Читать книгу Kein Applaus für den Mörder - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 4

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Immer bin ich von den Männern sitzengelassen worden. Wenn ich mich davongemacht habe, sind sie gegangen.

Es war ein sternklarer Novemberabend in Oslo, doch das Licht der Stadt stahl den Sternen die Schau, und der Himmel über der Hambros gate war tiefdunkel.

»Wie Tintenfischtinte«, dachte Margaret Moss düster. Sie lehnte an der Hauswand und sah die Taxis kommen und fahren.

Theaterzeit.

›Paris! Paris!‹ stand auf dem Baldachin über ihr – der Name einer Komödie, die schon seit zwei Monaten gespielt wurde. Heute abend war Privatdetektivin Moss nicht ins Theater gekommen, um in einem Fall zu ermitteln: Zusammen mit ihrer alten Tante wollte sie sich das Theaterstück im »Odeon« ansehen und gleichzeitig ihre eigene Theatervergangenheit aufsuchen.

Doch Tante Maisen war noch nicht gekommen.

Sie saß – so hoffte Margaret Moss – in einem Taxi aus Smestad im Nordwesten Oslos hierher, hektisch und von einer Wolke »Chanel No. 5« eingehüllt, ein edler Jahrgang, wahrscheinlich 1976. Nun ja, die mit der Zeit überhandnehmende chemische Duftkomponente würde immerhin den Portweinatem und die kleine Spur von Inkontinenz, die Tante Maisen sich nicht eingestehen wollte, überdecken.

Margaret selbst litt oft unter einem Phänomen, das sie als ihr Alter ego ansah, eine Stimme in ihrem Kopf, die sich fortwährend mit dem befaßte, was sie tat – bisweilen im harten Ton des Film Noir, dann wieder mit der Stimme der melodramatischen Heldin eines Trivialromans. Plötzlich meldete sich die Stimme:

Die Nacht stürzte sich gnadenlos auf die Menschen in der frierenden Stadt. Privatdetektivin Moss lächelte. Es war kein freundliches Lächeln, denn Moss und die Nacht steckten unter einer Decke.

»Merkwürdig«, dachte Margaret und wechselte ihr Standbein.

Es war kalt an diesem Abend.

Ein weiteres Taxi kam, und als der Taxifahrer die Innenbeleuchtung des Wagens eingeschaltet hatte und sich umdrehte, um zu kassieren, erkannte Margaret ihre Tante.

Maisen wühlte in ihrer Tasche.

Margaret blieb im Schatten der Wand stehen. Sie hatte einen langen Tag hinter sich und außerdem gerade einen Job abgelehnt. Besser gesagt, sie hatte die Entscheidung, ob sie den Job annehmen wollte oder nicht, aufgeschoben. Sie brauchte zwar Geld, doch gab es in ihrem Beruf gewisse Dinge, die ... Lieber morgen noch mal darüber nachdenken.

Und da kam Maisen Moss Pedersen auch schon, in ihren Lackpumps und ihrem Cape mit dem zerschlissenen Fuchspelz.

»Hallo, Maisen«, sagte Margaret und trat ins Licht. »Hat Karen angerufen?«

»Nein«, antwortete Maisen und griff mit nervösen Fingern nach dem Arm ihrer Nichte. »Aber der Fernfahrer hat sich gemeldet. Roland, weißt du? Du erinnerst dich doch?«

Margaret stolperte auf der Türschwelle und konnte sich gerade noch fangen.

»Mein Gott«, sagte Maisen und griff sich ans Herz. »Stützt hier der Blinde den Lahmen? Wenn nicht mal du dich vernünftig auf den Beinen halten kannst ... Hast du die Eintrittskarten?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Margaret.

Der Vorhang hatte sich noch nicht geöffnet, Maisen redete, fächelte sich mit dem Programm Luft zu und sah sich diskret in alle Richtungen um.

»Margaret, sieh mal da! Die ist aber alt geworden, was?«

Margaret gab einen unbestimmten Laut von sich, irgend etwas zwischen Ja und Nein, das genügte der Tante gewöhnlich und tat es auch diesmal. Maisen plapperte weiter, aufgeregt und mit roten Flecken auf den Wangen.

Sie hatte selbst einmal am »Odeon« gespielt, und zwar in dem Stück, das sie jetzt sehen würden, nur daß es damals ›Meine Frau aus Paris‹ geheißen, daß Folkman Schaanning wunderbar gespielt hatte und daß dies ganz am Anfang von Maisens kleiner Bühnenkarriere gewesen war.

Margaret umklammerte ihre Handtasche mit feuchten Händen. Roland hatte angerufen. Sie hatte ihn schon – wie lange hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen? Bald fünf Monate. Seit er an einem heißen Junitag die Karl Johans gate hinauf zum Egertorget verschwunden war, hatte er sich nicht mehr gerührt. Und auch sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Sollte er doch dort draußen in Prinsdal mit Frau und Kindern und seinen Lastzügen sitzen!

