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IV

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An allen anderen Tagen, außer heute, wäre Marcel Charier lieber zur Schule gegangen, obwohl es in dem ehemaligen Pfarrhaus – sogar wenn nur die Hälfte der Schüler kam –, eigentlich viel zu eng und stickig war, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

Außerdem musste sich Marcel meistens von älteren Burschen in eine Ecke drängen lassen, wo nur spärliches Licht den wackligen Tisch erhellte.

Sein Lehrer schien das nicht zu erkennen, sondern bedachte ihn gern mit herablassenden Blicken oder nannte ihn gar einen Esel, wenn er stockend vorlas. Die Buchstaben waren halt viel zu klein und zeichneten sich zu wenig vom Papier ab.

Trotzdem wollte der Zwölfjährige die Schule besuchen, denn sein Geist hungerte nach Lehrstoff mehr, als sein Magen nach Brot. Seit dem Tod des Vaters vor nunmehr fast drei Jahren, musste er jedoch zum Lebensunterhalt beitragen, wie die Mutter.

Sie könnten froh sein, dass sie die Arbeit in Meister Dubois' Knopfmacherwerkstatt bekommen hätten, erklärte sie ihm ständig. Die Miete für das winzige, windschiefe Häuschchen war hoch und Brot nach den letzten, mal verdorrten, mal verhagelten Ernten schier unerschwinglich.

Wochenlang hatte Amélie Charier täglich in Paris um Arbeit regelrecht gebettelt, sich zeitweise sogar als Graillonneuse durchgeschlagen und die Tische in den Restaurants nach Speiseresten abgesucht, um sie weiterzuverkaufen.

Wie immer, weckte sie auch heute ihren Sohn lange vor Beginn der Morgendämmerung und hielt ihn dazu an, sich draußen am Zuber ordentlich zu waschen, bevor er in Hemd, Beinkleid und Holzpantinen schlüpfe. Sie selbst hatte das schon längst getan, denn es war ihr wichtig, nicht zu stinken wie der Adel unter Puder und Parfüm.

Zum Frühstück reichte sie ihrem Sohn die dickere Brotrinde und behauptete, ihre hätte sie bereits verzehrt. „Willst du deine Mutter etwa der Lüge bezichtigen?“, fragte sie streng, als Marcel sie daraufhin ungläubig ansah.

Doch selbst dieses größere Stück schien seinen leeren Magen eher noch zu dehnen. Mit gestreckter Haferschleimsuppe und Wasser versuchte er ihn notdürftig zu stopfen, bevor sie aufbrachen.

Marcel, der das lebhafte Naturell seines Vaters geerbt hatte, wurde unterwegs immer wieder von seiner Mutter ermahnt, keine Kraft durch unnötiges Herumspringen zu vergeuden. Außerdem schüre das den Hunger.

Sie hat ja Recht, dachte der geistig über seine Jahre hinaus gereifte Junge, konnte aber trotzdem nur mühsam seinen Bewegungsdrang zügeln. Fast immer empfand er das Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Jetzt wäre er am liebsten auf den höchsten Baum geklettert, um über die Wipfel der anderen hinweg nach Paris schauen zu können.

Wieder mal zurecht gewiesen, trottete Marcel fügsam neben seiner Mutter her, an Wiesen und Waldsäumen entlang und betrachtete sie dabei unauffällig von der Seite. Verhärmt wirkte sie, fast schon wie eine alte Frau, obwohl noch keine dreißig.

Tatsächlich schien Amélie Charier seit dem Tod ihrer kleinen Tochter Jaqueline im letzten Frühling um Jahre gealtert. Das neuerdings offen über die Schulter getragene Haar war durchzogen von grauen Strähnen. „Wenn das dein Vater noch miterleben müsste“, hatte sie an Jaquelines Grab gesagt und sich insgeheim gefragt, was er dann wohl von seinem 'über alles geliebten und verehrten' König denken würde – einem König, der zuließ, dass die Kinder seines Volkes Hungers starben, während er selber prasste.

Wie immer, wenn sie daran dachte, biss Amélie auch jetzt zornig auf ihre Unterlippe und ballte die Fäuste. Hätte sie sich nicht die halbe Nacht um eine kranke Nachbarin kümmern müssen – sie wäre mitgelaufen nach Versailles!

„Maman, Sie bluten!“, bemerkte Marcel besorgt.

