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Die Sonne war aufgegangen an jenem sechsten Oktober 1789, als die Burschen um Marcel herum sich allmählich zerstreuten. Auch die übrige Menge vor dem Palais des Tuileries lichtete sich. Marcel hatte nun freie Sicht und versuchte, hinter den Fenstern etwas zu erkennen, ein Gesicht – vielleicht sogar das von Madame Royal?

Hartnäckig verharrte er und erhaschte endlich tatsächlich eine Bewegung. Aber die Dauphine konnte das nicht sein, es sei denn, sie trüge die Uniform eines Kammerdieners.

Trotzdem konnte sich Marcel nur schwer losreißen. Als es ihm endlich gelang, plagte ihn mit jedem weiteren Schritt in Richtung Rue du Four sein leerer Magen ein wenig mehr, dazu sein Gewissen. Wie konntest du dich so hinreißen lassen?, schalt es. Du bist doch kein kleiner Junge mehr. Was, wenn Meister Dubois dich jetzt rauswirft? Und die Mutter – in welche Lage hast du sie gebracht mit deiner Unbesonnenheit?

So in Gedanken versunken, registrierte Marcel den Burschen nicht, der plötzlich mit zwei Brotlaiben unter den Armen auf ihn zu schoss, spürte nur einen Stoß gegen seine linke Schulter. Unmittelbar darauf blickte er in das Gesicht eines Bäckers – erschrocken, als gelte ihm dessen Zorn. „Wo ist er, der Dieb?“ Der Bäcker rüttelte Marcel an den Schultern. „Wo?“

Der Junge drehte sich um und meinte, fern ein Paar spinnenlange Beine in einer Seitengasse verschwinden zu sehen. Zwar folgte der Bäcker seinem Blick, besaß aber offenbar schlechtere Augen. „Warum hast du ihn nicht aufgehalten?“, reagierte er seinen Zorn an dem Zwölfjährigen ab. „Zwei Laibe hat er mir geklaut, zwei Riesenlaibe!“

Erst jetzt meldete sich Marcels schmerzende Schulter. Er rieb sie und meinte entschuldigend, er habe ihn gar nicht bemerkt.

Der Bäcker hörte nicht zu, wiederholte nur „zwei Riesenlaibe“ und zeigte deren angebliche Größe, die beständig wuchs, mit den Händen, nun auch gegenüber neugierigen Passanten. Etliche kamen gerade erst hinzu, hielten Marcel für den Dieb und riefen nach der Polizei.

Der Beschuldigte zupfte den Bäcker am Kittel. „Aber ich war's doch nicht! Sagen sie denen, dass ich's nicht war, bitte!“

Es nützte nichts. Der Bestohlene war viel zu sehr in sein Leid über den Verlust vertieft. Ich muss hier irgendwie weg, dachte Marcel und entdeckte auch schon eine Lücke hinter sich, zwischen zwei Frauen. Es gelang ihm, hindurch zu schlüpfen. Unglücklicher Weise prallte er aber gegen eine weitere, die eben hinzu trat. „Verzeihung Madame“, wisperte Marcel und rannte, als ginge es um sein Leben. Hinter sich vernahm er nun dieselben Schreie, die vorhin der Bäcker ausgestoßen hatte.

Haken schlagend wie ein Hase, sauste der Junge durch das Gassengewirr. Als er glaubte, vermeintliche Verfolger endlich abgeschüttelt zu haben, hielt er inne, zum Umfallen erschöpft. Minutenlang musste Marcel Luft in seine Lungen pumpen, ehe er sich umsehen und versuchen konnte, sich zu orientieren. Da rauschte etwas. Die Seine? Oder existierte das Rauschen nur in seinem Kopf?

Er ging ein paar Schritte und erkannte, dass es tatsächlich die Seine war, die unter dem Pont Neuf hindurch rauschte. Sein Blick folgte ihr, bis zum anderen Ufer, dann die Mauern des Palais des Tuileries aufwärts. Wie magisch wollten sie ihn auch jetzt wieder festhalten.

Marcel war fast wieder dort, von woher er kam. Und sein Magen verlangte dringender nach Brot denn zuvor. Brot... Ihn hatte man jetzt des Diebstahls bezichtigt, während der wahre Dieb wahrscheinlich irgendwo saß und sich den Bauch vollschlug. Mit köstlichem, herrlich duftendem, backfrischem Brot! Ach, was hätte der Junge dafür gegeben, sogar für nur ein Knäuschen pain balle – jenes minderwertige Brot, dessen Spelzen einen in der Speiseröhre piekten!

