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I

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Verborgen zwischen den Falten des Vorhangs am Bett ihrer Mutter Marie Antoinette, lauschte die achtjährige Marie Thérèse den Worten des Leibarztes. Dabei waren diese Worte an ihren Vater, König Louis XVI., gerichtet. Alles konnte Marie Thérèse nicht verstehen, denn immer wieder stöhnte und schrie die Mutter vor Schmerzen. Wie krank mochte sie wohl sein? Sie würde doch nicht etwa sterben?

Aus Angst um sie hatte Marie Thérèse sich hier versteckt. Nein, sie konnte ihre Mutter jetzt nicht alleine lassen, verkrampfte ihre schweißnassen Finger in den Vorhangstoff und presste ihren Rücken gegen das prachtvolle Blütenrankenmuster der Brokatpaneele an der Wand. Wenn sie nur artig wäre, bei ihr bliebe und den lieben Gott inbrünstig darum bäte, dann würde er ihr die Mutter nicht fortnehmen. So hoffte Marie Thérèse.

Ob es vielleicht etwas mit dem zornigen Volk zu tun hatte, dass es der Königin so schlecht ging? Jedenfalls sprachen Vater und Leibarzt darüber, soviel verstand das Kind. Es verstand überhaupt viel mehr, als sie Erwachsenen glaubten. Die sprachen oft achtlos in Gegenwart der Kinder über die politische und wirtschaftliche Lage Frankreichs, über den Unmut des Volkes, seinen Zorn auf die Monarchen. Angstvoll und auch wütend schnappte Marie Thérèse solche Worte auf. Wie konnte das Volk denn ihrer Mutter zürnen, ausgerechnet ihr, die den Armen doch so viel gab, die Bälle für Kinder veranstaltete und sogar die Bürgerlichen dazu einlud? Das Volk sollte Kuchen essen statt Brot, sollte die Mutter einmal gesagt haben. Marie Thérèse konnte darüber nicht genug staunen. Kuchen für die Armen. So großzügig war die Mutter. Marie Thérèse mochte Kuchen allemal lieber als Brot.

Allein bei dem Gedanken daran knurrte ihr der Magen, so laut, dass sie fürchtete, er könnte sie verraten. Doch schon im nächsten Moment dachte sie nicht mehr an Kuchen und Magenknurren. Was hatte der Arzt eben gerufen? Es kommt! Was kam? Sehen konnte Marie Thérèse kaum etwas durch den dicken, mit goldenen Stickereien durchwirkten Brokat des in grün und rosé gemusterten Vorhangs, nur schemenhafte Bewegungen des Mannes. Der beugte sich nun wieder über ihre Mutter. Vor Schmerzen wand sich ihr Leib. „Ich sehe den Kopf.“

Fast hätte Marie Thérèse alle Vorsicht vergessen und am Vorhang vorbei gespickt. Wovon sprach der Arzt? Wessen Kopf sah er? Auch der Vater schien vor Neugier zu platzen. „Was ist es?“, hörte Marie Thérèse ihn fragen. Der Arzt antwortete nicht. Stattdessen schrie die Mutter wieder, so laut, wie das Kind hinterm Vorhang sie noch nie hatte schreien hören. Erschrocken hielt es sich die Hand vor den Mund. Zu spät. Der Schrei war ihm bereits entwichen. Marie Thérèse starrte entgeistert in das Gesicht ihres Vaters, der ihr mit einer Bewegung seiner großen Hand den Vorhang entrissen hatte. Ihre Lippen bebten, brachten das „verzeiht Vater“ nicht heraus. Auch Louis XVI. fand vor Überraschung keine Worte, schob seine Tochter an der vergoldeten Balustrade entlang, welche das Bett vom übrigen Raum abgrenzte, zur Tür. Sie rannte hinaus, blieb aber hinter der angelehnten Tür stehen und presste ein Ohr dagegen. Ein schwaches, dünnes Stimmchen drang zu ihr. War das möglich? Jetzt begriff Marie Thérèse. Sie hatte ein Geschwisterchen bekommen. Wie schön und wie ärgerlich zugleich! Endlich hätte sie sehen können, woher die kleinen Kinder kamen, und was war? Sie hatte alles verpatzt! War es vom Himmel herabgeschwebt, vielleicht durchs Fenster? Das stand offen. Marie Thérèse hatte es beim Hinauseilen genau gesehen, schon zuvor den Luftzug gefühlt. Aber warum musste ihre Mutter so furchtbar schreien?

Plötzlich erinnerte sich das Mädchen an ein Gespräch zwischen zwei Hofdamen, das sie vor einiger Zeit belauscht hatte. Da erzählte doch eine der anderen, bei der ersten Niederkunft sei die Luft im Raum durch die vielen Leute so schlecht gewesen, dass die Königin ohnmächtig geworden sei. Deshalb hätte der König beim nächsten Mal keine Anwesenden mehr geduldet, außer ihm und dem Leibarzt.

Wie auch immer, reimte sich Marie Thérèse zusammen, es musste sehr anstrengend sein, ein Kind zu bekommen, zumindest für die Mutter. Noch immer stand das Mädchen hinter der Tür und lauschte. Nur die Stimmen der beiden Männer waren zu hören. Sie klangen aufgeregt, aber was sie berieten, konnte Marie Thérèse nicht verstehen. Ob die Mutter wieder in Ohnmacht gefallen war, trotz des offenen Fensters und des leeren Raumes. Nun, sie, Marie Thérèse, war ja noch drin gewesen. Aber sie konnte ihrer Mutter nicht viel Luft genommen haben, hatte ja fast nicht zu atmen gewagt.

Das Mädchen fieberte vor Aufregung. Hier durfte sie nicht stehen bleiben, wenn sie nicht wieder ertappt werden wollte, aber sie musste wissen, wie es ihrer Mutter ging. Maman Mackau, die Untergouvernante, ja, die sollte nach ihrem Befinden fragen.

So schnell ihr weites, langes Kleid es zuließ, eilte Marie Thérèse durch die Privaträume der Königin und erreichte eben die Treppe, die zu den Räumen unterhalb der Spiegelgalerie führte, als ihr die Gesuchte, Baronin Marie-Angélique de Mackau, auch schon entgegenkam. Unterstützt durch das elegante, dunkle Gewand, welches die Würde ihrer fortgeschrittenen Jahre betonte, und die hochgesteckte Frisur, verriet ihr energischer Schritt Ärger, noch bevor das Mädchen ihn von den Gesichtszügen ablesen konnte. Es verharrte.