„Was?!“ Amélie hatte ganz vergessen, dass ihr Sohn neben ihr ging und fuhr sich geschwind mit einer Hand über den Mund. „Da ist nur ein Pickel geplatzt!“, stieß sie hervor und spürte Hitze in sich aufsteigen, obwohl die Sonne gerade erst über den Horizont lugte und ihr die erfrischende Kühle noch nicht rauben konnte. Soll bleiben wo sie ist, dachte Amélie – all das Elend im Dunkeln lassen, damit man's nicht auch noch sehen muss. Reicht schließlich, dass es existiert.

Marcel, der nicht ertrug, wenn seine Mutter litt, fand keine erbaulichen Worte, nahm aber tröstend ihre Hand. Fest erwiderte sie deren Druck und warf ihm ein gequältes Lächeln zu, verwuschelte seine braunen Locken. „Bist ein guter Bub.“

„Ach Maman...“, begann Marcel und wusste nicht, was er weiter sagen sollte. Aus einem der strohgedeckten ärmlichen Gehöfte, welche sie passierten, drang wütendes Hundegebell. Auf dampfenden Misthaufen protzten Hähne und wetteiferten darin, den erwachenden Tag zu begrüßen. Er war nicht mehr aufzuhalten.

Über sechs Kilometer lag ihre Heimat-Gemeinde Ivry-sur-Seine nun hinter ihnen, und zusehends lichtete sich der Himmel. Gesäumt von einem feuerroten Band, zeichnete sich am Horizont die Silhouette von Paris ab. Bald würden Mutter und Sohn die Stadt von Südosten aus betreten.

War sie in dieser Nacht überhaupt zur Ruhe gekommen? Oder erwachte Paris heute früher als sonst?

„Maman, hören Sie nur...“ Aufgeregt rannte Marcel voraus und bemerkte erstaunt: „Das kommt vom Palais des Tuileries.“ Auch ihm war der gestrige Aufruf zum Marsch nach Versailles nicht entgangen. „Der König – sie müssen ihn geholt haben. Wir hätten mitmachen sollen!“

„Still“, gebot Amélie und lauschte. Obwohl es durch das Rauschen der Seine überlagert war, sowie durch morgendliche Geräusche aus Häusern und auf Straßen, die zwischen ihnen und dem nördlichen Ufer lagen, vernahm nun auch sie leises Donnern, wie von zahllosen Hufen – dazu ein Rattern, Wiehern, vielstimmiges Rufen, Pfeifen und Trommeln.

„Bleib!“, rief die Mutter und eilte ihrem davon stürmenden Sohn nach, als er nicht gehorchte, ergriff ihn am Arm. „Hör zu, Marcel. Du versprichst mir jetzt, dass du dich da nicht reinmischst.“

Der Junge sah sie verständnislos an. „Aber warum denn, Maman?“

„Warum, warum? Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ Marcel murrte. „Und ich will kein Feigling sein.“

Amélie blieb unnachgiebig. „Besser ein Feigling, als tot! Außerdem“, fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu, „bist du noch lange kein Feigling, nur weil du dich nicht überstürzt in Gefahr begibst.“

Noch keinesfalls von ihren Argumenten überzeugt, sah Marcel seiner Mutter in die hellgrauen Augen. „Ich werde achtsam sein, Maman. Ich verspreche es Ihnen.“

Amélie schüttelte den Kopf. „Du kommst jetzt mit in die Werkstatt.“

Es wäre noch genug Zeit für einen Abstecher zum Stadtschloss, hätte Marcel einwenden können, ließ es aber – so entschlossen, wie seine Mutter geklungen hatte.

Kurz darauf erreichten sie Paris, rochen schon von weitem das typische Gemisch aus Unrat und Fäkalien, das sich in den Straßenrinnen sammelte. Wie gewöhnlich, stöberten Hunde, Katzen und Federvieh darin herum.

Amélie und Marcel passierten das Palais du Luxembourg und folgten der Rue Monsieur le Prince. Überall standen Leute oder reckten sich bis zum Herausfallen aus den Fenstern, riefen einander zu, liefen aus Wohnhäusern, Werkstätten und Geschäften. „Der König, sie haben den König!“

So oder ähnlich verkündeten es auch Zeitungsjungen und hielten vorbei eilenden Passanten die neueste Ausgabe vor die Nase. Andere verteilten Flugblätter mit Pamphleten. Amélies Blick blieb an einer Karikatur hängen, die Marie Antoinette mit einem Priester in ordinär-erotischer Pose zeigte. Angewidert wandte sie sich ab und rief nach Marcel, konnte ihn zwischen den vorbei eilenden Menschen nirgends entdecken.

