Читать книгу Kein Applaus für den Mörder - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 8
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ОглавлениеAnd the bandplayed on.
Palmer/Ward
Weihnachten kam und ging; ein beißender Wind, der Regen mit sich führte, fegte durch die Straßen, einen Tag schneite es, und am nächsten taute es wieder; ein graubrauner Dunst lag über der Innenstadt, vom Frognerpark im Westen bis zur Sjømannsskole im Osten. Die Proben für ›Crazy‹ machten Fortschritte, und es kam der Zeitpunkt für die ersten richtigen Durchlaufproben. In der Schneiderwerkstatt brach die Kostümbildnerin Vera mit einer Halsentzündung zusammen, doch das passierte ihr immer vor Premieren. Jetzt flüsterte sie sich durch Anweisungen und Befehle und trank Hustensaft, bis es im ganzen Theater nach Menthol roch.
Margaret Moss mühte sich mit der Rolle der Elly ab. Am meisten graute ihr vor dem letzten Akt, denn dort hatte sie eine kleine Solonummer direkt vor dem Finale, die in einer Kombination von Schritten enden sollte, bei der sie jedesmal durcheinanderkam. Sie übte abends zu Hause, murmelte völlig außer Atem ihr »Eins, zwei und drei« vor sich hin, während sie sich ruckweise über den Wohnzimmerboden bewegte. Tante Maisen beschwerte sich: Die Glasprismen ihres Kronleuchters klirrten, und im Schlot löste sich Ruß, der in den Kamin hinunterfiel.
Margaret schaffte es kaum, an Carl Meyer zu denken. Sein bleiches Gesicht und sein ferner Blick strichen einige Male in der Woche an ihr vorbei, ohne daß er jemals stehengeblieben wäre, um mit ihr zu sprechen.
Eines Tages, als sie wenig Zeit und keine Lust hatte, auf den Fahrstuhl zu warten, lief sie die enge, dunkle Hintertreppe hinunter. Da überraschte sie zwei, die vollauf mit sich beschäftigt waren: Siv saß auf der Treppe und weinte, Jan Vogt Johansen stand über sie gebeugt – ob er sie tröstete oder zurechtwies, konnte Margaret nicht ausmachen. Sie sagte nur: »Oh, Entschuldigung«, lief weiter und dachte sich, daß es dann wohl Jan sein mußte, den Siv liebte. Oder vielleicht auch nicht, sie dachte nicht weiter darüber nach, denn sie wurde von der »Quasselbox« ausgerufen – so nannten sie die Lautsprecheranlage, die das ganze Theater erfaßte, den Zuschauerraum ausgenommen. Eine Szene sollte wiederholt werden.
Und schließlich fand die Premiere von ›Crazy ’Bout My Baby‹ statt.
Die Rezensionen waren positiv, nur ›Dagbladet‹ übte Kritik: »Alte Takte im ›Odeon‹«, war zu lesen. »Lita Thue strahlte wie immer«, schrieb ›Aftenposten‹. »Das übertrifft die alten Musicals um Längen!« In ›Verdens Gang‹ erhielt das Stück fünf von sechs Punkten auf der Bewertungsskala. Die Tänzer wurden gelobt und Margaret Moss immerhin nicht bloßgestellt. Sie wurde nicht einmal erwähnt, worüber sie sehr erleichtert war.
Nun lief das Stück schon in der zweiten Woche, und im Vorverkauf wurden bereits Karten für die Vorstellungen im April reserviert. Meyer bekam wieder Farbe ins Gesicht, rieb sich die Hände und sprach sogar mehrere Sätze nacheinander: »Hab ich’s nicht gesagt! Ein echtes, altmodisches Musical hat das Publikum noch immer angelockt!«
Die Stimmung hinter der Bühne stieg in jeder Hinsicht, denn es war ein schönes Gefühl, am Erfolg teilzuhaben. Schmerzende Muskeln, entzündete Hälse und Blasen waren vergessen – es wurde getanzt, daß das »Odeon« nur so bebte, wenn sie im Finale auf der Bühne so richtig in Fahrt kamen.
