Читать книгу Kein Applaus für den Mörder - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 6
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ОглавлениеShe’s not there.
Rod Argent
Es ist Dezember, und Schneeregen liegt in der Luft. Noch ist etwas Zeit bis Weihnachten, und über dem Eingang des Theaters leuchtet inzwischen nicht mehr der Titel des Stücks ›Paris! Paris!‹. Die Plakate werben jetzt für eine Kindervorstellung (›Die Kinder aus der Krachmacherstraße‹) und zwei Einakter von Strindberg, für die das Theater in der vorigen Spielzeit viel Lob eingeheimst hat. Zur Zeit werden alle Kräfte für die Proben am Großprojekt ›Crazy ’Bout My Baby‹ gebraucht, eine in jeder Hinsicht teure Inszenierung. Es ist kurz nach zwölf, die Arbeit auf der Bühne ist schon seit einer Stunde im Gange, die Bühnenbeleuchtung ist angeschaltet, doch der Zuschauerraum ist dunkel. Man probt die erste Szene des zweiten Akts; Regisseur Vebjørn Smien sitzt in der dritten Reihe des Parketts, neben ihm eine runde, kleine Dame mit rotem, fülligem Haar und Hornbrille. Die Leselampe an ihrem Pult ist angeschaltet, und vor ihr stehen zwei halbvolle Becher Kaffee, von denen der eine Smien gehört. Ganz rechts in der ersten Reihe sitzt die Souffleuse mit dem Textbuch. Sie hat sich einen großen Schal um den Körper gewickelt, denn sie hat schon den ganzen Herbst ihren Ischias gespürt. Das »Odeon« ist ein zugiges Theater.
Lita Thue und Jan Vogt Johansen proben zum fünften Mal, mitten auf der Bühne zusammenzustoßen, nachdem sie jeweils von rechts und von links aus den Kulissen getreten sind, wobei sie den größten Teil der Zeit rückwärts gehen oder nach oben in den Schnürboden blicken sollen. Im Stück ist das Licht ausgefallen, und der Revuestar, die gefeierte Primadonna Loretta Cole, tastet sich durch den dunklen Raum und weiß nicht, daß ihr Geliebter, der Gangsterkönig Johnny DeVito, sich in derselben Künstlergarderobe wie sie befindet, wo er sich auf der Flucht vor der Polizei versteckt hat.
»Herrgott«, sagt Vebjørn Smien mit lauter Stimme aus der dritten Reihe, »das kann doch nicht so schwer sein, seine eigenen Schritte zu zählen!«
Lita Thue tritt an die Rampe vor und hält sich die Hand schützend vor die Augen. »Das ist nicht unsere Schuld«, sagt sie laut hinaus ins Dunkel. »Irgendwas stimmt bei dieser ganzen Szene nicht!«
Jan Vogt Johansen baut sich neben ihr auf: »Ehrlich gesagt finde ich es ziemlich unnatürlich, Vebjørn, sich so zu drehen und herumzutanzen. Es gibt doch wohl verdammt noch mal niemanden, der in totaler Dunkelheit tanzen würde, Musical hin oder her! Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist das Licht in der Handlung doch ausgefallen, oder nicht?«
Der Regisseur mustert die beiden lange. Smien ist ein langer und dünner Mann mit gelocktem Haar und einer kleinen runden Brille, schwarzen Jeans und einem schwarzen Rollkragenpullover. Er seufzt so tief, daß das ganze »Odeon« bebt, steht auf und läuft zur kleinen Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal und tritt auf die Bühne. Seinen einen Arm legt er um Vogt Johansens Schultern, seinen anderen um Lita Thues.
»Okay, dann hört mal zu ...«, sagt er.
Margaret Moss sitzt zwischen den Kulissen auf einem unbequemen Stuhl aus Hartplastik; sie hat völlig vergessen, wieviel Zeit man bei den Proben mit Warterei verbringt, und spürt, wie es in ihrem Körper vor Ungeduld kribbelt.
Sie hätten jetzt ganz woanders im Stück sein sollen. Die Proben haben viel zu spät begonnen.