Frau von Mackau hatte sie gesucht, natürlich. Es war Anfang Juli und draußen fast dunkel, also Schlafenszeit. Doch Marie Thérèse wehrte jeden Anflug von Schuldgefühl ab wie eine lästige Fliege, reckte das Kinn und sah ihrer Gouvernante standesbewusst entgegen. „Verzeihen Sie, Maman Mackau, wenn ich mich verspätet habe, aber ich muss dringend zu meiner Mutter. Bitte melden Sie mich bei ihr.“ Noch während sie sprach, bereute Marie Thérèse ihren hochmütigen Ton. Frau von Mackau gehörte nicht zu jenen, die sich von einer Achtjährigen, und sei sie auch Frankreichs Dauphine, verunsichern ließ. Sie nahm das Mädchen an der Hand und führte es die Treppe hinab. Die Kleine folgte zwar, warf aber laufend Blicke zurück, so dass sie zu stolpern drohte. Da nahm die Erzieherin ihren Kopf in beide Hände und sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Die Königin muss jetzt für Ihr Geschwisterchen da sein, Madame Royale.“

Ungläubig und entrüstet zugleich weiteten sich die Kinderaugen. „Sie wussten davon?“

Anstelle einer Antwort zog Frau von Mackau die Prinzessin mit sich fort und lächelte amüsiert. Hochnäsiges Geschöpfchen, diese kleine Madame Royale, dachte sie bei sich. Übt sich frühzeitig im Regieren und Kontrollieren.

Noch während sie in ihrem Schlafgemach entkleidet wurde, rang Marie Thérèse innerlich mit ihrer Empörung. Alle schienen von diesem wichtigen Ereignis gewusst zu haben, nur ihr hatte man es vorenthalten. „Und mein Bruder?“

„Der Dauphin schläft schon lange“, antwortete die Gouvernante.

Marie Thérèse wusste, sie würde nicht einschlafen können, nicht, bevor sie erfuhr, wie es ihrer Mutter ging. Dennoch konnte sie sich erst zu ihrer Bitte überwinden, als die Erzieherin das Zimmer verlassen wollte. „Maman Mackau...“

Die Angerufene blieb im Türrahmen stehen und wandte sich zu ihrem Zögling um.

„Bitte sagen Sie mir, ist meine Mutter wohlauf?“

Prüfend blickte Frau von Mackau dem Mädchen ins Gesicht. Den Hochmut, den hat sie von ihrer Mutter, dachte sie dabei wieder einmal. Und die Augen, diese ausdrucksvollen, leicht vorstehenden, blauen Augen – die, so wie jetzt, auch bitten können, wenn ihr etwas wirklich am Herzen liegt.

Bei diesen Gedanken schwand die Strenge auf dem Gesicht der Gouvernante. „Ihre königliche Hoheit ist nur etwas müde, Madame Royale – so wie Sie. Schlafen Sie gut.“ Damit zog sie die Vorhänge vors Fenster, schloss die Tür hinter sich und ließ das Kind mit seinen Gedanken allein.

Marie Thérèse wartete, bis das Klacken der hochhackigen Schuhe Frau von Mackaus auf dem Parkett verhallte. Dann schälte sie sich aus ihren seidenen Decken und tapste barfüßig zum Fenster. Beiläufig schnappte sie sich einen der gebratenen Hühnerschlegel vom Teller auf der Kommode neben dem Bett, knabberte aber nur nervös darauf herum. Sie war nicht hungrig, hatte auch kaum etwas zu Abend gegessen. Umso mehr als sonst üblich, stand nun als nächtliche Mahlzeit für sie bereit und erfüllte die stickige Luft mit dem Duft nach Fleischsuppe, Brathühnchen, hartgesottenen Eiern und einigen Flaschen Bordeaux. Marie Thérèse achtete kaum noch darauf, gehörten doch diese Dinge seit ihrem Säuglingsalter zum nächtlichen Inventar ihres Gemachs, gewissermaßen eine Art essbare Dekoration. Allmorgendlich wurden sie von den Zimmerlakaien abgeräumt und auf deren eigene Rechnung verkauft.

Die Mutter war also nur müde, laut Frau von Mackau. Das musste an dem neuen Kind liegen. Was es wohl war? Erst ein gutes Jahr zuvor, im März 1785, hatte die kleine Prinzessin ein Brüderchen bekommen. Das war plötzlich einfach da gewesen, lag in seiner Wiege wie eine lebendige Puppe.

Vorsichtig zog Marie Thérèse die Vorhänge auseinander und spickte hinaus in den Garten, der sich ab der letzten Stufe hinter der Spiegelgalerie endlos weit erstreckte. Kamen sie allein, die kleinen Kinder? Nein. Augenblicklich verwarf Marie Thérèse diesen Gedanken. Sie konnten ja nicht laufen, und Flügel wie die kleinen Putten, von denen so viele überall auf Wandmalereien und als vergoldete Figuren im Schloss herumschwebten, flogen und spielten, die hatten sie auch nicht. Sie mussten also gebracht werden. Oder – bei diesem Gedanken ließ das Mädchen vor Schreck das Hühnerbein fallen – verloren sie womöglich nach der Landung ihre Flügel?

Nein, nein, sie wurden gebracht, bestimmt wurden die Kinder gebracht, ganz sicher. Aber von wem?

Marie Thérèses Blick versuchte den Garten zu durchdringen – Bäume, Sträucher, ja, Wolken, die vom Wind getrieben wurden und sich zu bizarren grauen Figuren am schwarzblauen Himmel verzerrten. Dann fiel ihr ein, dass man offenbar im Bett liegen musste, um ein Kind zu bekommen. Immer, so erinnerte sie sich, wurde vom „Wochenbett“ gesprochen. Sie wandte sich um. Ob ihres den Ansprüchen eines solchen „Wochenbettes“ wohl genügte? Ein richtiges, lebendiges Kind, das wäre doch tausendmal schöner und interessanter als die prächtigste Puppe. Vielleicht, so überlegte Marie Thérèse, war dieses Wesen, das die kleinen Kinder brachte, noch in der Nähe und hatte noch eines für sie dabei. Mit diesem Gedanken legte sie sich zurück in ihr Bett und stellte sich schlafend.