Lita Thue war in unverschämt guter Form.
Margaret war auf dem Weg zum Theater, die blaue Dämmerung stieg schon zwischen den Bäumen des Westfriedhofs auf. Im Mittelgang der Straßenbahn war es dreckig. Margaret gähnte lange, ein unbestimmtes Gefühl im Zwerchfell signalisierte ihr, daß sie auf dem besten Wege war, depressiv zu werden. Sie seufzte. Der Gedanke, bis weit in den Sommer hinein am »Odeon« zu spielen, war nicht gerade aufmunternd. Sie hatte zwar ihr Auskommen, doch die Rolle war anstrengend, obgleich sie ja eher unbedeutend war. Außerdem war sie in ihrer Spioniererei für Carl Meyer nicht so recht vorangekommen, eine Tatsache, die er allerdings zu übersehen schien. »Ja, ja«, hatte er gesagt und ihr auf die Schulter geklopft, als sie mit ihm darüber sprechen wollte. »Das ist schon in Ordnung. Mach du einfach deinen Job als Elly.«
Sie seufzte wieder, und das Alter ego meldete sich mit seiner hartgesottensten Stimme: Tja, Moss, das ist mal wieder ein Tag, der wie eine Ewigkeit scheint, wenn der Kaffee nach Arsen schmeckt, die Vögel tot zu Boden fallen und die Kolsås-Bahn Geräusche von sich gibt wie ein strangulierter Mörder ... Nein, das ist dann doch etwas übertrieben, dachte Margaret. Jetzt muß ich mich zusammenreißen.
Roland hatte sich noch immer nicht wieder gemeldet.
Um halb sieben saß sie in der Garderobe und rollte mühsam eine Haarsträhne nach der anderen in kleine Löckchen, die sie mit Spangen befestigte, bevor sie einen alten, abgeschnittenen Nylonstrumpf über die Haare zog. Mit der Perücke wartete sie noch ein wenig, denn die lag eng am Kopf und war so schrecklich warm.
Mit routinierten Bewegungen legte sie die Schminke auf Hals und Gesicht.
Es war schon merkwürdig, wie schnell das alles wieder zur Gewohnheit geworden war, das Schminken und das Warten, bis der Vorhang sich öffnete.
Sie nahm den Fahrstuhl nach unten, als sie fertig war. Sie lag gut in der Zeit und hatte auch das Gefühl, diese Zeit zu brauchen. Stian Sondresen hockte in seiner kleinen Inspizientenbox und zog an einem Stecker. »Der ist verdammt lose«, sagte er zu sich selbst. Dann entdeckte er Margaret. »Kein Wunder, daß die Polizeisirene gestern nicht richtig funktioniert hat.«
Er erhob sich und sprach über ein Mischpult mit Unmengen von Hebeln hinweg in sein Mikrofon: »Noch dreißig Minuten bis ›Crazy ’Bout My Babys noch dreißig Minuten!«
Dann setzte er sich hin und blickte Margaret an. Er war derselbe nette Junge, der er immer gewesen war, mit Ohrring im einen Ohr und einer Neigung zu ungewöhnlichen T-Shirts. Margaret hatte viel mit ihm geredet seit dem Treffen, doch es schien nicht so, als hätte er inzwischen mehr in der Hinterhand als Verdächtigungen und Gerüchte. Sie holte sich einen wackligen Stuhl und sah zu, während er den üblichen Arbeitsablauf vor der Vorstellung erledigte und sich seine Notizen machte.