Niedergeschlagen sank Marcel in einer engen Seitengasse zu Boden. Bloß nicht weitergehen, nichts bewegen, nicht noch hungriger werden. Doch als sein Blick auf einen Bettler fiel, unweit neben ihm, rückte er rasch von ihm fort. Nein, so elend war er nun doch noch nicht – so allein, verloren und vergessen wie die!

Marcel sprang auf. Seine Mutter, die Werkstatt – er musste doch in die Werkstatt. Konnte er schon wagen, zurück zu kehren? Vorsichtig trat der Junge aus der düsteren Gasse heraus und sah sich um. Er musste, würde die Rue du Four halt aus der anderen Richtung betreten. Wahrscheinlich hatte sich die Menge um den Bäcker herum längst zerstreut und der Bäcker selbst... Der konnte hoffentlich wieder klar denken und sich erinnern, dass er, Marcel, sein Brot nicht gestohlen hatte.

Indem er sich das immer wieder einredete, machte sich der Junge auf den Weg. Seine Chance, unbemerkt in Dubois' Werkstatt und an seinen Arbeitsplatz zu gelangen, war inzwischen natürlich geschrumpft. Hier, auf der Rue Dauphine, die er gerade entlang trottete, hatte sich der morgendliche Tumult um die Rückkehr der Königsfamilie fast gelegt. Gern wäre Marcel gerannt, fürchtete aber, dadurch wie ein Flüchtender zu wirken.

Als er vorsichtig die Rue du Four betrat, sah er zwar nirgends den Bäcker, aber auch sonst kaum jemanden auf Gehweg oder Straße. Einerseits sprach das natürlich dafür, dass sich die Ansammlung tatsächlich zerstreut hatte. Andererseits herrschte dann wohl ebenso in der Werkstatt wieder die übliche Ordnung. Auch in der Rue du Four gehörten Bettler und Obdachlose so sehr zum gewohnten Straßenbild, dass sie niemandem mehr bewusst auffielen – die Vergessenen, die „Unsichtbaren“.

Sonst achtete auch Marcel kaum auf sie, doch plötzlich schienen sie ihre „Tarnkappen“ abgelegt zu haben. Dergestalt ausgelaugt, dass sie die heutige Euphorie gar nicht mehr wahr nahmen, lehnten sie an den Fassaden und stierten mit hungrigen Blicken vor sich hin – Männer, Frauen, Kinder. Aber ein Weib, dem das Kleid fast nur noch in Fetzen anhaftete, taumelte die Straße entlang, als suche es etwas und rief immerzu: „Der Bäcker, wo, wo ist der Bäcker, das Brot, wo?“

Marcel erschrak und begriff erst im nächsten Moment, dass sie nicht den Bäcker von vorhin meinte. Klar, die Parole der Revolutionäre klang ihr noch in den Ohren: „Keine Not mehr an Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen unter uns!“

Keine Not mehr an Brot, dachte Marcel. Sollte das denn tatsächlich wahr werden? Aber wie? Wenn Meister Dubois ihn jetzt hinaus warf, verdiente die Mutter bestimmt nicht genug für sie beide. Er wusste, dann würde sie ihm ihren Teil an Brot geben. Keinesfalls dürfte er das annehmen, sie hungern sehen, womöglich sogar ver... Nein, diesen Gedanken konnte er nicht zu Ende führen!

Vielleicht kürzte Meister Dubois ihm ja nur den heutigen Lohn. Mit jeder Faser seines Körpers, klammerte sich Marcel an diese Hoffnung und betrat die Knopfmacherwerkstatt.

Aus dem Büro drang eine aufgeregte Frauenstimme. Marcel horchte. Seiner Mutter gehörte sie nicht. Eine Idee durchfuhr ihn. Hatte Dubois beim heutigen Tumult überhaupt genau darauf geachtet, wer pünktlich an seinem Arbeitsplatz war? Oder war er gar selbst unpünktlich gewesen?