Indem keine Reize ihre Augen mehr ablenkten, wurden ihre Ohren hellhöriger und glaubten endlich, Stimmen und Geräusche wahrzunehmen, Rascheln von Reifröcken, leises Klirren aneinander schlagender Armreifen. Ein Lufthauch, wie wehende Fächer ihn für gewöhnlich verursachen, strich über ihre Stirn. Oder war es der Flügel eines Engels? Ihn bloß nicht verscheuchen!

Marie Thérèse rührte sich nicht. Nur ihre zitternden Lider hätten einem Betrachter verraten, wie unruhig die Pupillen dahinter waren. Allmählich formten sich Worte aus dem Gewisper und Geflüster um sie herum. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Kindes, als es zu verstehen glaubte: Du hast ein Brüderchen bekommen – ein kleines, feines Brüderchen.

Marie Thérèse schlug die Augen auf. Helles Tageslicht drang durchs Fenster, abgemildert durch die mit bunten Blüten gemusterten Vorhänge. Die Gesichter der Hofdamen ihrer Mutter beugten sich über das Mädchen, lächelten verheißungsvoll. Dazwischen erschien das Frau von Mackaus. „Aufstehen Madame Royale“, grüßte sie freundlich. „Sie haben ein Schwesterchen bekommen.“

Ungläubig erwiderte Marie Thérèse ihren Blick. „Ein Schwesterchen“, kam es schlaftrunken über ihre Lippen.

Sie hat es noch nicht begriffen, missdeutete die Gouvernante des Mädchens Erstaunen und strich ihr über die Stirn. „Ja, eine kleine Sophie – Marie Sophie Helene Beatrice.“

Stumm formten Marie Thérèses Lippen die Namen nach. Ein Schwesterchen – sie konnte es noch immer nicht glauben.

Während überall im Land sogar verunreinigtes Roggenbrot immer knapper und somit unerschwinglicher wurde und hungernde Arbeiter und Tagelöhner manch Großbauern und Kaufleute verdächtigten, Getreide zu horten, um es auf diese Weise künstlich zu verteuern, speiste man bei Hofe allerfeinstes Weißbrot. Darüber hinaus vertilgte allein Louis XVI. bereits morgens um sechs ungeheuere Mengen an Gebratenem und Gesottenem.

Abgeschirmt vom Volkszorn, der darüber brodelte und kochte, genossen Marie Thérèse und ihre Geschwister, dass sich die Mutter im Sommer des Jahres 1786 vorrangig ihnen widmete. Der tiefere Grund dafür wurzelte freilich darin, dass man an ihrer Unschuld bezüglich der so genannten „Halsbandaffäre“ zweifelte.

Marie Antoinette trotzte der höfischen Etikette, ließ ihren Kindern luftige Baumwollkleider mit weiten Ärmeln anziehen und flüchtete, wann immer sie konnte, mit ihnen vor der Öffentlichkeit in die Idylle ihres Dorfes Hameau. Erst vor wenigen Jahren war es im Park des kleinen Trianons erbaut worden – ein Spielplatz mit Mühle, Hühnerstall, Taubenschlag, Molkerei-Käserei und Ställen, alles malerisch gelegen an den Ufern eines Sees. Hier konnte die verwöhnte Königin, gemäß der Naturlehre Rousseaus, nach Herzenslust Bäuerin spielen, ohne mit der realen Not ihrer Vorbilder konfrontiert zu werden.

Und waren sie oder die Kinder des Melkens und dergleichen leid, so lockte das große Trianon. Dieses einstöckige Gebäude lag an den Grenzen von Versailles. Es war zwar weniger prunkvoll, als das nahe gelegene Schloss, bot aber dennoch einen einladenden Anblick mit seinen beiden Seitenflügeln, deren Fassaden aus einem gleichmäßigen Wechsel von Pfeilern und großen Bogenfenstern bestanden und mit weißem und rosa Marmor verkleidet waren. Verbunden wurden sie durch einen Säulenhof, den der König selbst entworfen hatte. Er führte in einen Garten, dessen Bepflanzung den strengen geometrischen Formen der übrigen Versailler Gärten unterworfen war, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab.

An dieser Pracht durften selbst Bürgerliche teilhaben – zumindest gelegentlich und falls sie gut gekleidet waren, was gering Betuchte von vornherein ausschloss.

Vor allem Marie Thérèse war es zu verdanken, dass im Herbst nach der Geburt des Geschwisterchens wieder einmal ein Kinderball im großen Trianon stattfand. Lange zuvor saß das Mädchen in seinem Ankleidezimmer vor der Spiegelkommode und ließ sich von zwei Zofen herrichten, unter strenger Aufsicht Frau von Mackaus. Mehrere Flaschen Lavendelwasser, Tiegel mit Pomade und Reispuder wurden angebrochen, seidene Bänder ins Haar geflochten, dann durch andere ersetzt, die der kleinen Prinzessin besser gefielen, so dass ihr Stuhl schließlich umgeben war von einem bunten Meer aus Seidenstoffen.

Als Stunden später alle Beteiligten sie zufrieden umstanden, glich Marie Thérèse in ihrem weit ausladenden, golddurchwirkten und mit Perlen sowie Juwelen bestückten Damastreifrock verblüffend einer Miniaturausgabe ihrer Mutter. „Mousseline-la-sérieuse“ hätte ihr Onkel, der Graf von Artois, sie wieder einmal nennen können, wäre er da gewesen.

Endlich nahm die königliche Gesellschaft in mehreren Kutschen Platz und fuhr, entlang der weitläufigen Gärten, deren Farben in der untergehenden Sonne ein letztes Mal aufleuchteten, beim großen Trianon vor.

