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VI

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Unter den Hauben betrunkener Fischweiber, den Cornetten, tauchten immer wieder deren zu Fratzen entstellte Gesichter hinter den Kutschenfenstern auf, keiften und spuckten gegen die Scheiben oder schlugen mit Eisenstangen dagegen. Jeden Moment konnte das Glas zerspringen.

Kerle, denen das Haar, vom Wind zerzaust, wirr vom Kopf abstand oder unter roten Mützen hervor stach, fuchtelten brüllend mit Gewehrläufen herum und klopften damit gegen die Karosserie, dass es nur so krachte. Die Kutsche drohte umzustürzen.

Wenn Marie Thérèse ihren zitternden Bruder an sich drückte und ihr Gesicht in seinem Schopf verbarg, sah sie weiterhin alles vor ihrem geistigen Auge.

Noch Wochen später schreckte sie Schweiß gebadet aus nächtlichem Schlaf, ohne zu wissen, warum. Ihre Seele verdrängte die nächtliche Horrorfahrt nach Paris, ins Palais des Tuileries, schüttete sie nach und nach zu mit weniger schlimmen Ereignissen und vergrub sie immer tiefer in sich. Nur so konnte sie überhaupt weiter existieren.

Sie solle nie vergessen, dass sie von Gott ihren hohen Rang bekommen habe, um für das Wohl der Untertanen zu sorgen, erklärte der Vater seiner Tochter, als sie vor der Fahrt zur Kirche Saint-Germain-l'Auxerrois vor ihm kniete und seinen Segen zu ihrer Erstkommunion empfing – am achten April 1790. Und weil das Volk leide, bekäme sie kein Diamantengeschmeide zu diesem Anlass, wie bisher traditionell üblich. „Du wirst sicher eher auf Juwelen verzichten wollen, als dass das Volk für deine Juwelen auf Brot verzichten muss.“

Mit stummer Zustimmung und gewissem Erstaunen, blickte Marie Thérèse ihrem Vater in die Augen. Wenn das Volk dann endlich aufhörte, ihr immer wieder Todesangst einzujagen, verzichtete sie gern auf derlei Dinge, von Herzen gern. Und überhaupt – hatte sie das nicht längst getan – schon damals in Versailles, an jenem Silvestertag, als die Mutter ihr und den Geschwistern all die wunderbaren Spielsachen vorenthielt, weil sie dem Volk vom dafür erforderlichen Geld Decken und Brot kaufen wollte? Trotzdem hatte es die Bastille gestürmt, dann Versailles und sie schließlich sogar nach hierher gezwungen. Nein, dachte die Dauphine. Gedankt hatte das Volk ihr schon den damaligen Verzicht nicht. Immer unersättlicher dünkte es sie.

Angesichts der herrlichen Sachen, war ihr der Verzicht damals schwer gefallen. Schließlich war sie noch ein Kind gewesen und nicht so verständig wie heute, mit bald zwölf Jahren.

Nie zuvor hatte Marie Thérèse gewagt, Worte ihres Vaters, des Königs, anzuzweifeln. Aber – hatte sie jetzt wirklich richtig verstanden –, das Volk würde leiden? Das konnte Marie Thérèse sich nicht vorstellen. War es nicht vielmehr umgekehrt? Sie litten doch unter ihm.

Wie hätte es Marie Thérèse anders empfinden können, wo sie doch Tag und Nacht seiner Launenhaftigkeit ausgesetzt waren, sich von ihm plagen, drangsalieren und bedrohen lassen mussten, wann immer es ihm beliebte.

Juwelen! Wie sollte sie Juwelen vermissen, wo sie doch mittlerweile ungleich Profaneres, was es in ihrem Versailler Leben im Überfluss gegeben hatte, kaum noch vermisste?