Sofern ihn von den anderen keiner verriet, konnte Marcel vielleicht unauffällig in die Werkstatt schlüpfen und... Ein Knarren und seine Folgen drohten seinen Plan zu vereiteln. Die

Tür zum Büro musste geöffnet worden sein. Noch lauter hörte er die Frau jetzt schimpfen: „Ich schaff' so viel wie zwei Mannsbilder und krieg' nicht mal den Lohn wie eins! Das soll gerecht sein?“

„Die Zeit, die du hier bei mir vergeudest, zieh' ich dir ab“, entgegnete der Knopfmacher. „Und jetzt schaff' weiter oder scher' dich raus zum Bettelvolk.“

Heulend vor Wut, eilte die Frau an Marcel vorbei, ohne ihn zu registrieren. Direkt hinter ihr schlüpfte er in die Werkstatt und hörte, wie die Tür zuschlug. Hoffentlich hatte der Meister ihn nicht gesehen.

Weil Dubois aus chronischer Sparsamkeit nicht bereit war, in Laternen zu investieren, erhellten Kerzen nur spärlich den düsteren Raum. Trotzdem verlangte er von jeder Arbeiterin flinke Finger beim Garn schneiden, Spulen und Knüpfen an den wackligen Holztischen.

Folglich blickten alle angestrengt auf ihre Arbeit und schienen nicht zu bemerken, wie der Junge zwischen Tischen und Bänken hindurch huschte, zu seinem Platz neben der Mutter. Auch jene, die sich beschwert hatte, saß wieder, das in der Frühe noch freie Haar gezähmt unter einer Haube, unterdrückte ihr Heulen und riss am Faden der Garnrolle, die inmitten des Tisches auf einer Spule steckte.

„Wo warst du so lange?“, flüsterte Amélie. Es klang mehr erleichtert, als verärgert. Marcel hob an zu berichten, aber sie unterbrach ihn gleich. „Schon gut, ich hab versucht, deinen Teil mit zu erledigen, aber leider nicht alles geschafft.“

Erst jetzt gewahrte Marcel den Berg Garnrollen auf seinem Tisch, steckte eine auf die Spule und begann zu arbeiten. Schon bald zeichnete sich ab, dass er die vorgegebene Menge unmöglich bewältigen konnte, trotz der mütterlichen Unterstützung. Obendrein machte sein leerer Magen ihm zu schaffen, konnte dem Gehirn ja keinen Nachschub an Energie liefern, den es dringend benötigte, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Schwindel drohte den Jungen zu befallen.

Endlich rang sich Amélie dazu durch, ihre Mitarbeiterin Julie um Hilfe zu bitten – als plötzlich der Meister eintrat, an den Tischen entlang spazierte und die bisher geleistete Arbeit begutachtete. Selbst bei den Fleißigsten grummelte er unzufrieden vor sich hin und ermahnte andere: „Was gibt’s zu gucken? Los, los, weitermachen! Während ihr mich dumm anglotzt, könntet ihr mindestens eine Rolle geschnitten haben!“

Stumm hefteten alle ihre Blicke auf Garnrollen oder Hände, während Dubois sich über die mangelnden Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts ausließ. Dann erreichte er Marcels Platz und stockte. „Was, noch nicht mehr? Von dir hätt' ich aber was anderes erwartet, Schandfleck meines Geschlechts!“

„Er ist doch erst zwölf“, wagte Amélie zaghaft einzuwenden, feuerte Dubois' Unmut damit aber erst richtig an.

„Erst zwölf? Was hab ich in dem Alter schon leisten müssen! Nichts, nichts, dafür zahl' ich nichts! Der blockiert ja den Platz für einen Besseren.“ Noch während er sprach, packte der Knopfmacher den Jungen am Arm und zerrte ihn von seinem Platz hoch, hin zur Tür. Aufgeregt eilte Amélie ihnen nach, wurde aber barsch von Dubois angefahren: „Willst du gleich mit verschwinden? Na los, draußen warten mindestens zehn Neue!“

„Ich möchte nur rasch meinem Sohn etwas geben“, erklärte Amélie mit gesenktem Blick und drückte Marcel ein Geldstück in die Hand. „Kauf einen Viertelpfünder. Nach Feierabend treffen wir uns draußen.“ Ihre Worte versiegten in Marcels Ohren, denn Dubois hatte ihn bereits durch die Tür geschoben.

Aufgewühlt lief der Junge die Rue du Four entlang und stieß immer wieder gegen Passanten, denn nun wurde ihm tatsächlich schwindlig. Das Geld in seiner Hand – es entglitt seinen

rutschigen Fingern und sprang klimpernd über das Pflaster. Er bückte sich, suchte. Wo lag es – da! Fast geriet seine Hand unter einen Absatz, als sie es aufsammelte. Marcel bekam das jedoch kaum mit, wollte sich wieder aufrichten. Dabei wurde ihm schwarz vor Augen. Er taumelte. „Pass doch auf!“ Nur gedämpft drang der Schrei in seinen surrenden Schädel. Dieses Geräusch dauerte zwar noch an, aber wenigstens lichtete sich nun allmählich das Schwarz.