Standesbewusst empfing die Dauphine ihre kleinen Gäste, das Haupt mit der hochgesteckten und durch den Reispuder künstlich gealterten Rokokofrisur stolz erhoben, so stolz, dass keiner der wenigen Bürgerlichen es wagte, sie anschließend zum Tanz aufzufordern. Den kleinen Herzögen und Grafen, entsprechend hergerichtet, winkte die Gnade ihrer hohen Geburt. „Traut euch!“, schien sie ihnen zuzurufen, „bewerbt euch beizeiten um den Platz an der Seite von Frankreichs Dauphine“, während ihre erwachsenen Begleiter insgeheim auf eine solch hervorragende Partie spekulierten. Doch auch von diesen Blaublütigen fanden zunächst nur zwei den Mut, unter den Blicken der anderen die Gunst Marie Thérèses zu erbitten. Der etwas jüngere dieser beiden, etwa neun Jahre alt, trat rasch auf die Prinzessin zu, als er hinter sich seinen Nebenbuhler bemerkte, und forderte sie mit artiger Verbeugung zum Tanz.

Nicht gerade begeistert folgte ihm Marie Thérèse von ihrem rotsamtenen Bänkchen aufs Parkett. Der andere wäre ihr lieber gewesen, aber das verbarg sie hinter ihrem hochmütigen Blick. Ein Lächeln? Nein, der hier sollte froh sein, dass sie ihn überhaupt erhörte.

Mit zierlichen Schritten tanzten die Kinder ein Menuett, bald gefolgt von anderen Paaren. Immer noch saßen viele auf den mit Samt überzogenen Bänken an den mit vergoldetem Stuckwerk und Spiegeln verzierten Wänden – abwartend, gelangweilt, manche auffallend schüchtern. In Grüppchen standen einige Mädchen herum, warfen verstohlene Blicke auf die Tanzenden, besonders auf Marie Thérèse, kicherten in sich hinein und tuschelten miteinander. Zuvor hatten sie sich vergewissert, dass kein Erwachsener in unmittelbarer Nähe weilte und sie beobachtete. Nicht einmal den Anschein durfte es haben, dass jemand sich der Prinzessin gegenüber ungebührlich verhielt. Und sie selbst, wie empfand Marie Thérèse ihre Sonderstellung? Mit einigen der Mädchen war sie von vorigen Bällen her bekannt, und während sie sich von ihrem kleinen, sichtlich stolzen Kavalier zu den Klängen der Musik übers Parkett führen ließ, schweiften ihre Blicke immer wieder ab.

Da! Die, die gerade scheu wegschaute, als ihr Blick sie traf, war das nicht jene Tochter des Kammerdieners Lampriquet und dessen Gattin Marie-Philippine, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit auf Anordnung der Mutter mit ihr speisen durfte, der sie sogar Ehrerbietungen erweisen sollte? Marie Thérèse hatte ihren Namen vergessen, nicht aber ihr Gesicht. Keines der beiden Mädchen hatte bei jenem Mahl viel verzehrt, die Prinzessin aus Empörung und die andere aus sichtlicher Beklemmung.

Marie Thérèses Blicke waren ihrem Tanzpartner nun so lange untreu gewesen, dass der kleine Graf sich vernachlässigt fühlte und sie ansprach, aber er musste seine Worte wiederholen, denn ihre Gedanken hatten sich allzu weit von ihm entfernt. „Danke, ich befinde mich sehr wohl“, entgegnete sie geistesabwesend, verabschiedete sich mit einem Knicks und ließ ihn stehen.

Auf einer der Bänke, etwas abseits in einer Nische, hatte sie Louis Joseph entdeckt, ihren Bruder. Das Gesicht des meist ernsten und nachdenklichen Fünfjährigen wirkte heute noch schmaler als sonst. Die weiße Schminke und das Grau seiner Perücke taten ihr Übriges dazu, ihn weit älter wirken zu lassen. Marie Thérèse setzte sich zu ihm und ergriff besorgt seine Hand. „Was hast du, möchtest du nicht tanzen? Geht es dir nicht gut?“

Louis Joseph zwang sich zu einem Lächeln. „Warum sollte ich mich noch im Tanzen üben?“

Erschrocken sah die Schwester ihn an. „Warum? Aber du wirst tanzen müssen, noch viel, sehr viel sogar. Denk nur, du bist doch der Thronfolger. Wenn...“ Sie stockte, denn sie hatte bemerkt, dass er ihr nicht wirklich zuhörte. Sanft, fast mit dem Ausdruck eines wissenden Greises, ruhten seine Augen auf ihr. Marie Thérèse fühlte einen Stich im Herzen. Was machte ihr auf einmal solche Angst? Sie verstand es nicht, fühlte nur, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Irgendetwas bedrohte ihre heile Kinderwelt. Marie Thérèse wollte das nicht zulassen, wehrte es ab. Trotz lag auf ihrem Gesicht, als sie sich dem Jungen zuwandte, der plötzlich vor ihr stand und sie zum Tanz aufforderte.

Marcel Charier war es nicht leicht gefallen, das zu tun. Aber er wusste, er würde hier wohl zum ersten und gleichzeitig zum letzten Mal sein, denn die vorschriftsmäßige Kleidung, die er trug, gehörte ihm nicht. Ein Freund, der kurz vor dem Ball erkrankt war, hatte sie ihm heimlich geliehen und musste sie spätestens morgen zurück haben. Unmöglich hätte Marcels Vater, ein Kleinbauer, seinen Sohn so ausstaffieren können. Jetzt oder nie, sagte sich der Junge. Einmal mit einer Prinzessin tanzen, mit der Dauphine Frankreichs. Also hatte er sich ein Herz gefasst. Oh, wie es raste in seiner Brust, als er nun vor ihr stand, und seine Beine... Lange konnten die nicht mehr stillstehen. Schon wankten ihm die Knie. Doch die Prinzessin schien ihn nicht erlösen zu wollen. Warum sah sie ihn so feindselig an? Trotzdem konnte Marcel den Blick nicht von ihr wenden. Hinter ihrer stolzen Stirn, da verbarg sich noch etwas anderes, das spürte er genau. Und hinter seinem Rücken?

Da lauerten Marie Antoinettes Hof- und Ehrendamen. Ja, er glaubte bereits zu fühlen, wie ihre neugierigen Blicke sich in seinen Rücken bohrten.