Ihre Eltern, hauptsächlich die Mutter, beklagten in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft im Palais des Tuileries, dass es hier an standesgemäßem Luxus mangele, ließen Gemälde, Möbel, Geschirr, Kleider und vieles mehr aus Versailles kommen. Freilich kehrte damit auch für Marie Thérèse, Louis Charles und Ernestine ein Stück ihres vertrauten Lebens zurück. Dass all jene Dinge, mit denen sie die Sicherheit ihrer vergangenen Kindheit verbanden, nun zu Requisiten ihrer eigenen Tragödie gerieten, verstanden die Kinder nicht. Für sie fühlte sich einfach alles irgendwie falsch an, und dass sie nicht wussten, warum, erschwerte es ihnen nur.

Da mochte Marie Antoinette noch so bestrebt sein, ihnen ihre Kindheit zu erhalten, etwa Gleichaltrige zum Versteckspiel einladen.

Spätestens nach Stunden zerstörten erneute Schmährufe oder gar eindringende Revolutionäre die Illusion, es wäre alles wieder gut, und draußen erstreckten sich die friedlichen Versailler Gärten.

Zwar war auch das Palais des Tuileries von Gärten umgeben, aber vor sämtlichen Türen und Toren standen Nationalgardisten in ihren blauweißroten Uniformen.

„Um uns zu beschützen“, versicherte Marie Antoinette immer wieder, doch so leicht wie früher ließ sich die Dauphine jetzt nichts mehr vorgaukeln. Die Geschehnisse der letzten Monate hatten ihrer Seele die meisten kindlichen Illusionen ausgetrieben. Seit ihrer Erstkommunion galt sie ohnehin als junges Mädchen und durfte täglich mit den Eltern und der Tante Elisabeth speisen, blickte allzu erwachsen aus ihrem breiten Halskragen aus glänzendem, schwarzen Taft.

Uns beschützen..., überlegte sie immer wieder. War es denn vielleicht nicht eher so, dass die Nationalgardisten sie bewachten?

Dieser Frage wollte Marie Thérèse eines Tages auf den Grund gehen und wagte einen Blick in das Gesicht eines dieser Soldaten. Lag es nur daran, dass der Dreispitz es überschattete, oder war es tatsächlich so düster?

Als bald darauf, in den frühen Abendstunden, wilde Burschen und Weiber um das Palais tobten, gebot er ihren Schmährufen jedenfalls kaum Einhalt. „Keine Not mehr an Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen unter uns!“

Immer wieder fragte die Dauphine ihre Mutter, warum sie das täten und was sie damit eigentlich meinten. Sie erhielt stets dieselbe Antwort: „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, mein Kind. Das sind Verrückte, ein Haufen Verrückter!“

„Aber warum dürfen sie das? Warum dürfen sie uns zwingen, hier zu bleiben? Vater ist doch der König!“

Anfang Juni glaubten die Kinder, er hätte die Monster bezwungen, denn sie fuhren mit Eltern und Hofstaat vor die Tore der Hauptstadt, ins Schloss von Saint-Cloud. Dort erinnerte vieles an Versailles und nährte unendliche Wochen lang die Illusion der Kinder, nun wäre endlich alles wieder gut.

Umso mehr schockierte es sie, als die Mutter ihnen ihre Rückkehr ins Palais des Tuileries ankündigte. „Euer Vater, der König, muss aufs Marsfeld, zu einer Truppenabnahme“, erklärte Marie Antoinette. „Freut euch, es gibt ein großes Fest.“

Die Dauphine war irritiert. Obwohl ihre Mutter sich hörbar mühte, fröhlich zu klingen, konnte sie den traurigen Unterton in ihrer Stimme nicht gänzlich unterdrücken.

Der vierzehnte Juli 1790 wurde ein gigantisches Fest unter bewölktem Himmel – für das Volk und sogar für den Dauphin, der neben seiner Mutter auf der Tribüne saß. Unterhalb des von einem Baldachin überragten violetten Throns, war sie angebracht.