Wie in Trance, ließ Marcel die Münze in eine Hosentasche gleiten und ging weiter. Wohin, wusste er nicht. Das war gerade völlig unwichtig, ebenso wie sein Hunger. Seltsam – den spürte er auf ein Mal gar nicht mehr. Alles, was er noch spürte, war Scham und zwar eine so unerträgliche, dass er instinktiv versuchte, diesem Gefühl davon zu laufen.

Nicht nur sich selbst hatte er bloß gestellt, sondern – was weit schlimmer war –, auch seine Mutter und das vor aller Augen.

Weiter lief der Junge, immer weiter und stolperte dabei dauernd über die eigenen Füße.

Er wusste nicht, wo er war, als es plötzlich nicht mehr weiter zu gehen schien. Vor ihm drängten sich Leute, hauptsächlich Frauen, mit Körben über den Armen. Marcel empfand nur ein Bedürfnis – vorbei und weiter vor sich hin laufen. Doch die Leute standen zu dicht. „Hör auf zu drängeln!“, keifte ihn eine Stimme an und zerriss damit den dämpfenden Schutzwall, den sein Unterbewusstsein um ihn gebildet hatte. Marcel geriet in Panik, wollte sich wieder einlullen und wich aus auf die Straße. Das taten aber auch etliche vor und hinter ihm. Außerdem war die Warteschlange ziemlich breit und ließ auf der Straße gerade noch genug Platz für den Verkehr. Von rechts keilten die Wartenden den Jungen ein. Von links streifte ihn plötzlich ein heißer, dampfender Pferdeleib. Der Kutscher fluchte und peitschte das Tier durch die Menge. Die versuchte auszuweichen, ihrerseits fluchend oder erschrocken aufschreiend.

Marcel wurde ringsum eingekeilt und fühlte abermals einen Schwindel-Anfall nahen. Wenigstens konnte er in dieser Zwangslage unmöglich fallen, aber als die Kutsche fort war, löste sich das Menschenknäuel um ihn. Die Knie anfangs wacklig, rang Marcel um sein Gleichgewicht, schälte sich aus der Menge und lief vorwärts, an der Warteschlange entlang, bis zu ihrem Kopf. Der steckte in einer Bäckerei.

Brot – ohne, dass Marcel darauf vorbereitet war, meldete sich sein Magen und verlangte vehement nach Brot. Die Wartenden glaubten, er wolle sich vordrängeln, als er stehen blieb und auf die Auslagen der Bäckerei starrte. „Nach hinten!“ „Ans Ende!“, gellte es durch Marcels Ohren. Sein noch immer getrübtes Bewusstsein erkannte nicht gleich, dass die Rufe ihm galten. Erst, als jemand ihn anstieß, schreckte er auf und schlich zurück, ans Ende der Schlange. Inzwischen war sie noch länger geworden.

Seit über einer Stunde stand Marcel schon auf demselben Fleck, als die Sonne sich ihrem Höchststand näherte. Unerbittlich prallte sie auf die Menschen herab, obwohl es bereits Oktober war.

Eine Kopfbedeckung... Marcels Blicke schweiften über das Pflaster. Wie oft hatte er dort alte Zeitungen herumliegen sehen, nur ausgerechnet jetzt nicht.

Die Leute lästerten. Ob denn ernsthaft jemand glaube, dass sich etwas zum Guten verändern werde, jetzt, da der „Bäcker“ wieder unter ihnen sei. „Im Gegenteil!“

Wer ein Brot erstanden hatte, verzog entweder sein Gesicht oder verlieh seiner Empörung Ausdruck. „Schon wieder teurer!“ Nicht mal für ein Dreiviertelpfund habe ihr Geld gereicht, wo sie doch sieben Mäuler zu stopfen habe, beklagte sich eine Hausfrau.

Marcel hörte, wie eine ältere Frau, unweit von ihm wartend, einer anderen von ihrem gestrigen Besuch beim Metzger erzählte. „Das hätten Sie sehen sollen, bloß Knochen und Sehnen. Nicht mal der Hund mag so was anrühren!“ Die andere pflichtete ihr bei. „War bei mir kürzlich genauso, aber die Weiber der Abgeordneten kriegen die feinsten Filetstücke, für kaum den halben Preis!“

„Sie zahlen nicht weniger dafür“, widersprach eine blutjunge Frau, deren Kleidung sie als Dienstmädchen eines Großbürgers auswies. „Aber sie haben halt genug Geld.“

„...und werden obendrein bevorzugt behandelt“, ergänzte die Ältere und beäugte die Junge argwöhnisch. Dass die bloß nicht versuchte, sich vorzudrängeln!