Marie Thérèse betrachtete das Gesicht des Jungen. Hätte es einem Adligen gehört, dann hätte es ihr gefallen können, oh ja. Aber behaftet mit dem Makel des Bürgerlichen... Ein letzter Hauch von Sorge um den Bruder wich aufkeimendem Ärger. Warum nur hatte ihre Mutter keinen adligen Jungen eingeladen, der aussah wie dieser hier? Marcel Charier – kein Graf, kein Herzog, nein, einfach nur Marcel Charier. Würden die anderen Mädchen königlichen Geblüts sie nicht auslachen, wenn sie erfuhren, sie habe mit einem Marcel Charier getanzt? Und dennoch hätte sie es gern getan, zu gern.

„Nein“, hörte sie sich sagen und zog zornig ihre Stirn in Falten, „bedaure, ich bin unpässlich.“

Marcel verstand sehr wohl, was das wirklich hieß. Bis unter die Wurzeln seiner dunklen Locken spürte er, wie sein Gesicht rot anlief. Durchhalten, beschwor er seine Beine, haltet durch, wenigstens für einen ehrenhaften Abgang.

Leider konnte Marie Thérèse nicht mehr sehen, wie gut ihm dieser gelang, denn sie war schon aufgesprungen und durchquerte jetzt den Saal. Seltsamerweise hielt sich nämlich ihre Mutter bei solchen Begegnungen oft in der Nähe auf und nahm sie anschließend beiseite. Eine hochmütige Natur mache sich nicht beliebt, musste sich die kleine Prinzessin dann belehren lassen.

Artig erwiderte Marie Thérèse die Verbeugungen der an ihr vorüber schreitenden Hofdamen und versuchte, zwischen deren ausladenden Reifröcken den Marie Antoinettes auszumachen. Als es ihr nicht gelang, entspannte sie sich allmählich, und gleich bot sich ihren Augen ein passendes Objekt, um einen doch noch aufflackernden Funken von Schuldbewusstsein zu ersticken. Dabei handelte es sich um jene Tochter eines Kammerdieners. Schüchtern, fast scheu, stand sie da mit dem Rücken zur Wand, als wüsste sie nicht, wohin. Jetzt fiel der Prinzessin auch ihr Name wieder ein – Ernestine Lambriquet. Erfreut darüber, wäre Marie Thérèse beinahe auf sie zu gerannt, als ihr eben noch einfiel, dass sich das in einem Ballsaal nicht schickte, vor allem nicht für sie. Also raffte sie gekonnt elegant ihr Kleid an beiden Seiten und trippelte auf Ernestine zu. Die wirkte noch schüchterner, als sie bemerkte, dass die Prinzessin nahte und wäre gern nach hinten ausgewichen, am liebsten durch die Wand. Weil das natürlich unmöglich war, verbeugte sie sich untertänig.

„Nun richte dich wieder auf“, forderte Marie Thérèse ungeduldig, nahm das Mädchen an der Hand und zog es mit sich fort. „Hast du schon getanzt?“

„Nein, Madame“, erwiderte Ernestine.

„Ich durchaus“, sagte Marie Thérèse, ohne sich nach ihr umzusehen, „aber nun habe ich keine Lust mehr.“

Innerlich widerstrebend folgte Ernestine der kleinen Prinzessin zum hinteren Ausgang, der in den Garten führte. Was mochte die im Schilde führen?

Ein milder Luftzug wehte von draußen herein und bauschte die Kleider der Kinder. Marie Thérèse ließ Ernestines Hand los, drehte sich lachend im Kreis und tanzte dabei in den Garten hinaus. „Komm, tanz mit mir!“

Ernestines innere Anspannung löste sich. Für Augenblicke tanzten beide Mädchen gleichberechtigt, wie Blüten vom Wind getrieben, über Wiesen und Beete. Dann und wann leuchteten die bunten Kleider im grauen Dämmerlicht auf.

„Komm!“, rief Marie Thérèse atemlos, „ich zeige dir mein Schwesterchen.“

Ernestine warf einen unsicheren Blick zum Trianon zurück. „Ich weiß nicht, meine Mutter wird sich um mich sorgen.“

„Bis die uns vermissen, sind wir längst wieder da“, meinte die Prinzessin.

Achselzuckend folgte ihr Ernestine. So recht überzeugt war sie davon zwar nicht, doch wie hätte sie Madame Royale widersprechen können? Obendrein fühlte sie sich geehrt. Die Prinzessin zeigte sicher nicht jeder Hergelaufenen ihr Schwesterchen. Also ließ sich Ernestine durch die Versailler Gärten führen, vorbei an riesigen Wasserbassins und Springbrunnen mit Statuen, deren schattenhafte Umrisse vor dem marmorgrauen Himmel gespenstisch anmuteten. Unweigerlich ergriff sie die Hand Marie Thérèses, ließ sie aber gleich darauf erschrocken los und entschuldigte sich.

„Fürchtest du dich?“, fragte die Prinzessin mitfühlend. Ernestine nickte stumm.

„Das brauchst du nicht“, belehrte sie Marie Thérèse. „Die stehen alle hier, um uns zu beschützen.“

Das Laufen in den spitzen Seidenschuhen erwies sich als beschwerlich. Bald bezweifelte auch Marie Thérèse, dass sie rechtzeitig zurück sein würden, wenn sie das gegenüber Ernestine auch nie zugegeben hätte. Als sie die breite Treppe erreichten, die zum Spiegelsaal führte, verzog Ernestine das Gesicht.

„Was hast du?“, fragte Marie Thérèse vorwurfsvoll. „Willst du mein Schwesterchen nicht sehen?“

„Das ist es nicht“, versicherte Ernestine schnell. „Mir tun bloß die Füße so weh.“

Marie Thérèse seufzte. „Mir auch. Aber jetzt sind wir ja gleich da.“ Zielstrebig führte sie ihre Begleiterin durch die Spiegelgalerie in den angrenzenden Saal des Friedens, von wo aus sie in die im Südflügel gelegenen Prunkgemächer der Königin gelangten. Überall an den Türen standen Kammerlakaien. Sie grüßten die Prinzessin und schauten anschließend wieder scheinbar unbeteiligt vor sich hin. Nur einer, der gerade den Kamin im Schlafzimmer der kleinen Sophie beheizt hatte, wandte sich nach seiner Verbeugung nochmals zu den Kindern um und betrachtete sie nachdenklich. Dann trat er in den Friedenssaal und ließ seinen Blick durchs Fenster schweifen.

