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Kapitel 9

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Sabine war abweichend von ihrem Dienstplan am Samstagmorgen um halb acht mit belegten Brötchen und hartgekochten Eiern in der Polizeistation erschienen. Frühstück für die Verdächtigen eins und zwei, Karsten Koslowski und Olaf Hohmann. Das hatte sie versprochen. Die beiden mutmaßlichen Wilderer saßen etwas zerknittert auf ihren Pritschen. Hohmann wirkte mutlos, Koslowski schaute sie herausfordernd an. Er ergriff auch sofort das Wort.

»Dürfen Sie uns eigentlich hier festhalten, so ohne Haftbefehl? Wir kennen unsere Rechte.«

»Mal cool bleiben«, sagte Sabine und stellte zwei Pappteller mit dem Essen und zwei Pappbecher mit Kaffee auf den kleinen Tisch in der Arrestzelle. Hohmann stürzte sich sofort auf das karge Buffet.

»Jetzt frühstücken Sie erst mal und dann sehen wir weiter. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, wir dürfen Sie festhalten. Wir haben da draußen ein paar Tote, sie wurden vermutlich ermordet. Sie beide waren vor Ort. Bewaffnet. Sonst noch Fragen?«

»Ein paar?«, bellte Hohmann und verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Da waren doch nur zwei.«

Sabine schwieg.

»Aber Sie glauben doch nicht«, Hohmann wischte sich die mit Kaffee bekleckerte Hand an der Hose ab, »dass wir was damit zu tun haben? Wieso sollten wir …?«

Sabine unterbrach ihn. »Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Das wird alles von meiner superschlauen Kollegin aus Lüneburg ermittelt. Und die wird sicher schon bald von den noch viel schlaueren Kollegen vom LKA in Hannover an die Wand gedrückt.«

»Echt, Sabine, so siehst du das?« Die Stimme hinter ihr gehörte eindeutig Jakob Metzger. Das war seine geheime Superkraft: sich unbemerkt anschleichen und einmischen. »Ich hätte von dir etwas mehr Verständnis für unsere ausgeklügelten Dienstwege erwartet.« Er trat in die Arrestzelle. Er sah besser aus als in der Nacht. Frisch geduscht, rasiert, in Uniform mit gebügeltem Hemd und vermutlich halbwegs nüchtern. Vom ersten Tag an duzte der alte Mann Sabine. Sie sprach ihn nur mit »Herr Metzger« an. Vermutlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn sie ihn geduzt hätte. Hier auf dem Land war man nicht so förmlich. Aber sie schätzte ein wenig mehr Distanz zu ihren Vorgesetzten.

Metzger war erst zehn oder fünfzehn Jahre in Gartow. Darum hatte er Sabines Vater Johannes nicht mehr als Vorgesetzten gehabt. Zu dessen Kollegen hatte Sabine als Kind und als Jugendliche immer ein gutes Verhältnis gehabt. Das konnte ganz nützlich sein, wenn man am Wochenende in jugendlichem Irrsinn mit ein paar Freunden vom Scheunenfest im Nachbardorf kommend in eine Alkoholkontrolle geriet. Der Kumpel, der in einer solchen Situation gerade hinter dem Steuer saß, war Sabine auf ewig dankbar, wenn der Beamte im Auto die hübsche Tochter des Gartower Polizeichefs Langkafel erblickte und nur sagte: »Hallo, Sabine, dein Freund lässt den Wagen jetzt genau hier stehen und ihr geht zu Fuß weiter. Ich verlasse mich auf dich.« – »Ist klar, Dirk, danke.« Sie waren eine Familie.

Jakob Metzger gehörte nicht zu dieser Familie. Er war von einem größeren Revier aus Uelzen oder Celle hierher versetzt worden. Vermutlich wegen seiner Sauferei und ein paar unschönen Vorfällen. Seine Ehe hatte das wohl nicht überlebt. Sabines Papa hatte da mal so was angedeutet. Die Details behielt er für sich, denn er war kein Klatschmaul. Nun wohnte Metzger also seit Jahren in der kleinen Zweizimmerwohnung über der Wache und soff sich der Rente entgegen. Sabine mochte den alten Sturkopf irgendwie, ein enges Verhältnis wollte sie allerdings nicht zu ihm haben. »In zwei, drei Jahren«, hatte ihr Papa gesagt, als Sabine in Gartow anfing, »geht Metzger in Pension, wenn er sich nicht vorher totgesoffen hat, und dann übernimmst du den Laden, Mädchen.« Was für den Polizeiobermeister a. D. Langkafel vielleicht wie eine Karriereverheißung klang, war für Sabine ein Horrorszenario. Bis zur Rente in Gartow? Auf gar keinen Fall.

Metzger sah den beiden Männern beim Frühstück zu und grinste. »Dafür könnt ihr unserer Sabine danken. Bei mir hätte es keine Vollpension gegeben.«

»Nicht, dass wir uns da falsch verstehen, Herr Metzger«, sagte Sabine, »ich hab den Beleg vom Bäcker. Die 5,60 nehme ich mir gleich aus der Kasse.«

Sabine hatte sich gerade mit Hohmann an den Tisch in dem kleinen Raum gesetzt, den sie als Vernehmungszimmer nutzten, als das Chaos über die beschauliche Polizeistation Gartow hereinbrach. Mehrere Fahrzeuge fuhren vor: zwei Streifenwagen, ein Zivil-PKW und ein Transporter. Eine Menge Menschen stiegen aus, drei von ihnen stürmten die Wache. Allen voran Melanie Gierke. Sabine sah ihr an, dass sie seit ihrer letzten Begegnung in der Nacht am Tatort noch keinen Schlaf gefunden hatte – und auch keine Gelegenheit, die Kleidung zu wechseln.

