett aufgebaut.

»Hannah muß ja schon früh aufgestanden sein«, stellte Mini fest. »Das hat doch nicht Hannah gemacht, du Dussel«, sagte ich. »Das war die Ayah.«

»Ja, die Ayah, die Ayah«, grinste Mini. »Ich glaub’, so eine schaff’ ich mir später auch an. Das ist besser und billiger als eine Ehefrau.« »Traust du dich auch, das vor den Ohren der Mädchen zu sagen?« sagte Thomas lachend.

Die Ayah hatte schwer geschuftet. Sie hatte alles allein gemacht, war auf ihren nackten Zehen herumgerannt und überall und nirgends gewesen. Nach dem Abendessen am Freitag waren einige Mädchen aufgestanden, um abzuräumen, aber Hannah hatte sie daran gehindert.

»Laßt das nur stehen. Darum kümmert sich die Ayah.«

»Aber wir können doch helfen!«

Hannah hatte den Kopf geschüttelt. »Lieber nicht ... Sie, na ja, um ehrlich zu sein, ihr verliert in ihren Augen das Gesicht, wenn ihr das macht.«

Wir glotzten sie allesamt an.

»Wir verlieren das Gesicht?« fragte Agathe verwundert.

»Ja.« Hannah sah ein bißchen verlegen aus, aber ich konnte nicht feststellen, ob sie sich wegen uns oder wegen der Ayah genierte. »Es ist nicht leicht zu erklären, aber – versteht ihr, es ist nicht euer Job, und deshalb ... Sie ist doch an andere Normen gewöhnt, nicht wahr?«

Agathe nickte und sah aus, als ob sie das wirklich verstanden hätte. Ich wußte aber nicht so recht, ob uns anderen das auch gelungen war.

Hannah kam gerade aus dem Eßzimmer, als Thomas, Mini und ich die Terrasse betraten. Sie sah frisch, gesund, ordentlich gebügelt und etwas altmodisch aus in ihrem weißen Rock und der rosa Bluse.

Sie begrüßte uns mit ihrem schnellen, leicht verlegenen Lächeln, das über ihr Gesicht huschte und dann sofort wieder verschwand. »Da steht das Frühstück«, sagte sie. »Fangt einfach schon an, ich sag’ nur schnell den anderen Bescheid. Und auf dem Tisch im Eßzimmer liegen Zigaretten, Mini.«

Vom Schwimmbecken her war Gejohle und Lachen zu hören, die meisten waren also wohl schon auf.

Mini verschwand im Eßzimmer und kehrte mit einer Packung Zigaretten in der Hand zurück. »Eigentlich ist sie ja wirklich süß«, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. »Auch aussehensmäßig, meine ich.«

»Da haben wir Mini – verkauft sich für eine Kippe«, feixte ich. »Aber du hast recht, sie ist wirklich süß, sie müßte sich nur endlich mal gerade halten.«

»Man kann auch gut mit ihr reden«, warf Thomas dazwischen. »Wir haben fast die ganze Nacht miteinander verquatscht.« »Hannah und du?« rief ich und sah ihn überrascht an. »Ich dachte, du warst mit Anne zusammen?«

Thomas errötete ein bißchen. »Nicht die ganze Nacht«, sagte er kurz, und ich musterte ihn verstohlen. Irgend etwas stimmte da doch nicht zwischen ihm und Anne!

Nicht alle waren im Schwimmbecken. Kaum hatten wir uns gesetzt, da kam Fotto steif und mit zerzausten Haaren und feuerroten Augen aus dem Haus gewankt.

»Meine Fresse, mir tut vielleicht die Birne weh!« stöhnte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Das komplette dänische Baubataillon hämmert in meinem Schädel herum. Meint ihr, hier läßt sich irgendwo ein Bier auftreiben?«

»Bier? Du brauchst wohl eher Kaffee«, sagte Thomas und hielt die Kaffeekanne abwartend über Fottos Tasse.

»Na, dann in Gottes Namen Kaffee«, seufzte Fotto, und Thomas goß ein.

Søren kam kurz darauf angestapft, er war offenbar auch nicht schwimmen gewesen. Er sah ein bißchen erschöpft aus und glotzte Fotto müde an.

»Meine Güte, Jungs, was für Augen!«

»Du solltest die mal von innen sehen, brrrr!« Fotto schüttelte sich, dann richtete er seine beiden rotumrandeten Strahler auf mich. »Sag mal, hab’ ich das geträumt, oder hast du dich die ganze Nacht unterm Flügel herumgerollt?«

»Das mußt du geträumt haben«, antwortete ich. »Du kannst es nicht gesehen haben, du hast schließlich wie ein Faultier mit Polypen geschnarcht, seit du dich hingelegt hast – oder besser gesagt, seit ich dich hingelegt habe. Ich habe mich auch nicht herumgerollt. Aber es stimmt schon, ich habe unterm Flügel gelegen.«

»Mit einer Lampe?« beharrte er. »Hast du wirklich mit einer Lampe geschlafen?«

»Auch das.«

Fotto versuchte, den Kopf zu schütteln, gab es aber schnell wieder auf. »Warum zum Kranich hast du denn unterm Flügel geschlafen?« fragte er. Seine Stimme hörte sich an, als ob seine Stimmbänder dringend rasiert werden müßten.