„Es scheint, da braut sich was zusammen“, wurde er von einem anderen Kammerlakaien angesprochen und nickte. Tatsächlich hatte der Wind aufgefrischt und dunkle Wolken herangetrieben. „Nicht nur da. Ich heizte eben das Gemach der kleinen Madame. Andere Kinder werden sicher im kommenden Winter erfrieren oder verhungern – oder beides. Wer weiß, wie lange das Volk die Not noch hinnimmt.“

Mit einem Ausdruck des Erstaunens in den Augen sah Sophie aus ihrem spitzenbesetzten Häubchen zu ihrer Schwester und deren Begleiterin auf. Letztere weilte allerdings gedanklich noch woanders. „Wieso sah der Kammerlakai uns so seltsam an?“, dachte sie laut.

Marie Thérèse hörte nicht hin. Auf Kammerlakaien pflegte sie selten zu achten. Weit mehr beschäftigte sie die Frage, wieso ihre Schwester hier ganz alleine lag. Wo mochte die Herzogin von Polignac sein? Oder eine andere ihrer Gouvernanten, Madame de Soucy, die Tochter Madame de Mackaus?

Sophie streckte ihre kleinen Händchen aus, grabschte den Mädchen in den Gesichtern herum und brabbelte vor sich hin.

„Oh, das kitzelt“, kicherte Ernestine.

Marie Thérèse hob das Kind aus der Fülle spitzenbesetzter Kissen, drückte es an sich und stellte insgeheim fest, dass es weit schwerer wog, als sie angenommen hatte. „Komm, wir nehmen sie mit ins Spielzimmer.“

Soll die Polignac ruhig erschrecken, wenn sie die leere Wiege sieht, überlegte die Prinzessin unterwegs auf dem Flur. Doch stattdessen wurde sie zur Rechenschaft gezogen und das ausgerechnet vor Ernestine. „Madame, wie können Sie die Kleine einfach aus der Wiege nehmen?“, kam die Herzogin von Polignac ihr vorwurfsvoll entgegen und nahm sie ihr aus den Armen.

Marie Thérèse lief rot an, gleichermaßen vor Wut wie vor Beschämung. „Verzeihen Sie Madame, aber Sie waren abwesend. Ich sorgte mich um meine Schwester.“

Grinsend wies die Herzogin zum Spielzimmer. „Und da wollten Sie mit ihr spielen gehen. Haben Sie nicht genügend Puppen aller Art, Madame?“

„Gewiss“, konterte Marie Thérèse, „aber nur eine Schwester.“

Stumm wohnte Ernestine der Szene bei. Vielleicht konnte sie sich damit einen Vorwurf ersparen, vielleicht übersah man sie einfach, wie so oft. Doch wie hatte sie auch nur für einen Augenblick vergessen können, dass Menschen untergeordneter Klasse nie übersehen wurden, wenn man ihnen etwas anlasten konnte. „Und du“, traf sie auch gleich der scharfe Blick der Herzogin, „hast die Prinzessin zu diesem Unsinn verleitet.“

Ernestine wusste nicht, was sie sagen sollte, blickte hilfeheischend zu Marie Thérèse. „Ich wollte ihr mein Schwesterchen zeigen“, bekannte diese.

Die Herzogin lachte auf, ging in Sophies Schlafzimmer und legte sie in ihre Kissen zurück. Dann erst wandte sie sich wieder den Mädchen zu. „Dazu hätten Sie noch oft Gelegenheit gehabt, Madame. Ihre königliche Hoheit veranlasste bereits, die kleine Lambriquet hier aufzunehmen. Ja, sie wird künftig hier bei Ihnen wohnen und sogar mit Ihnen unterrichtet werden“, fuhr die Herzogin fort in Ernestines bestürztes Gesicht.

Lauthals krähend brach Sophie das eintretende Schweigen. Marie Thérèse, die wusste, wie zwecklos es war, sich gegen Beschlüsse ihrer Mutter zu wehren, schupste die Wiege an, so heftig, dass der Säugling erschrak und verstummte. Sogleich beschwichtigte ihn die große Schwester, bedeckte sein Gesichtchen mit Küssen. Vielleicht war es gar nicht so übel, Ernestine bei sich zu haben. Den Rang konnte sie ihr ohnehin nicht streitig machen, sagte sich die Prinzessin. Und hatte sich Ernestine heute Abend nicht als sehr umgänglich erwiesen, wenn auch ein wenig ernst und einsilbig.

Falls nur Gleichberechtigte miteinander Freundschaft schließen könnten, so hätte Marie Thérèse schlechte Karten gehabt. Über ihr standen, von den Eltern mal abgesehen, nur ihre beiden Brüder, unter ihr die ganze übrige Hofgesellschaft.

Wirklich? Es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste es wissen. Die Oktobersonne besaß nicht mehr genug Kraft, um Räume und Flure unangenehm aufzuheizen. Trotzdem schlug die Dauphine eines frühen Nachmittags einen Fächer auf, während sie mit Ernestine zum Südflügel spazierte. Kichernd tänzelte sie über den Flur, drehte sich im Kreis, hielt den Fächer aus Elfenbein, Papier und Federn kokett vors Gesicht und spickte darüber hinweg.

War es Zufall?, fragte sich Ernestine, als der Fächer ausgerechnet dann zu Boden fiel, während Madame de Tourzel nahte? Mit hoheitsvoller Geste, bedeutete die Dauphine ihrer Gouvernante, ihn aufzuheben. Die gehorchte und reichte ihn ihr.

Doch Marie Thérèse blieb kaum Zeit, ihren Triumph auszukosten, weil kurz darauf die Königin ihr den Fächer entriss und demonstrativ zu Boden warf. „Heb ihn selbst auf.“

Ernestine sah sie nicht kommen und erschrak fast noch mehr, als die Dauphine, bückte sich reflexartig nach dem Fächer. Dann hielt sie aber in der Bewegung inne und verfolgte aus einem Blickwinkel, wie Marie Thérèse ihn aufhob und geschwind damit fort eilte. Ernestine holte sie ein, warf prüfende Seitenblicke auf sie. Zornig und beschämt zugleich, reagierte Marie Thérèse nicht darauf. Wie konnte die Mutter sie nur so bloßstellen, vor den Augen der Gespielin!?