Meyer hatte nicht übertrieben, als er sagte, daß Meuterei in der Luft lag. Margaret war in ihrem Leben an vielen Bühnen gewesen, doch das »Odeon« hob sich unvorteilhaft von allen anderen ab: Hier war die Atmosphäre ausgesprochen kühl, die abgebrochenen Sätze und die Gespräche hinter geschlossenen Türen verbreiteten eine allgemein unangenehme Stimmung. Am ersten Tag hatte ein Mann namens Waldemar Viker sie ein wenig herumgeführt; er hatte an seinen Hosenträgern gezogen und sie knallen lassen und hatte, während er keuchend vor ihr die Treppe hinaufgestiegen war, gesagt: »Ja, ja, Margaret Moss, an diesem Theater bin ich mein Leben lang gewesen.«
Dann hatte er geschwiegen, sich umgedreht und darauf gewartet, daß sie ihn wieder einholte, ein noch nicht angezündeter Zigarillo hing ihm im Mundwinkel.
»Aber nichts ist wie früher, das sag ich dir, nichts ist wie früher.«
Dann warf er ihr einen blitzschnellen Blick zu und fügte hinzu: »Nur Altweibergeschwätz.«
Sie ahnte sofort, daß Waldemar Viker wußte, warum sie hier war; er war ein Mann, der sich nicht nur in der Geschichte des Theaters gut auskannte, sondern trotz seines Alters über ein sehr gutes Gehör verfügte und eine Art hatte, plötzlich hinter einem aufzutauchen, die einen richtig erschrecken konnte. Waldemar Viker entging wahrscheinlich nichts von dem, was hier geschah – vom Glasdach des Malersaals im sechsten Stock bis zum schmalen tunnelartigen Gang unter dem Orchestergraben.
Er bestand darauf, sie ganz hinauf auf die Arbeitsgalerie über dem Schnürboden mitzunehmen. Margaret, die unter einer gewissen Höhenangst litt, wurde schwindelig; sie starrte hinunter und sah, wie sich drei Bühnenarbeiter wie in Zeitlupe auf der Bühne tief unter ihnen bewegten.
»Hier, verstehst du«, sagte Viker und sah sie an. »Hier braucht man nur irgend etwas runterfallen zu lassen, schon ist der Mann dort unten mausetot!«
Er zog einen winzigen Schraubenzieher aus der Brusttasche seines Arbeitskittels und hielt ihn über das Eisengeländer. »Der hier zum Beispiel«, sagte er und lachte mit rostiger Stimme. »Der ist zwar nicht groß, aber was zählt, ist der richtige Zeitpunkt, Moss, der richtige Zeitpunkt! Wenn der Schraubenzieher die Mütze des Kerls da unten trifft, geht er hinab bis in den Blinddarm.«
Sie sah ihn groß an und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich mach nur Spaß, weißt du«, sagte er und gab den Blick zurück.
Danach hatte er ihr die Porträtgalerie der früheren Intendanten gezeigt, die in schwarzen Bilderrahmen auf dem Gang vor den Büros hingen. Da war Robert Karlovsky mit dem schmalen Schnurrbart, der eigentlich Robert Karlsen geheißen hatte und mitten aus Oslo kam; da war der legendäre Nic Nicolaisen, der zehn Jahre lang nur Operetten inszeniert hatte und mit all seinen Primadonnen ins Bett gestiegen war; und da war Svend Bertil Jansson, der Brecht ins Repertoire aufgenommen und in den sechziger Jahren aus dem eher seichten »Odeon« ein anständiges Theater gemacht hatte.
»Aber das war eben damals und nicht heute«, sagte Viker.
»Und was ist heute?« fragte Margaret.
»Ach, heute«, erwiderte Viker, schlurfte vor ihr her in den winzigen Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. »Heute geht alles den Bach runter.«
»Warum denn zum Beispiel?«
Margaret schluckte, denn der Fahrstuhl glitt auf eine besonders unangenehme und ruckhafte Weise durch die Stockwerke nach unten.
Viker zuckte bloß mit den Schultern, öffnete die Fahrstuhltür, suchte nach Streichhölzern und zündete seinen Zigarillo an.
»Hier ist die Kantine«, sagte er.
Und das war es schon. Sie hatte versucht, nach dieser Begegnung mit ihm zu sprechen, doch Waldemar Viker, Faktotum, Archivar, ehemaliger Inspizient und jetzt Mädchen für alles, verschwand wie mit einem Zauberschlag – jedesmal, wenn sie ihn alleine traf.