»Weil er so musikalisch ist«, antwortete Thomas grinsend.

»Ach so«, meinte Fotto zerstreut, als ob das eine total vernünftige Erklärung gewesen sei. Er betrachtete aus zusammengekniffenen Augen das Brötchen, das er sich geistesabwesend auf den Teller gepackt hatte, und schüttelte sich. Dann kniff er ein Auge zu und sah mich mit dem anderen fragend an.

»Was wolltest du denn mit der Lampe?«

»Licht haben.«

»Wozu?«

»Zum Lesen.«

»Du hast gelesen? Die ganze Nacht? In einem Buch?«

Jetzt hatte er beide Augen aufgerissen. Sie sahen aus wie die Rücklichter eines alten Ford Taunus.

»Die Antwortet auf alle drei Fragen lautet ja.«

»Du bist ja einfach nicht mehr normal! Was war das denn für ein Buch? Ein Porno?«

»Ja, was glaubst du denn?«

»Aber was für einer?«

Ich konnte nicht mehr antworten, denn jetzt kamen die anderen vom Schwimmbecken herbeigestürzt. Lisbeth trat hinter Sørens

Stuhl, beugte sich über ihn, legte ihm die Arme um die Schultern und stieß mit ihrem Kinn gegen seinen Kopf.

»Hallo, Schnuffel!« sagte sie. »Geht’s gut?«

»Nach dieser Nacht wohl kaum«, antwortete Søren trocken.

Fotto ließ sich nicht ablenken. »Was war das für ein Buch?« fragte er starrsinnig, obwohl es ihm in Wirklichkeit wahrscheinlich schnurzegal war. Er selbst machte nie ein Buch auf.

»Die Flucht des Hirsches«, sagte ich.

»Ha, das kenn’ ich gut«, rief Lisbeth. »Das ist von Hausgaard. Aber dafür brauchst du doch nicht die ganze Nacht!«

»Liebe Lisbeth«, sagte ich geduldig. »Da mußt du irgendwas falsch verstanden haben. Es ist wahrhaftig nicht von Hausgaard, und außerdem ist es ziemlich umfangreich.«

»Von wem ist es denn?«

»Von Christian Winther.«

»Den kenn’ ich nicht«, sagte Lisbeth und fügte kichernd hinzu: »Der ist sicher nicht von hier.«

»Wie hast du’s bloß bis in die 2 g geschafft, ohne von der Flucht des Hirsches und Christian Winther gehört zu haben?« fragte Thomas.

»Das ist meine Kunst. Du ahnst gar nicht, mit welch phänomenalem Unwissen ich in die 2 g gekommen bin. Man muß sich bloß ein bißchen Mühe geben.«

Das hörte sich seltsam an, aber wir verstanden, was sie meinte. »Claus sagt ja selber, daß meine Unbildung momentan ist!« fügte sie triumphierend hinzu.

»Nicht momentan, du Knalltüte!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mo-nu-men-tal gesagt, und das ist durchaus nicht dasselbe.« »Nicht?« fragte Lisbeth gleichgültig und rülpste so ungeniert über Sørens Kopf, daß seine Haare vornübergeweht wurden.

»Lisbeth, du Schwein!« rief Anne. »Wir essen.«

»Macht doch nichts«, sagte Lisbeth. »Eßt nur weiter, mich stört das nicht.«

Ich sah Søren an. Er sah total selig aus, so als ob er sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als von Lisbeths Riesenmundwerk angerülpst zu werden.

Ich konnte es nicht fassen. Der Mann mußte doch ein Masochist oder so was sein.

Anne und Agathe saßen auf derselben Tischseite wie ich, nur einige Stühle weiter weg, und ich konnte Agathe nicht sehen, wenn ich mich nicht regelrecht über den Tisch werfen wollte. Aber mir war aufgefallen, daß Thomas ihnen nur kurz zugenickt hatte, als sie an den Tisch gekommen waren, und daß weder sein noch Annes »Hallo« besonders überschwenglich geklungen hatten. Offenbar hatten sie sich im Laufe der Nacht zerstritten. Vielleicht hatte er etwas gewollt, was sie nicht wollte, und sie konnte manchmal ganz schön energisch und abweisend sein. Andererseits war es nicht sehr wahrscheinlich, daß sie es nicht schon früher miteinander gemacht hatten, sie waren schließlich über ein Jahr zusammen, wenn man Thomas’ USA-Aufenthalt mitzählte.

Niemand war auch nur im geringsten überrascht gewesen, als Thomas und Anne sich zusammengetan hatten. Es wirkte fast wie ein Naturgesetz, daß der tollste Typ und die hübscheste Frau der Schule ein Paar bildeten. Ich hielt zwar Agathe für die hübscheste, aber bei einer Abstimmung hätte sicher Anne den Sieg eingesackt, denn sie war auf diese leicht banale Fotomodellweise hübsch, die die meisten toll finden. Miss Provinzkaff. Das macht ja auch nichts – nur war mir eben Agathe lieber, die doofe Nuß.