Erst später gestand sie sich ein, dass sie diese Schmach selbst provoziert hatte. Denn hätte sie nicht längst wissen müssen, dass ihre Mutter sie mit Ernestine auf eine Stufe stellte?

Der Gedanke, mit der Freundin könnte das Ganze vielleicht gar nichts zu tun haben, sollte Marie Thérèse erst Jahre danach kommen. Vorerst nahm sie an, es gäbe außer Sophie noch jemanden, der ihr ebenbürtig sei – Ernestine. Dabei verhielt die sich nicht dementsprechend, sondern fügte sich in alles. Was immer auch Marie Thérèse mit ihr unternehmen oder spielen wollte, Ernestine schien das Gleiche zu wünschen. Jedenfalls widersprach sie nie. Eigentlich hätte Marie Thérèse es schön finden können, eine so gleichgesinnte Freundin zu haben, wenn, ja, wenn sie gewusst hätte, ob Ernestine wirklich immer einer Meinung mit ihr war. Was, wenn sie sich nur dazu verpflichtet fühlte? Zwar setzte die Prinzessin das voraus, hätte sich aber doch gefreut, wenn Pflichtgefühl und Neigung bei ihrer Gesellschafterin eins gewesen wären. Gerade darüber war sich Marie Thérèse niemals völlig im Klaren. Und – so erstrebenswert sie es auch fand, immer an erster Stelle zu stehen, so langweilig konnte es ihr werden. Langeweile kann reizbar machen, und so geschah es immer öfter, dass Marie Thérèse ihrer Gefährtin einzureden versuchte, sie wolle doch etwas ganz anderes, als sie behaupte und wage bloß nicht, es zuzugeben. So trieb sie die arme Ernestine bisweilen in völlige Verwirrung, denn die dachte, seitdem sie mit der Prinzessin erzogen wurde, nie mehr über ihre eigenen Wünsche nach. Überzeugt davon, dass sie alles tun und lassen wollte wie diese, widersprach Ernestine ihr nie.

Aber war das nicht auch eine Art von Ungehorsam? Wenn Madame Royale nun unbedingt Widerspruch verlangte, hatte sie ihn ihr dann nicht zu geben?

Die kleine Ernestine, mit derlei Gedanken hoffnungslos überfordert, aß kaum noch, fand nachts keinen Schlaf und konnte den Ansprüchen, die Marie Thérèse tagsüber an sie stellte, immer weniger gerecht werden.

Weiterhin bestrebt, ihrer Tochter den vermeintlichen Hochmut auszutreiben, ordnete Marie Antoinette eines Mittags an, dass Ernestine bei den Mahlzeiten zuerst bedient werden sollte. Die Mädchen hatten nach anstrengendem Musikunterricht im Garten Fangen gespielt und waren hungrig zu Tisch geeilt. Doch so laut Ernestines Magen knurrte, sie starrte nur fassungslos auf all die Köstlichkeiten, die ihr aufgetischt wurden. Nichts davon rührte sie an, auch nachdem die Prinzessin bedient worden war.

Marie Thérèse, ebenso verblüfft, sah den Diener an. Er musste sich geirrt haben. Gleich würde er sich vor ihr verbeugen und um Verzeihung bitten. Aber nichts dergleichen geschah – im Gegenteil. „Anordnung Ihrer Majestät, der Königin“, verkündete er Marie Thérèse mit festem Blick, verbeugte sich knapp und zog sich zurück. Die Prinzessin sah ihm nach, vergebens. Er wandte sich nicht um. Dann schaute sie in Ernestines bleiches Gesicht.

„Verzeihen Sie“, stammelte das Mädchen.

Marie Thérèse spürte, wie ihre Welt aus den Fugen geriet, blickte die bittende Freundin an. Sollte die nun ihre Stellung einnehmen und womöglich sogar – den Platz im Herzen ihrer Mutter?

Wie zu Stein erstarrt, saßen beide Mädchen vor ihren gefüllten Tellern, unfähig, sie anzurühren.

„Warum speisen Sie nicht – Madame Royale, Madame Lambriquet?“

Unbemerkt von den Kindern, war Frau von Mackau eingetreten. Marie Thérèse fand zuerst ihre Stimme wieder. „Maman Mackau“, heftete sie flehentlich ihren Blick auf die Gouvernante. „Bitte sagen Sie mir, warum zürnt mir meine Mutter?“

Erstaunt hob Frau von Mackau die Brauen. „Wieso glauben Sie, Ihre königliche Hoheit könnte Ihnen zürnen, Madame Royale?“ Dann betrachtete sie die unberührten Gerichte. „Oh, ich verstehe. Ich selbst gab die Anweisung Ihrer königlichen Hoheit an den Diener weiter.“

Marie Thérèse erstarrte innerlich noch mehr. Dann war es also wirklich kein Irrtum gewesen. „Dann...“ Ihr Blick fiel auf Ernestine. „Dann ist sie jetzt die Dauphine?“

Die Tochter des Kammerdieners wandte sich mit bebenden Lippen an die Gouvernante, brachte aber kein Wort heraus.

Beruhigend strich Frau von Mackau ihr über den Kopf. „Schon gut, mein Kind. Madame Royale lässt dir heute den Vortritt beim Speisen, um dir ihren Großmut zu erweisen. Großmut“, so fuhr sie fort, nun an Marie Thérèse gerichtet, „ist eine Eigenschaft, auf die kein Königskind verzichten darf.“

Die Prinzessin rang mit sich. Keiner sollte sehen, wie sehr sie insgeheim zitterte und bangte, keiner. Noch hatte sie nicht ganz verstanden, was Frau von Mackau ihr eigentlich sagen wollte, nur eines: Sie war immer noch die Dauphine Frankreichs. Heißhungrig griff sie nach ihrem silbernen Besteck, aß hastig und verschluckte sich fast.

Damit löste sich Ernestines innere Erstarrung. Endlich begann sie zu speisen, wenn auch wesentlich verhaltener.