Margaret Moss seufzt und streckt das rechte Bein vorsichtig aus. Sie bekommt zur Zeit schnell Wadenkrämpfe. Auf der Bühne und um die Bühne herum gehen, stehen und sitzen Menschen in den unterschiedlichsten Kostümen. Das Tanzensemble trägt seine Stepschuhe für die nächste Szene, die Tänzerinnen tragen Schuhe mit hohem Absatz und Riemchen, die sich von den ausgebeulten Trainingshosen und den langen T-Shirts überraschend abheben. Lita Thue ist angezogen, als wolle sie in ein teures Lokal zum Essen ausgehen; sie trägt eine Bluse aus Wildseide über einem engen geschlitzten Rock, dazu eine Kaschmirstrickjacke über den Schultern. Ihr schwarzes Haar und die dunklen Augen kontrastieren mit der blonden Männlichkeit ihres Gegenspielers, doch seine Kleidung will so gar nicht zu ihrer passen. Vogt Johansen trägt verwaschene Sommerhosen, eine Anzugjacke und Joggingschuhe. Er wird nicht steppen, das kann er auch gar nicht, und Johnny DeVito ist ohnehin in erster Linie eine Sprech- und Gesangsrolle. Er hat sich inzwischen diesen Gangsterton aus dem amerikanischen Film der vierziger Jahre angeeignet: »Hey, hat hierrr irgendwerrr Lorrretta gesehn?«
Hinter Margaret stehen zwei Schauspieler und sprechen leise miteinander; sie wirft einen schnellen Blick über die Schulter und sieht, daß es Henny Haraldsen und Willy Andersen sind. Henny ist blond, jung, schön und geschmeidig und hat eine gute Stimme. Es geht das Gerücht, daß alle geglaubt haben, sie würde die Rolle der Loretta Cole bekommen und ›Crazy ’Bout My Baby‹ würde endlich ihr wirklicher Durchbruch werden – nach all den Nebenrollen, die sie in den drei Jahren gespielt hat, seit sie das Engagement am »Odeon« hat. Jetzt spielt sie Milly, eine der Ballettänzerinnen.
Willy ist eigentlich schon immer am »Odeon« gewesen. Er ist klein und flink, hat kurzgeschorenes Haar und eine Boxernase. In diesem Stück spielt er die Rolle des Gangsters Sonny.
Margaret massiert sich mit der rechten Hand den Nakken und lauscht mit halbem Ohr dem Gespräch der beiden. Das hat sie zumindest bemerkt: Die Theaterleute unterhalten sich vor allem über Bagatellen. Jedenfalls ist es am »Odeon« so; sie hat recht wenig herausfinden können bei den Gesprächen in der Kantine, den Schauspielergarderoben oder den Gängen. Dabei hat sie jedoch festgestellt, daß vieles von dem, was sie interessiert, in Nebensätzen und durch Blicke mitgeteilt wird.
Außerdem hat sie bemerkt, daß es beinahe unmöglich ist, für ein Musical zu proben und zugleich Sherlock Holmes zu spielen. Obwohl sie keine große Rolle hat, kann sie sich nicht einfach aus dem Staub machen; den größten Teil der Zeit muß sie anwesend sein, genau wie alle anderen. Und sie gibt sich Mühe mit ihrem Text, mit dem Tanz und dem Gesang, denn sie hat Angst, daß es auffallen könnte, wie ungeübt sie ist – und sie rechtfertigt sich vor sich selbst, indem sie sich sagt, daß sie schließlich nicht als Privatdetektivin Moss entlarvt werden will. Dabei weiß sie, daß die Sache gar nicht so einfach ist.
Sie will nämlich nicht in dem Beruf versagen, in dem sie früher einmal erfolgreich war.
Sie kann zwar darüber lachen, daß sie eine mißglückte Privatdetektivin ist, aber nicht darüber, als Schauspielerin erfolglos zu sein.
So ist es.
Und Carl Meyer erzählt ihr nichts, das über das hinausgehen würde, was er neulich bei ihrem Treffen in der Bibliotheksbar verraten hat, doch er sieht von Tag zu Tag dyspeptischer aus und wandelt wie Hamlets verstorbener Vater durch die Gänge: stumm und mit steifen Bewegungen, ein Paßgänger voller innerer Unruhe.