Mit großen, strahlenden Augen verfolgte Louis Charles das Aufmarschieren der Truppen und begeisterte sich am Donnern der Kanonen, das von zweihundert Musikern begleitet wurde. Gegenüber der Tribüne führten vier Treppenstufen aufs Podest zum darauf errichteten Altar. Rings um ihn herum, entstiegen Räucherpfannen betörende Düfte. Engelsfiguren wandten sich von der Nordseite des Altars dem Volk zu.

Assistiert von Abbé Louis und umgeben vom königlichen Hofkaplan sowie den Militärgeistlichen der Nationalgarde, alle in langen, weißen Messgewändern mit tricolorefarbenen Schärpen, zelebrierte nun Talleyrand die Messe, der Bischof von Autun.

Als erster leistete anschließend La Fayette, der Vizepräsident der Nationalversammlung, auf dem Altar seinen Treueschwur auf die Verfassung.

Gekleidet in eine schwere Staatsrobe aus schwarzweißer, von Gold durchwirkter Seide, saß Marie Thérèse an der anderen Seite der Königin. Sie kannte ihre Mutter zu gut und spürte deren Anspannung, trotz der würdevollen Haltung. Sie wusste, wie trefflich die Königin etwas vortäuschen konnte, auch Begeisterung.

Ihre Anspannung übertrug sich auf die Tochter. Ohne die tiefere Bedeutung seiner Rede zu verstehen, lauschte sie den väterlichen Worten, die versprachen, sich treu an das Gesetz zu halten und mit all seiner Kraft die Artikel der Verfassung zu respektieren.

Respektieren... sich ans Gesetz halten... Der Vater hatte längst weitergesprochen, da hallten diese Worte noch nach in Marie Thérèses Kopf. „Ist denn der König nicht selbst das Gesetz?“, flüsterte sie ihrer Mutter zu, aber die gebot ihr zu schweigen und richtete ihre versteinerten Zügen auf die vielen Köpfe des Volkes ringsumher. Es gefällt ihr auch nicht, was der Vater da macht, dachte das Mädchen und hörte wieder aufmerksamer hin, bekam gerade noch das Ende seines Schwurs auf die Verfassung mit. Danach brach allgemeiner Jubel aus. „Hoch, hoch – hoch lebe der König – hoch! Die Königin – sie lebe hoch!“

Am liebsten hätte Marie Thérèse mitgejubelt, weil das Volk ihre Eltern offensichtlich wieder liebte – ihren Vater, den König – und auch ihre Mutter, die Königin.

Doch sie hatte ja gelernt, wie sich eine Dauphine zu benehmen hatte und schwieg würdevoll, während das Herz in ihrer Brust vor Freude hüpfte – vor Freude und Erleichterung. Denn wenn das Volk den Eltern nicht mehr zürnte... Ihre Gedanken stockten. Aber da war ja noch sie und Louis Charles und Ernestine und Maman Mackau und... Sie alle, die es doch auch angefeindet hatte, ließ das Volk jetzt nicht hochleben.

Trotz aller Freude endete dieser Tag für Marie Thérèse mit nagenden Zweifeln im Herzen.

Nur allzu bald sollten die sich bestätigen. Man versuchte zwar, es vor den Kindern zu verheimlichen, aber die allgemeine Unruhe im Schloss war einfach zu verräterisch. Hellhörig geworden, erhaschten sie, dass ein Mann in die Schlossgärten eingedrungen sei, um die Königin zu ermorden. Daraufhin versammelten sich wieder Menschen vor dem Palais des Tuileries, stürmten und plünderten es. Nur mit Mühe verhinderte die königliche Leibgarde ein Eindringen in Marie Antoinettes Gemach, worin sie sich zurückgezogen hatte, ihre Kinder eng an sich gepresst.

Am dreizehnten November musste der König Zuflucht im Dachgeschoss suchen.

Das Volk – so dachte Marie Thérèse –, ist und bleibt ein Monster, eine Bestie, der ich nie wieder trauen darf.

Ein Dekret, das die Nationalversammlung Mitte desselben Jahres erließ, stürzte den König im darauffolgenden Frühling in einen großen Gewissenskonflikt.