Schon wenige Tage darauf beendete ein unerwarteter Kälteeinbruch das ausgelassene Treiben der Gespielinnen in den Schlossgärten. Zwar bot das Schlossinnere mit seinem Labyrinth aus Fluren, Stiegen und Verbindungstüren reichlich Gelegenheit für Fang- und Versteckspiele, doch statt Blütenduft atmete man hier Moder und Fäkalien. Und brach sich auch in noch so vielen Facetten der kristallenen Lüster das Licht, so konnte es doch eine gewisse Schwermut nicht vertreiben, die sich mit dem dahinscheidenden Jahr allmählich einstellte.

Besonders auf dem geistig wie seelisch über sein Alter hinaus gereiften Louis Joseph Xavier schien sie zu lasten. Statt stolz und aufrecht, wie es sich für Frankreichs Dauphin gebührte, ging er gebückt. Schmerz durchzog seine ernsten Züge und dominierte sie zusehends.

Die Ärzte diagnostizierten Rachitis. Aufgeschnappt hatte Marie Thérèse den Namen der Krankheit, Seitdem stand er irgendwie zwischen ihr und dem Bruder, wann immer sie ihn sah. Kaum noch wagte sie ihn an sich zu drücken, wie sie es früher gern getan hatte, als er klein war. Nur noch sacht über die Hand strich sie ihm gelegentlich, so zerbrechlich erschien er ihr.

Aber so schlimm sein sichtbares Leid auch für sie war – ungleich schlimmer dünkte Marie Thérèse, was sie weder sehen noch einordnen konnte, wohl aber fühlen – nahendes Unheil. Und sie bemerkte, dass auch ihre Mutter es spürte. Warum sonst wirkte sie seit einiger Zeit so bedrückt, sie, die sonst immer so unbeschwert und ausgelassen war?

Das Ungeheuer musste unsichtbar sein, vielleicht entsprungen aus der Märchenwelt. Doch eines Abends, da konnte Marie Thérèse es spüren. Nachdem sie zu Bett gebracht worden war, stand sie wieder auf und überredete Ernestine, Verstecken mit ihr zu spielen.

Nun kauerte sie hinter einer der vergoldeten Holzstatuen im Spiegelsaal, lange schon. Ernestine hatte sie noch nicht gefunden, oder wollte sie nur wieder nicht? Ein Lakai löschte die Kerzen. Warum nur? Das war doch sonst nicht so. Sie hatten doch genug davon. So gut wie noch nie hatte Marie Thérèse erlebt, dass es an irgendetwas mangelte und wenn doch, so bestellte man es einfach.

Jetzt hockte sie hier im Dunkeln, und alle Geräusche, die ihr sonst vertraut waren, wirkten fremd – das Gekläff der Schoßhündchen, das von angrenzenden Gemächern herüber drang, Stimmen, Gelächter, Musik, die Schritte der Bediensteten, sogar der eigene Atem und Herzschlag. Im Licht der Sonne oder der Kerzen, da erschien es, als strahle die Spiegelgalerie von innen heraus, wie aus eigener Kraft. Da hatten Ungeheuer keinen Zutritt. Unvorstellbar für die kleine Prinzessin, dass es einmal anders sein könnte – bisher. Nun breitete sich mit der Kälte auch Angst in ihr aus. Fast hätte sie gerufen. Doch wer oder was würde dann kommen? Maman Mackau, die anderen Gouvernanten, ihre Mutter – niemand vermisste sie. Jeder glaubte, sie läge im Bett. Oh, wenn das nur so wäre. Das Kind klammerte sich an die Figur, deren goldener Überzug selbst in der Finsternis noch leicht schimmerte. Bald hinterließen ihre Finger feuchte Abdrücke darauf, denn sie begann vor Angst zu schwitzen. Ganz deutlich spürte sie, dass sich in ihrer Nähe etwas aufhielt, etwas Lebendiges. Es musste böse sein, denn warum sonst gab es sich nicht zu erkennen, sondern schlich immer nur um sie herum? Marie Thérèse presste sich noch enger an die Figur. Ach, könnte sie doch in ihr verschwinden. So fest, dass es schmerzte, kniff sie die Augen zusammen, drückte sie gegen das kühle Gold. Aber sie wusste ja längst, dass man auch gesehen werden konnte, wenn man selbst nichts sah. Stumm erbat sie sich Hilfe vom Himmel. Mochte Gott bloß mächtiger sein als dieses Wesen hier. Dann fühlte sie den Griff im Nacken.

„Ich hab Sie!“ Der Triumph in Ernestines Stimme war unüberhörbar. Ha, sie hatte es doch selbst gewollt, hatte sie herausgezerrt aus dem Bett. „Komm spielen, Ernestine“, hatte sie befohlen, die Prinzessin. Und die Gespielin hatte gehorcht, wie immer. Lange war sie suchend umhergeirrt, schlotternd vor Kälte in ihrem Nachtgewand. Tatsächlich wie ein kleines Gespenst hatte sie sich gefühlt, hier in der Spiegelgalerie, als die Lichter plötzlich erloschen. Und als sie die Prinzessin endlich entdeckte, zusammengekauert am Boden hinter dieser Figur, nicht hochmütig wie sonst, da übernahm etwas in Ernestine das Regiment. Endlich machte das Spiel Spaß. Auf leisen Sohlen schlich sie zurück und lauschte, lauschte dem angstvollen Atmen der Prinzessin. Sie, Ernestine, die Tochter eines Kammerdieners, hatte es in der Hand. Mit einem Wort, mit einer Geste konnte sie Marie Thérèse von ihrer Angst erlösen. Aber sie tat es nicht, jedenfalls nicht sofort. Stattdessen schlich sie um dieses Häuflein Elend hinter der Statue herum. War das überhaupt noch Marie Thérèse, die Prinzessin, die Dauphine Frankreichs?

Vorsichtig näherte sich Ernestine und streckte eine Hand nach der Kauernden aus. Wie klein die jetzt wirkte. Aufrecht verharrte Ernestine und hielt ihre Hand über das Haar, das goldblond schimmernd über Marie Thérèses Nacken floss – einen köstlichen Augenblick. Länger ertrug sie ihren Triumph nicht und packte zu.

Marie Thérèse sprang auf. Noch schien sie nicht zu begreifen, dass wahrhaftig Ernestine vor ihr stand.

„Madame, ich habe Sie gefunden. Können wir jetzt zu Bett gehen?“

Die Prinzessin nickte.

Tochter von Frankreich

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