»Hat Roland gesagt, was er wollte?« fragte sie, als die Tante zwischendurch Luft holte. »Nein«, antwortete Maisen. »Kannst du mir sagen, warum sie die Stücke nicht so lassen können, wie sie ursprünglich gewesen sind? ›Paris! Paris!‹ Ich habe selten einen so blödsinnigen Namen gehört. Hier steht, daß ... wo stand es noch ...«

Sie hielt das Programmheft ein ganzes Stück von sich entfernt und kniff die Augen zusammen.

»›Auch heute noch sehr zeitgemäß‹, steht da. So ein Blödsinn!««

Sie rückte nervös ihre dünnen Beine in der braunen Stützstrumpfhose zurecht, während Margaret Roland Ruds überraschenden Anruf im Gehirn speicherte und sich umsah.

Das »Odeon« war ein schönes Theater im Baustil des Funktionalismus mit einem weißen, gewölbten Dach und schwarzlackierten Balkons. Sie selbst war hier nie fest angestellt gewesen, sondern hatte am Nationaltheater und an »Den Nationale Scene« in Bergen gespielt. Doch sie war hier tatsächlich einmal aufgetreten, mit einer kleinen Tanzund Gesangsrolle. Damals, als sie noch sehr jung und sehr schlank gewesen war und noch steppen konnte.

Das war vor ihrem Jurastudium gewesen, vor der kurzen Zeit im Polizeipräsidium und bevor sie ihre Karriere als nicht besonders erfolgreiche Privatdetektivin begonnen hatte. Bald drängte sich der Gedanke an Roland Rud wieder auf, doch sie schob diese Schublade ihres geistigen Archivs rasch wieder zu, denn schon öffnete sich der Vorhang des »Odeon«, und das Stück begann.

In der Pause trank Margaret ein Pils und Tante Maisen ein Glas Portwein an der mattgeschliffenen Glastheke des Foyers.

»Wie gefällt es dir?« fragte Tante Maisen und schob eine Haarnadel in ihrer Hochsteckfrisur zurecht.

»Es geht«, sagte Margaret. »Lita Thue hat sich ja ganz gut gehalten, obwohl sie eine ganze Ecke älter ist als ich. Aber diese hohen Absätze machen schließlich allen Frauen schöne Beine.«

Sie hatte schlechte Laune. Außerdem mochte sie diese Art von Musical nicht besonders. Warum um alles in der Welt hatte Roland angerufen?

»Sieh mal, da ist Carl Meyer, der Intendant«, sagte sie schnell. »Und seine Begleiterin – ist das seine Tochter?«

»Aber Margaret!«

Maisen blickte diskret zu ihm hinüber. »Ich habe noch seinen Vater gekannt, er war Geiger am Orchester des Nationaltheaters. Das war ein schöner Mann, sage ich dir.«

Da blickte Carl Meyer herüber und erkannte Margaret, er zog die Augenbrauen zusammen und sah einen Moment lang sehr konzentriert aus. Dann drückte er der jungen Dame an seiner Seite sein Weißweinglas in die Hand, ließ sie stehen und kam auf die beiden an der Glastheke zu.

»Na, Margaret?« fragte er, gab ihr die Hand und machte eine schnelle und höfliche Verbeugung in Tante Maisens Richtung. »Wie gefällt dir unsere kleine, wohlkonservierte Perle?«

»Meinst du Lita?« fragte Margaret, und Carl Meyer lachte etwas gezwungen. Er war ein Mann in den sogenannten besten Jahren, groß und kräftig, etwa Mitte Fünfzig, ergrautes Haar, das sich oben schon ein wenig lichtete, hinten jedoch um so länger war, und trug einen weißen Rollkragenpullover aus seidigem Stoff und einen weiten, teuren Anzug.

»Und du wühlst bei deiner Suche nach untreuen Ehefrauen noch immer in anderer Leute Mülltonnen herum?« fragte er, und Margaret dachte bei sich, daß ihm die Bemerkung über Lita bestimmt nicht gefallen hatte.

Doch schließlich waren die beiden nicht mehr verheiratet.

»Wer steht denn dort drüben?« parierte sie. »Ich wußte gar nicht, daß du Kinder hast!«

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Das ist meine Frau«, erklärte er. »Im übrigen habe ich zwei. Kinder, meine ich.«

Margaret blickte in ihr Glas. »Ach so«, sagte sie. »Ich habe eins. Es heißt Karen und macht zur Zeit einen Kurs an einer Heimvolkshochschule. Was macht deine Frau?«

»Sie ist hier angestellt«, entgegnete er ziemlich reserviert und sah aus, als bereute er es, überhaupt hergekommen zu sein.