Sie warte, bis sie an die Reihe käme, schien das Dienstmädchen ihre Gedanken lesen zu können und wandte sich zu einer Schwangeren um. „Aber sie hier sollten wir vorlassen.“ Ein Murren ging durch die Menge, wenn auch niemand Einspruch erhob gegen dieses ungeschriebene Gesetz. Also bedankte sich die Schwangere und drückte ihrer Fürsprecherin im Vorbeigehen die Hand.

„Fleisch... Pah!“, nahm eine weitere Anstehende den Gesprächsfaden wieder auf. „Wir wissen gar nicht mehr, wie das schmeckt. Brot mit Zwiegeln drauf, seit Wochen gibt’s das tagein, tagaus!“

„Und wenn's dumm läuft, eben nur Zwiebeln!“, tönte es aus der Schlangenmitte, was Zustimmung aus sämtlichen Bereichen hervor rief. „Ist bei uns genauso!“ „Und bei den Nachbarn.“ Eine lachte bitter. „Man kann's riechen, bis auf die Gass'!“

„Was wir brauchen, sind feste Brotpreise!“, forderte eine Frau vor Marcel. „Weiß Gott!“, stimmte jemand hinter ihm zu.

Von nun an war dem Jungen, als würden ihm die Rufe um die Ohren geschlagen. „Feste Preise, das wollen die ja gar nicht!“ „Wer?“ „Na wer schon? Aristokraten, Händler, Kaufleute, auch Bäcker, halten's Mehl zurück!“ „Ja, halten's Mehl zurück, auch Bäcker!“ „Sagen, s'wär knapp, damit's teurer wird!“ „Haben sich doch alle gegen uns verschworen!“ „Wollen uns ausbluten lassen!“ „Ja genau, ausbluten!“ „Gefügig machen!“

Plötzlich verebbte das Geschrei. Alle horchten auf einen Disput, der sich ganz vorn entzündet hatte, an Lautstärke zunahm und wie ein Feuer durch die Warteschlange lief. „Betrug ist das, Betrug! Viel zu leicht für den Preis und miserable Qualität! Und überhaupt – ihr kauft Korn auf und macht mit den Müllern aus, dass sie es mit verschiedenen Sieben mahlen – fein für die Reichen und grob für uns! Aber kosten tut's uns trotzdem genauso viel!“

Der Bäcker widersprach. Vergebens – seine Worte versanken im allgemeinen Aufruhr.

Marcel wäre gern fortgelaufen, aber erstens konnte er nicht, war von der Menge eingekeilt. Zweitens hatte er nun schon zu lange auf sein heiß ersehntes Brot gewartet, um aufzugeben. Er wusste – vor den anderen Bäckereien sah es nicht besser aus.

Erst, als Kommissare erschienen und mehrere Leute abführten, zügelten die übrigen ihren Unmut. Spürbar war er aber immer noch, mühsam gebändigt hinter verbitterten Mienen.

Am späten Nachmittag trocknete auffrischender Wind Marcels schweißnasse Haut. Nach allen Seiten reckte er sich, wollte sehen, wie fern sein Ziel noch war. Zwischen einigen Wartenden vor ihm wurde die Bäckerei sichtbar. Der Junge glaubte das frische Brot bereits zu riechen und vergaß, den Speichel zu schlucken, der sich schon wieder in seinem Mund gebildet hatte. Endlich – nur noch vier Frauen standen vor ihm, erhielten ihre Laibe, zahlten. Marcel, dem die Münze in der Hand regelrecht schwamm, bat mit zitternder Stimme um einen Viertelpfünder, dann noch mal und noch mal.

So oft der Bäcker und seine Frau auch bedauernd den Kopf schüttelten, angesichts seiner hungrigen Augen – Marcel wollte und konnte nicht begreifen, dass es kein Brot mehr gab.

„Ausverkauft?“, fragte endlich jemand hinter ihm mit banger Stimme. Weitere ertönten, aber davon bekam der Junge nichts mehr mit. Bewusstlos fiel er aufs Pflaster.

Tochter von Frankreich

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