Bei den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, erfuhr auch Marie Thérèse davon. Jenes Dekret, die „Zivilkonstitution des Klerus“, verlangte Priestern ab, einen Bürgereid auf die Verfassung zu schwören. Der Papst erklärte es am zehnten März 1791 zum Schisma.

Durfte demnach Louis XVI. Die österliche Kommunion vom Pfarrer von Saint-Germain-l'Auxerrois empfangen? Schließlich hatte der den Eid geleistet.

Mit Bangen verfolgte Marie Thérèse, wie ihr Vater am Palmsonntag nach der Messe des nichtbeeideten Kardinals de Montmorency den beeideten Pfarrer mied.

Schnell musste es sich unter der Nationalgarde herumgesprochen haben. Als die königliche Familie aus der Kapelle ins Freie trat, bildete sie nämlich kein Spalier.

Umso sehnlicher erwartete Marie Thérèse die morgige Abreise nach Saint-Cloud. Doch kaum war die Kutsche abgefahren, so stand sie wieder. Warum?

Fragend sah das Mädchen zu seinen Eltern, aber aus deren Mienen sprach nur dieselbe Unruhe. Blicke durch die Fenster mied Marie Thérèse, wusste sie doch, was sich ihr bieten würde. Dem Lärm entsprechend, mussten sich die Monster in unüberschaubarer Zahl vor dem Palais des Tuileries versammelt haben, wollten die königliche Familie offenbar verabschieden – auf ihre übliche Art und Weise.

Das kannte die leidgeprüfte Dauphine ja mittlerweile, wenn sie sich auch niemals daran gewöhnen würde. Die Hände schweißverklebt in den Schoß gedrückt, den Blick über die Köpfe ihrer Eltern hinweg auf das Kutschendach gerichtet, verharrte sie bangend, während die Pferde der Nationalgardisten um das Gefährt herum tänzelten und wieherten. Dazwischen wurde ab und zu das Weinen des Dauphins hörbar. Madame de Rambaud versuchte vergebens, ihn zu beruhigen.

Das Volk schimpfte und schimpfte, steigerte sich immer lauter in seine Wut hinein – wie lange noch? Wie lange noch konnten die Nationalgardisten es davon abhalten, die Kutschen zu stürmen? Und wollten sie das überhaupt? Immer mehr unter ihnen stimmten in die Schmährufe mit ein.

Marie Thérèse rutschte hin und her in ihrem durchschwitzten Kleid, glaubte seit Ewigkeiten hier zu sitzen. Irgendwann bemerkte sie, wie ihre Mutter den Vater auffordernd ansah. Zunächst ignorierte er es, richtete seit geraumer Zeit seine unbewegte Miene stur geradeaus. Plötzlich wandte er sich zum Fenster und erkundigte sich bei einem der Nationalgardisten, ob er fragen dürfe, was denn so lange die Abfahrt behindere.

Er klingt nicht wie ein König, fuhr es der Dauphine durch den Kopf, eher wie ein Diener.

Der Soldat lachte und pflanzte sein Bajonett vor der Kutsche auf. Andere machten es ihm nach. „Welche Abfahrt, Monsieur?“

Niemals zuvor hörte Marie Thérèse, dass jemand ihren Vater so ansprach, zumal ein einfacher Nationalgardist. Monsieur. Beschämt, als hätte man auch sie mit dieser unpassenden Anrede gekränkt, suchten ihre Blicke Zuflucht auf Louis XVI. Gesicht. Sie fanden nur Ratlosigkeit.

Und die Mutter? Marie Thérèse meinte die Tränen hinter ihren Augen förmlich zu sehen und wusste doch: Sie würde ihnen keinen freien Lauf lassen, eher sterben.

Das Mädchen sah auf seine Füße, die in zierlichen Schnallenschuhen steckten, dann erneut zum König und flehte stumm: Bitte, bitte, Vater, helfen Sie mir. Ich ertrage es hier nicht mehr. Ich muss hier raus.