Sie grübelt häufig darüber nach, warum er sie gebeten hat, ans »Odeon« zu kommen. Er benimmt sich so, als habe er vergessen, daß sie da ist.
Vor ihren Augen versuchen Lita Thue und Jan Vogt Johansen noch einmal, sich auf der großen Bühne zu begegnen, während sie Pirouetten drehen, nach oben in den Schnürboden starren und ihre Schritte zählen.
Hinter ihr sagt Willy Andersen etwas zu Henny.
» ... bis zum Treffen am nächsten Montag«, sagt er.
Plötzlich ist da etwas in seiner Stimme, das Margaret aufhorchen läßt: Er hat ein bißchen leiser gesprochen als sonst, oder nicht?
»Ich hoffe, wir wissen, was wir tun«, sagt Henny.
Dann ist es still, nur die Stimmen von Lita Thue und Vogt Johansen hallen über die große, leere Bühne, Margaret streckt sich und tut so, als würde sie gähnen, dann dreht sie sich um und wirft den beiden hinter sich einen Blick zu. »Herrgott«, sagt sie. »Ich werde ganz steif!«
»Wenn’s mir doch genauso ginge«, sagt Willy und kassiert routiniert den ebenso routinierten Ausruf der Damen ein: »Willy!«
»Es muß doch ziemlich hart sein, nach einer so langen Pause wieder einzusteigen, oder?« erkundigt sich Henny. Das haben sie alle gesagt, einer nach dem anderen. Aber es scheint, als hätten sie eingesehen, daß die Zeiten für Detektive schlecht sind und daß Meyer ihr einen Freundschaftsdienst erwiesen hat, indem sie die Rolle der Ankleidefrau Elly bekam.
»Ich gehe fast ein«, antwortet Margaret. »Aber es geht schon besser als am Anfang.«
»Du singst schön«, sagt Henny. »Im Gegensatz zu gewissen anderen!«
Willy streicht sich über seine kurzen Haare, und zwar so, daß Margaret in seiner Bewegung sofort Lita Thue wiedererkennt. Sie lächelt: »Na ja.«
»Stimmt doch, oder?« sagt Willy. »Na ja!«
Henny blickt ihn völlig abwesend an, zumindest hat Margaret den Eindruck. Willy zuckt mit den Schultern und schaut auf die Uhr: »Ich glaube, ich brauche eine Zigarette.«
Er verschwindet den Gang hinunter, wobei seine Stepschuhe ein diskret klickendes Geräusch erzeugen.
Margaret sagt betont gleichgültig: »Ist am Montag so eine Art Besprechung?«
Sie blickt Henny dabei nicht an, sondern massiert sich immer noch mit der Hand den Nacken. Es ist still hinter ihr, dann sagt Henny: »Hör mal ... du bist doch mit Carl befreundet, oder?«
Jetzt dreht Margaret sich um: »Nein«, sagt sie. »Er war Dramaturg am Nationaltheater, als ich dort arbeitete, ich kenne ihn noch aus der Zeit. Aber wir sind nicht näher befreundet gewesen.«
»Ach so«, sagt Henny.
Der folgende Tag war ein Freitag.
Als Margaret morgens aufstand, hatte sie sich entschieden: Sie mußte am Montag zu diesem Treffen gehen. Sagen, daß sie interessiert war, und andeuten, daß auch sie mit Carl Meyer nicht zufrieden war. Und dann mußte sie es am Montagabend fertigbringen, nach einem langen Tag voller Proben noch einmal das Haus zu verlassen und nach draußen in die Dunkelheit zu gehen. Keine geringe Leistung für eine eingerostete Schauspielerin mit Blasen an den Zehen und Schwierigkeiten sowohl mit dem Rücken als auch mit ihren Repliken, dachte sie, während sie beeindruckt ihr Frühstück musterte, das sie sich zubereitet hatte: Saft.
Joghurt (fettarm). Zwei halbe Scheiben Vollkornbrot mit dreißigprozentigem Kümmelkäse. Tee ohne Zucker und Milch.
Die Tage, an denen es nur schwarzen Kaffee und sonst nichts gegeben hatte, waren vorüber. Jedenfalls fürs erste. Sie aß mittags einfach zuviel in der Kantine, wenn sie morgens vor der Arbeit keine richtige Grundlage schaffte.
In der Hambros gate pfiff ihr der beißende Nordwind durch die Kleidung.