Er drehte den Stuhl zu ihr um und erkundigte sich: »Und? Wie läuft’s mit dem Steptanz?«
»Ganz gut«, antwortete Margaret. »Und wie geht’s dir so?«
»Auch ganz gut«, sagte Stian. Er hob die Hand und stellte für einen kurzen Augenblick den Lautsprecher aus dem Foyer an: Es wurde dort draußen geredet und gelacht, das Theater füllte sich. »Volles Haus bis zum ersten Mai«, sagte er. Sie beobachteten beide den kleinen Bildschirm an der Decke, der den Zuschauerraum zeigte. Die ersten Zuschauer hatten schon Platz genommen und blätterten in ihren Programmen. »Noch fünfzehn Minuten«, sagte Stian ins Mikrofon. Über die Anlage erreichten die Anweisungen den ganzen Bühnenraum, die Garderoben, die Kantine, den Probensaal und den Schminkraum. Dann stellte er das Gerät ab. »Verdammt! Ernst ist nicht an seinem Platz.«
Er stand auf und war in wenigen Schritten hinter der Bühne, wo er den Bühnenmeister am Ärmel packte und etwas zu ihm sagte. Hinter ihnen stand Lita Thue in ihrem Kostüm, schweigend und in sich selbst vertieft, mit einem Mantel über den Schultern. Sie ging tief in die Knie und streckte sich wieder. Ihre Ankleiderin stand hinter ihr, brachte schnell eine Haarlocke an den richtigen Platz und fixierte mit Haarspray. Die Tänzerinnen und Tänzer waren noch nicht zu sehen, denn sie hatten ihren Auftritt erst in der nächsten Szene.
Margaret blickte durch das geschwärzte Glas in den leeren Bühnenraum: In Loretta Coles Garderobe des Revuetheaters von 1926 war alles an seinem Platz, und es fehlte weder die Straußenfederboa auf dem Stuhl noch die Korbtruhe, in der sich der Gangsterkönig Johnny DeVito auf seiner Flucht vor der Polizei verstecken würde.
Drüben neben der Bühne, in dem schmalen Gang, den sie den »Zuggang« nannten, sah sie Stian gestikulieren und mit zwei Bühnenarbeitern sprechen; die schweren Taue, die sogenannten Züge, mit denen sich alle Kulissenteile steuern ließen, die vom Schnürboden herunterhingen, verliefen über seinem Kopf. In der Inspizientenbox, in der sie saß, hörte sie plötzlich die Stimme des Beleuchtungsinspektors: »Da fehlt ein Scheinwerfer auf der Beleuchtungsbrücke!«
Margaret beugte sich vor und sagte ins Mikrofon: »Im Moment fehlt hier auch ein Inspizient. Aber ich gebe ihm Bescheid.«
Da kam Stian auch schon zurück, sie berichtete, und er notierte, daß ein Scheinwerfer defekt war; doch es war zu spät, noch etwas zu unternehmen. Er setzte sich hin und sagte ins Mikrofon: »Fünf Minuten! Noch fünf Minuten!«
Margaret fühlte, wie sich etwas in ihrem Magen zusammenknotete, und holte tief Atem.
Stian sah sie an, sagte jedoch nichts. Sie warteten.
Margaret stand auf, und während sie aus der Inspizientenbox in die Kulissen ging, hörte sie seine Stimme hinter sich: »Noch drei Minuten bis zum Beginn, bitte alle auf die Plätze.«
Margaret stand im Halbdunkel und übte ihren ersten Einsatz, dann holte sie wieder tief Luft. Hinter ihr bewegte Lita sich unruhig hin und her. Margaret drehte sich um und sah, wie sie die Lippen bewegte. Entweder betete sie, oder auch sie memorierte ihre Eingangsreplik.
Stian sagte leise, aber deutlich über die Lautsprecheranlage: »Bühne frei für den ersten Akt!«
Die Musik aus dem Orchestergraben wurde ruhiger, Stians Stimme tönte aus dem Lautsprecher: »Vorhang auf!«, Margaret Moss holte tief Atem und betrat mit energischen Schritten die Bühne.
Sie waren bis zum dritten Akt gekommen. Die Pause war vorüber, das Publikum hatte wieder Platz genommen, und der Vorhang öffnete sich. Die Bühne stellte eine Seitenstraße des Broadway dar, die Wolkenkratzer türmten sich auf, und die Neonlichter glitzerten und blinkten. Die Tänzerinnen und Tänzer, die je nach Geschlecht Abendkleider und Stirnbänder oder Fracks trugen, steppten auf die Bühne, daß die Skyline von Manhattan nur so bebte.