Unbeholfen tröstend, tätschelte er die Hand seiner Tochter und rief: „Wir steigen aus. Wir bleiben hier, gehen zurück ins Schloss!“

Der kleine Dauphin flüchtete in seine Traumwelt, aber Marie Thérèse achtete seit jenem Tag besonders aufmerksam auf die Erwachsenen und spürte, dass etwas vor sich ging, dass ihre Eltern etwas planten. Verheißungsvolle Gefühle keimten in ihr auf, ähnlich wie in der Vorweihnachtszeit, aber ungleich stärker, hoffnungsvoller. Und wie vor Weihnachten, wich jeder ihren neugierig forschenden Fragen aus.

Dann – kaum war sie richtig eingeschlafen –, wurde sie eines abends um zehn geweckt und spürte schlaftrunken, wie ihr etwas übergestreift wurde. „Schnell, schnell, Madame Royal!“, trieb Madame de Tourzel sie zur Eile an. Hinter ihr wartete ungeduldig die Mutter und eilte mit ihnen durch einige Zimmerfluchten, über eine Treppe und endlich durch eine unbewachte Glastür auf den Fürstenhof.

Noch zu sehr vom Schlaf umfangen, erkannte Marie Thérèse in dem vermeintlichen Kutscher, der sie in dunkler Juninacht empfing, nicht Graf Axel von Fersen.

Erst halbwach in dem Fiaker, auf der Place du Petit-Carroussel, dem kleinen Karussellplatz, fiel ihr auf, dass sie unter einem Schultertuch aus Linon ein Kattunkleid trug, nur mit blauen Sträußchen verziert. Auch ihr Bruder steckte in einem Kleid. Was sollte das bedeuten?

„Sie heißen jetzt Amélie und sind meine Tochter. Ich bin die Baronin Korff“, antwortete Madame de Tourzel, bevor das Mädchen etwas fragen konnte und beschwor sie, sich das fest einzuprägen.

Marie Thérèse überlegte einen Moment und nickte dann. Was das alles genau bedeutete, begriff sie zwar noch nicht, wohl aber, dass ihr ein großes Abenteuer bevor stand.

Kurz hinter Paris, hielt der Fiaker auf freiem Feld, direkt neben einer bequemen Reisekutsche, einer Berline. Nachdem alle umgestiegen waren, setzte sich Fersen mit seinem Kutscher Balthazar auf den Bock und trieb die Pferde an.

Marie Thérèse wehrte sich gegen den Schlaf. Nur diffus bekam sie mit, wie sich, etwa eine halbe Stunde später, Graf von Fersen von ihnen verabschiedete, vor dem Posthaus in Bondy. Dann wiegte sie die anfahrende Berline in einen tieferen Schlaf.

Als Marie Thérèse durch Stimmen erwachte, die leise miteinander tuschelten, schlief sie nicht sofort wieder ein, sondern blinzelte in graues Dämmerlicht.

Schemenhaft gewahrte sie Gestalten, die ihr gegenüber saßen. Deren Stimmen waren ihr vertraut, aber die Kleidung... „Ich bin die Baronin Korff, wissen Sie noch?“, hörte sie Madame de Tourzel plötzlich neben sich fragen und erinnerte sich. „Ich bin deine Gouvernante, Madame de Rochet“, erklärte gleich darauf die Mutter, die ihr gegenüber saß. Ja, sie war es, trotz ihres schlichten Kleides. Dann wies sie zwischen Marie Thérèse und Madame de Tourzel. „Und dies hier ist dein Schwesterchen Aglaé.“

Marie Thérèses Blick fiel auf den schlummernden Bruder. Mein Schwesterchen, hallte es wider in ihrem Gedächtnis, untermalt von süßer Melancholie. Doch vernehmliches Räuspern vermied ein Versinken darin. Neben der Mutter saß ein Herr mit galoniertem Lakaienhut auf rötlichgrauer Perücke, in flaschengrünem Gehrock – ihr Vater, der König. Verschwörerisch zwinkerte er seiner Tochter zu und stellte seine Schwester als Gesellschafterin Rosalie vor. Die wiederum degradierte ihn mit gespielt herablassendem Ton zum Kammerdiener Durand.