Ich hatte gehofft, daß alles besser werden würde, wenn wir erst in die 2 g und damit in eine Klasse kämen. Dann mußte sie doch einfach feststellen, daß ich intelligent, charmant, sympathisch und bescheiden war. Sie würde mich und mein wahres Ich kennenlernen, sagte ich mir – ich sagte es übrigens auch Thomas und Mini –, und dann würde sie begreifen, daß sie keinen Grund hatte, mich so einfach zu hassen.

Am ersten Morgen nach den Ferien gab ich mir schreckliche Mühe. Ich duschte so lange, bis ich rot wie ein Krebs war, und ich übergoß mich mit Duftwässerchen und Deos, bis ich stank wie ein ganzer Puff und Rikke, meine kleine Schwester, sich demonstrativ die Nase zuhielt. Ich hatte mich sogar zum erstenmal in meinem Leben richtig naß rasiert, und das hatte mir einen langen Schnitt am Kinn eingebracht.

Zum Glück war es noch so früh gewesen, daß ich fast meine normale Farbe zurück hatte, daß die Wunde nicht mehr blutete und daß der Duft fast ganz verflogen war, als ich in der Schule ankam. Die zehn Kilometer auf dem Fahrrad hatten auch mitgeholfen, die übermäßige Wirkung des Deos zu tilgen, aber das alles hatte dann nicht das geringste erreicht.

Aus irgendeinem Grund kam Agathe ein wenig zu spät, und für einen wilden, erwartungsvollen Augenblick war ich davon überzeugt, daß mein Glück gemacht war, denn es gab nur noch einen leeren Platz – und zwar neben mir. Normalerweise saß ich ja neben Thomas, aber er und Anne – vielleicht vor allem Anne – hatten beschlossen, daß sie in diesem Jahr zusammensitzen wollten.

Agathe kam mit ihrer leeren Tasche in der Hand in die Klasse und durchschaute die Lage auf einen Blick. Sie blieb bei der Tür stehen und sah Palle, unseren Klassenlehrer, an.

»Wo soll ich sitzen?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. »Tja, die große Auswahl hast du ja nicht mehr«, antwortete Palle. »Du wirst dich wohl mit Claus zufriedengeben müssen.«

»Neben dem soll ich sitzen?«

Das hörte sich an, als ob ich Frankensteins Monster wäre oder an Aussatz oder Beulenpest litte. Ich konnte irgendwo hinter mir Mini kichern hören.

»Ja, warum nicht? Jetzt setz dich schon, Agathe«, sagte Palle. Agathe blieb stehen. Ihr Gesicht war rot und ihre Stimme ein bißchen schrill, als sie fragte: »Können Claus und Anne nicht die Plätze tauschen?«

»Warum sollten wir?« meinte Anne. »Stell dich doch nicht so an, Agathe.«

Hört, hört! sagte ich zu mir selber.

»Kann ich denn keinen Einzeltisch haben? Es muß doch ein paar Einzeltische geben!«

Es war peinlich. Jeder konnte merken, daß sie mich haßte und daß sie total wütend war, weil sie neben mir sitzen sollte. Alle meine Träume und Luftschlösser zerfielen zu Staub. Keine Chance! »Jetzt setz dich erst mal dahin!« meinte Palle genervt. »Nach eurem Info-Wochenende können wir ja sehen, ob eine Umplazierung nötig ist. Claus frißt dich doch nicht.«

Sie mußte nachgeben, aber gutwillig tat sie es bestimmt nicht. Sie kam mit zusammengepreßten Lippen zu meinem Tisch und setzte sich so weit von mir weg wie möglich, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

An den folgenden Tagen sagte sie »hallo«, wenn ich »hallo« sagte, und weitere Bemerkungen fielen nicht zwischen uns. Ach, war das schön!

Aber ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich vertraute auf das Info-Wochenende. Ich weiß nicht, welches Wunder ich erwartet hatte – jedenfalls passierte keins. Ich hatte Agathe am Samstagabend dreimal zum Tanzen aufgefordert, und jedesmal hatte sie mit einer blödsinnigen Entschuldigung abgewunken. Erst mußte sie aufs Klo, dann wollte sie lieber austrinken, und schließlich hatte sie sich den Fuß verknackst. So ein Quatsch!

Aber das war ihre Sache, sagte ich mir. Es gab zum Glück noch andere Frauen auf der Welt, sie sollte sich bloß nicht einbilden, sie wäre etwas Besonderes. Das Problem war bloß, daß sie es für mich eben doch war.

Ich saß versunken in meinen düsteren Gedanken an Hannahs Frühstückstisch, als Mini plötzlich rief:

»Attention, mes amis! Jetzt kommen die Lehrer!«

»Und dabei war es gerade so lustig«, seufzte Thomas. »Aber okay, send in the clowns!«

Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch

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