Sie standen mitten in der Menge, um sie herum brodelte der Lärm von vielen plaudernden Menschen. Ein kräftiger Mann im dunklen Anzug mit zwei Sherrygläsern in der Hand drängte sich vorbei und blickte Margaret dabei lange und forschend an, bevor er einen kurzen Blick auf Carl Meyer warf und dann weiterging.

Plötzlich kitzelte Margaret etwas im Nacken – ein kühler Hauch des Schreckens. Sie blickte dem Mann nach, doch er war weg. Sie drehte sich zu Carl Meyer um und wollte ihn gerade fragen, ob das einer seiner Bekannten gewesen sei, doch er verbeugte sich nur kurz vor Tante Maisen und ging.

Maisen sah ihre Nichte an. »Was ist bloß los mit dir?« fragte sie. »Bekommst du demnächst das, was man zu meiner Zeit nicht hatte, du weißt schon?«

Margaret seufzte und stellte ihr leeres Glas ab.

»Ach«, meinte sie. »Ich weiß nicht. Mir geht’s schon den ganzen Tag so.«

Die Tante blickte sie an, und ihre hellblauen Augen glänzten plötzlich ein wenig. »Ich glaube, wir vermissen Karen«, sagte sie. »Das wird es sein. Das Haus ist so furchtbar leer ohne sie. Wir hätten ihr nicht erlauben sollen, auf diese Schule zu gehen.«

Es klingelte.

Die Pause war zu Ende.

Das Stück war vorbei. Der schwarze Vorhang mit den Goldornamenten war gefallen, und der Saal hatte sich geleert. Margaret stand draußen bei der Garderobe und wartete auf ihre Tante, deren Cape sie sich über den Arm gelegt hatte. Maisen war auf die Damentoilette verschwunden.

Da kam Meyer über den roten Teppich, so lautlos, daß Margaret zusammenzuckte, als er sie ansprach: »Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Ich warte auf meine Tante, sie ist auf der Toilette. Leg los.«

Er blickte auf die Uhr und schaute kurz um sich, dann meinte er: »Kannst du sie nicht mit einem Taxi nach Hause schicken?«

Margaret stutzte. So gut kannte sie Carl Meyer doch gar nicht. »Ist es etwas Wichtiges?«

»Ja«, sagte er, und plötzlich bemerkte sie, daß ihm der Schweiß im Gesicht stand. Meyer steckte offenbar wirklich in Nöten, was es auch immer sein mochte, das ihn so quälte. Er warf erneut einen Blick auf die Tür zur Damentoilette, die noch immer geschlossen war.

Margaret dachte bei sich, daß ihre Tante wohl gerade mit ihrer Strumpfhose kämpfte. Die Strumpfhose anzuziehen war nicht ganz unproblematisch, wenn man Gleichgewichtsstörungen hatte.

Weit hinten auf dem Gang kam die junge Dame, die Margaret zunächst für Meyers Tochter gehalten hatte. Sie hatte sehr helles Haar und eine blasse Gesichtsfarbe, ihr Mund war dunkelrot, und wie die meisten Tänzerinnen ging sie mit leicht nach außen gedrehten Zehenspitzen und hielt den Kopf auf dem langen Hals hoch erhoben. Meyer sah sie und verzog den Mund irritiert. »Tja, da kommt Siv auch schon, ich dachte, sie wäre im Schauspielerfoyer. Da müssen wir uns eben verabreden. Hast du morgen Zeit?«

Margaret starrte ihn an. »Morgen«, wiederholte sie, um Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln. »Ich habe meinen Terminkalender nicht dabei.«

Im Grunde war das ein Witz, denn ihr Terminkalender war so leer, daß sie die wenigen Termine eigentlich im Kopf hatte.

»Brauchst du eine Detektivin?« fragte sie, um etwas zu sagen.

Inzwischen war Siv zu ihnen gekommen. Sie faßte Meyer beim Arm und fragte mit einer Stimme, die ebenso blaß war wie ihr Gesicht: »Können wir nicht bald nach Hause gehen, Carl?«

»Gleich, Schatz, gleich«, erwiderte er und tätschelte ihre Hand. »Was ich brauche«, sagte er zu Margaret gewandt, »was ich ganz unbedingt brauche, ist eine Schauspielerin im passenden Alter für mein nächstes Stück. Ruf mich morgen an, dann hast du den Job sicher!«

In diesem Moment kam Tante Maisen. Meyer zog mit seiner Tänzerin ab.

»Mach den Mund zu, Mädchen, es zieht«, sagte Maisen streng und nahm Margaret das Cape ab.

»Ich glaube, ich leide unter Halluzinationen«, sagte Margaret und blickte Meyer hinterher, der gerade durch die Tür verschwand. »Er will, daß ich Theater spiele – dabei habe ich seit hundert Jahren keine Bühne mehr betreten!«

Kein Applaus für den Mörder - Norwegen-Krimi

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