Unter grauem Himmel, sauste draußen eine friedlich schlafende Landschaft vorbei – ohne Geschimpfe und Gebrüll, geradezu gewöhnungsbedürftig.

Das zwölfjährige Mädchen horchte. Nachdem nicht mal ein Käuzchen die Stille brach, lehnte es sich zurück, anfangs noch steif. Dann endlich schmiegte sich sein Rücken an die Lehne, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen.

Am späten Vormittag stiegen sie aus, um auf einer Wiese eine Pause einzulegen und etwas zu essen. Suchend sah Marie Thérèse sich um. Wo die zweite Kutsche sei, fragte sie. „Die mit Ernestine und Maman Mackau?“

Verlegen blickte die Gouvernante zu Marie Antoinette. „Madame de Mackau und Ernestine kommen nicht mit“, eröffnete die Königin ihrer Tochter und fügte hinzu in deren entsetztes Gesicht, es ginge ihnen gut. „Sie befinden sich in keiner Gefahr.“

Schlagartig verflog Marie Thérèses Appetit. Aber nachdem die Gouvernante ein Tuch übers Gras gebreitet hatte und sie darauf Platz nahmen, bestand ihre Mutter darauf, dass sie etwas zu sich nahm.

Lustlos biss Marie Thérèse in ein hartgekochtes Ei. Da sah sie Köpfe hinter hohem Gras. Die gehörten zu Feldarbeitern, welche zwischen Wiesen hindurch einem Weg folgten, der genau auf die rastende Familie zuführte.

„Du bist plötzlich so bleich. Ist dir nicht gut?“, erkundigte sich Marie Antoinette. Marie Thérèse schüttelte den Kopf und wies auf die Nahenden.

„Wir sollten einsteigen“, riet die Königin. „Besser nicht“, widersprach Madame Elisabeth. „Das könnte verdächtig anmuten. Man hat uns, glaube ich, bereits gesehen.“

Im Flüsterton mussten die Kinder noch mal hersagen, wer sie und die anderen seien.

Da hatten die Feldarbeiter sie auch schon erreicht, zogen ihre Hüte und verbeugten sich so ehrfürchtig wie erstaunt. „Gott zum Gruß, Euer Majestät.“

Verblüfft, wie er war, reagierte der König verzögert, lächelte dann erfreut und meinte, nachdem die Feldarbeiter vorbei gezogen waren, zu seiner Familie: „Auf dem Land scheint man noch zu wissen, was sich ziemt.“

Sogar Marie Thérèse vergaß für einen Moment ihren Kummer über den Verlust der Freundin und lachte befreit auf. Alsbald setzten sie ihre Fahrt fort – fast schon fröhlich, als unternähmen sie einen Ausflug.

Die Gesichter wurden erst wieder ernst, als sie nachmittags um sechs, drei Stunden nach der verabredeten Zeit, die Ortschaft Pont-de-Somme-Vesle in der Champagne erreichten. Von den bewaffneten Einheiten, die sie von hier aus weiter begleiten sollten, war nämlich weit und breit nichts zu sehen. Ratlos blickten sie einander an.

„Dann fahren wir eben allein weiter“, beschloss der König kurzerhand. Alle stimmten schweigend zu.

Erschöpft trabten die Pferde in Sainte-Ménehold ein. Irritiert durch die geplatzte Verabredung, hatte auch die Stimmung der Flüchtenden gelitten. Fiel Postmeister Drouet ihre Nervosität auf, während er die Pferde wechselte? Zumindest, so argwöhnte die Familie, ruhte sein Blick auffallend lange auf dem vermeintlichen Kammerdiener.