Angesteckt von der allgemeinen Unruhe und zugleich besorgt um ihren Sohn, setzte die Mutter ihren geplanten Weg fort, durch ein Gewirr von Straßen und Gassen hin zur Rue du Four, wo Meister Dubois' Knopfwerkstatt lag. Weil immer wieder Leute ihren Weg kreuzten und in ihrer Aufregung nicht auf andere achteten, kam sie jedoch kaum voran.

Als sie die Werkstatt endlich erreichte, stieß Amélie auch hier auf Tumult. Die meisten der dreiundsechzig Arbeiterinnen tanzten jauchzend auf der Straße davor herum, versperrten Fuhrwerken den Weg und riefen durcheinander: „Nie mehr Not, nun gibt’s Brot! Brot! Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen!“

Ehe sie sich's versah, fühlte Amélie sich am Arm gepackt und sah in glühende Augen, umlodert von Grauhaar, das sonst sorgfältig hochgesteckt war, erkannte ihre Mitarbeiterin kaum. „Los, mach mit!“, forderte die sie auf und steckte ihr ein blauweißrotes Band an den braunen Leinenrock. „Du hast doch auch ein Kind an den Hunger verloren. Damit ist's jetzt vorbei!“

„Was... Julie...?“ Mehr brachte Amélie zunächst nicht über die Lippen, überrascht und voller Zweifel – gedanklich immer noch bei Marcel. Darauf konnte die überdrehte Julie aber keine Rücksicht nehmen, riss sie mit sich in den Strudel und wirbelte mit ihr herum.

Endlich rief auch Amélie: „Nie mehr Not, nun gibt’s Brot! Brot! Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen!“

Marcel bemerkte überhaupt nicht, dass er ungehorsam war. Wie hätte er auch, umringt von ausgelassen schreienden und tobenden Menschen? Gar nicht mehr dachte er an seine Mutter, rannte durch Straßen und Gassen, wie alle anderen ebenso und rief dieselben Parolen.

Vom Boulevard Saint-Germain, gelangte er auf die Rue Dauphine, die ihn direkt zum Pont Neuf führte, der ersten Brücke von Paris, worauf die Händler keine Geschäftshäuser und Buden errichten durften – von der aus man unter sich die Seine vorbei brausen und vor sich das Palais des Tuileries sah. Für La Samaritaine, die hydraulische Wasserpumpe mit dem Relief, das die Begegnug Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zeigte, hatte Marcel jetzt keinen Blick übrig, selbst nicht für die Uhr darauf, mit dem mechanischen Glockenschläger. Früher hatte besonders der ihn fasziniert, jetzt nicht mehr. Jetzt war plötzlich alles ganz anders.

Als eine Horde älterer Jungen ihn fast überrannte und über die Brücke stürmte, schloss Marcel sich ihr an und war bald zwischen den langen Kerlen eingekeilt. „Komm raus, geile Metze?! Komm raus, wir besorgen's dir!“, brüllten sie lauthals, lachten und grölten.

Angesteckt von ihrem Eifer, brüllte Marcel mit, was er noch gar nicht verstand und quetschte sich mit unbändiger Willenskraft zwischen den Leibern hindurch.

Als er sich endlich nach vorn gearbeitet hatte, konnte er vom Palais des Tuileries und der Szenerie davor kaum etwas sehen, so sehr blendete ihn die aufsteigende Sonne. Aber er wusste – hinter diesen Mauern, die allmählich zerfielen, seit die königliche Familie in Versailles residierte, da war sie. Was empfand sie wohl jetzt, da statt Hochachtung und Verehrung Spott und Häme zu ihr herein drangen? Sollte sie ihm etwa leid tun? Nein, befahl Marcel seiner inneren Stimme, obwohl sie zaghaft um Fürbitte bat.

Nie vergaß er, welche Schmach sie ihm erteilt hatte – damals, auf dem Kinderball im Petit Trianon. Nie, so nahm er sich fest vor, würde er ihr verzeihen, dass sie ihn verschmähte, ihn einfach stehen ließ – diese hochnäsige kleine Dauphine, deren Eltern schuld daran waren, dass sein Schwesterchen verhungerte.

Tochter von Frankreich

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