Loretta Cole, die einen glockenförmigen Hut und ein Kleid mit einem Gürtel um die Hüften trug, kam von rechts mit ihrem Geliebten auf die Bühne, dem Gangster Johnny DeVito (nach dem die Polizei in fünf Bundesstaaten fahndete). Nachdem sie Küsse ausgetauscht hatten und Lita ein Lied von den Bedingungen der Liebe gesungen hatte (wenn derjenige, den man liebte, von der Polizei gesucht wurde), waren die Tänzerinnen und Tänzer wieder an der Reihe. Gleichzeitig ertönte eine Trillerpfeife, und drei Polizisten in Helmen mit Kinnriemen stürmten hinein. Plötzlich Schüsse! Man hörte Frauen gellend schreien und Männer laut durcheinanderrufen.
Dann wurde es still.
Lange.
Zu lange.
Margaret, die erst wieder am Ende des Stücks auf die Bühne sollte, saß in der Inspizientenbox und ruhte ihre Füße aus. Sie beugte sich vor.
»Was zum Teufel ...«, sagte Stian Sondresen und beugte sich ebenfalls vor.
Willy, in der Rolle des Gangsters Sonny, hatte sich neben den gefallenen DeVito gehockt.
Das war im Textbuch so nicht vorgesehen.
Vidar Holm, der den Polizeiinspektor Tate spielte, bückte sich und sagte etwas, Stian schob Margaret schnell zur Seite und ging hinaus. Vidar kam ihm entgegen, und sie wechselten ein paar Worte in der Kulisse. Dann starrten sie sich einige Augenblicke lang an. Stian ging hinaus auf die Bühne, in verwaschenen Jeans, Strickpullover und Joggingschuhen, und trat an die Rampe vor, wo er mit lauter Stimme fragte: »Befindet sich ein Arzt im Saal?«
Im Chaos, das nun folgte, war Margaret genauso schokkiert und verwirrt wie alle anderen. Sie war zunächst in die Kulissen gegangen, doch als die Fahrer des Krankenwagens mit einer Trage und allerlei Geräten hineingestürmt kamen, zog sie sich wieder zurück in die Inspizientenbox.
Der Vorhang war geschlossen, und das Publikum verließ den Zuschauerraum. Stian kam herein und setzte sich hin. Seine Stirn war schweißnaß, und er pellte sich aus seinem Pullover. Darunter trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Save The Whales (For Dinner)«.
»Scheiße«, sagte er und wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. »Der Bühnenmeister ruft gerade die Polizei.«
»Was ist denn?« fragte Margaret.
»Es ist nicht das Herz«, sagte Stian. »Er ist erschossen worden.«
Er blickte sie an, und der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Jemand hat ihn erschossen, verdammt!«
Später sollte dies eines der Dinge sein, an die sie sich am besten erinnern konnte: Dieser Blick, der sagte, daß niemand, nein, niemand!, das Recht hatte, so auf offener Bühne erschossen zu werden, während er, Stian Sondresen, in seiner Inspizientenbox alles unter Kontrolle haben sollte. Allerhöchstens mit Schüssen, die nicht aus den Revolvern kamen, die die als Polizisten verkleideten Schauspieler bei sich trugen, sondern von dem Tonband mit der Geräuschkulisse aus seiner Box.
Daran erinnerte sie sich, und außerdem an Jan Vogt Johansens Gesicht, das unter der Schminke ganz fahl war, als er auf der Trage hinausgebracht wurde.
Und an Siv Steens heftiges Schluchzen, wie sie da auf einem Stuhl neben der Bühne saß, die langen Beine in den hochhackigen Stepschuhen ausgestreckt, wie eine Stoffpuppe, die jemand fortgeworfen hatte. Sie hatte den Kopf nach hinten gelegt und ließ sich von Henny Haraldsen trösten.
Und an Meyer, den Intendanten, der schon längst alles unter Kontrolle hätte haben müssen, der seine Autorität hätte nutzen sollen, um seine Mitarbeiter zu beruhigen und Ordnung zu schaffen; er stand im Zuggang, fast verborgen von den Kulissen, sein Gesicht so weiß, daß es im Halbdunkel leuchtete.