Doch nachdem sie weiterfahren durften, schoben sie ihr Misstrauen auf die heikle Lage, in der sie sich befanden. Allmählich ermüdete Louis Charles und wurde von den Frauen quer über deren Schöße gebettet. Trotzdem schlief er nicht ein, sondern begann zu quengeln.

Marie Thérèse wurde vor allem durch Langeweile geplagt. Weil sie nichts dabei hatte, womit sie sich beschäftigen konnte, versuchte sie, Interessantes in der vorbeiziehenden Landschaft zu entdecken. Ein paar Mal meinte sie, in einiger Entfernung hinter der Berline einen Reiter zu sehen und teilte es den anderen mit. Die reagierten aber nicht darauf. Reiter auf der Landstraße waren schließlich nichts Ungewöhnliches. Und gebeutelt durch die Erschütterungen, verursacht von holprigen Straßen und Wegen, mochten sich die Erwachsenen nicht mit ihr unterhalten.

Louis Charles quengelte längst nicht mehr, als die Berline in finsterer Nacht – etwa um elf –, Varennes erreichte. Die Müdigkeit hatte den Siebenjährigen übermannt. Schon zum dritten Mal wurden die Pferde, ebenfalls am Ende ihrer Kräfte angelangt, nun schon durch dieselben Straßen und Gassen von Varennes getrieben. Wo war bloß die hiesige Poststation?

Entnervt hielten sie. Das müsse ein Ende haben, entschloss sich die Königin, stieg aus und klopfte an die Türen einiger Häuser. Marie Thérèse, zu übermüdet, als dass sie hätte schlafen können, fühlte Angst in sich aufsteigen und hätte ihre Mutter am liebsten zurückgehalten.

Doch es war sowieso zu spät. Nacheinander erglühten in ganzen Häuserreihen Lichter. Der Ort erwachte – überraschend schnell. Eine Glocke läutete Sturm. Männer mit Gewehren umringten die Berline. Ohne um Erlaubnis zu bitten, riss ein stämmiger Mann, der sich offensichtlich noch nicht zu Bett gelegt hatte, den Wagenschlag auf. „Die Pässe!“, verlangte er, hörbar verärgert über die späte Störung.

Der König dachte nicht daran, dass er „nur“ ein Kammerdiener war und wollte den Mann maßregeln. Gerade noch rechtzeitig stieß seine Schwester ihm ihren Ellbogen in die Rippen und meinte pikiert: „Dürfen wir zunächst erfahren, wer hier so rüpelhaft eine harmlose Reisegesellschaft 'begrüßt'?“ Dabei wies sie auf Louis Charles, der aus dem Schlaf geschreckt war. „Wie Sie sehen, haben Sie völlig unnötigerweise die kleine Tochter der Baronin Korff geweckt.“

Auf dieses Stichwort, barg Madame de Tourzel tröstend Louis Charles' Gesicht an ihrer Brust. Ohne weitere Worte reichte Madame Elisabeth dem Mann die Pässe.

Durch ihr resolutes Auftreten, hatte sie tatsächlich Bedauern in ihm hervorgerufen. Wesentlich höflicher, stellte er sich als Krämer Sauce und Bürgermeister von Varennes vor und trat beiseite, damit Marie Antoinette wieder einsteigen konnte. Trotz schützender Dunkelheit achtete sie darauf, ihn ihr Gesicht nicht sehen zu lassen.

Allen Wageninsassen stockte der Atem, während der Bürgermeister die Pässe begutachtete. Endlich nickte er, reichte sie Madame Elisabeth zurück und war im Begriff, den Wagenschlag zu schließen – da verharrte seine Hand inmitten der Bewegung.

Alle Flüchtlinge hörten das Hufgetrappel, aber nur Marie Thérèse durchzuckte instinktiv die Erkenntnis: Das ist der Reiter, den ich unterwegs gesehen habe.

„Halt! Nicht abfahren lassen!“, rief auch schon Postmeister Drouet, der den König in Pont-de-Somme-Vesle erkannt hatte und vom Stadtrat hinterhergeschickt wurde.

Tochter von Frankreich

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