»So«, sagte die Kommissarin und baute sich vor Metzger auf, der sich ihr in den Weg gestellt hatte, »da wären wir.«

»Das sehe ich«, sagte Metzger und rührte sich nicht vom Fleck. »Und was heißt das jetzt?«

»Wir müssen hier unser Hauptquartier aufschlagen. Die Ermittlungen werden sicher einige Zeit in Anspruch nehmen. Das machen wir nicht von Lüneburg aus. Im Laufe des Tages kommen auch noch Kollegen vom LKA, vermute ich.« Sie blickte sich in dem Raum um, dessen Einrichtung aus drei Schreibtischen und einem Tresen bestand. Außerdem gab es den Vernehmungsraum, die Arrestzelle mit zwei Pritschen und eine Kaffeeküche mit Kühlschrank. »Also, wo können wir uns ausbreiten?«

Metzger lachte. »Ausbreiten? Ich hör wohl nicht richtig. Sie sehen ja selbst, es ist gerade mal Platz für drei Leute. Und wie viele sind Sie?«

»Acht«, sagte Gierke, »vielleicht auch mal mehr. Da muss sich doch eine Lösung finden lassen.« Metzger schüttelte den Kopf. Sabine hätte gerne die Tür zum Vernehmungsraum geschlossen, um Ruhe zu haben, aber es gab keine.

»Die Garage«, sagte Attila, der die ganze Zeit von der Kaffeeküche aus die Ereignisse verfolgt hatte. Alle Anwesenden sahen ihn verblüfft an. »Na, da stehen zwei Streifenwagen drin, die können auch auf der Straße parken. Einer ist sowieso kaputt. Wir leihen uns irgendwo Tische und Stühle. Fertig.« Der Junge grinste siegesgewiss. Metzger nickte zustimmend.

»Prima Idee«, sagte nun auch die Gierke. »Ist echt nett von Ihnen, wenn Sie uns für ein paar Tage das Feld überlassen. Danke.«

»Was?«, rief Metzger laut aus und klatschte lachend in die Hände, die Gierke zuckte kaum merklich zusammen. »Das haben Sie falsch verstanden, liebe Kollegin. Sie und Ihre Supertruppe gehen in die Garage. Wir bleiben, wo wir sind. Wenn die Ermittlungen sowieso nur ein paar Tage dauern, wird das ja kein Problem sein, und die meiste Zeit werden Sie ja am Tatort verbringen, nehme ich an.«

»Ja und Telefon, Internet? Das brauchen wir ja auch.«

»Kann ich Ihnen mit Kabeln in die Garage legen«, beeilte sich Attila zu sagen. »Kein Ding.«

Man sah Melanie Gierke an, dass sie keine Kraft hatte, gegen den alten Mann und den engagierten Nachwuchs gleichzeitig zu kämpfen. Die Nacht steckte ihr in den Knochen. Sie gab auf. »Gut. Vielleicht finden wir woanders eine Möglichkeit. Gibt’s ein Hotel?«

»Nur das Hotel am See«, sagte nun Sabine, die sich dazugestellt hatte, weil Frau Gierke ihr irgendwie leidtat. Sabine wollte die Kollegin nicht ungeschützt den Machospielchen ihres Chefs überlassen. »Außerdem haben wir hier viele Ferienwohnungen. Möglich, dass fast alles ausgebucht ist. Superwetter, das Wochenende steht vor der Tür, bald beginnen die Sommerferien. Unser See ist beliebt.« Sie drehte sich zu Attila um, der sich vermutlich schon überlegte, wie er die muffige Garage in Windeseile in eine Kommandozentrale umfunktionieren könnte.

»Attila, du kannst doch mal ein bisschen herumtelefonieren und freie Zimmer für die Kollegen auftreiben, oder?«

Attila schien nicht begeistert, murmelte aber ein: »Klar, mach ich, Sabine«. In den wenigen Wochen, die er nun hier auf der Wache war, hatte Sabine ihn komplett um den Finger gewickelt, ohne dass sie das wirklich gewollt hatte. Er war Wachs in ihren Händen. War es ein Kompliment, wenn ein junger Mann von Anfang 20 sich in eine fast 30-Jährige verknallte?

Sabine stand natürlich nicht auf Attila. Er sah gut aus und war nett und sicher auch ganz clever, aber viel zu jung. Und an Männern war Sabine im Moment sowieso nicht interessiert. Ihre letzte Beziehung mit Harald, einem Gymnasiallehrer aus Lüneburg, war letztendlich an ihrem Umzug nach Gartow zerbrochen. Harald wollte sie nicht nur am Wochenende sehen, hatte allerdings auch keine Lust, unter der Woche nach Gartow zu kommen. Dann hätte er nämlich am nächsten Morgen um 6 Uhr aufstehen müssen. Doch das war alles nur vorgeschoben. Von ihm und genauso von Sabine. Sie hatte nicht um ihn gekämpft. Das Jahr mit ihm war schön gewesen – mehr nicht. Nun war ihr Vater der wichtigste Mann in ihrem Leben und der stellte weitaus weniger Ansprüche.

Metzger brachte Melanie Gierke in seine Wohnung, damit sie duschen und sich frisch machen konnte. Sabine hoffte, dass der alte Single es da oben einigermaßen sauber und ordentlich hatte.

Sie selbst konnte sich nun ihrem Herrn Hohmann widmen. Er saß etwas verloren an dem Tisch im Vernehmungszimmer. Ohne Handschellen. Sabine setzte sich ihm gegenüber.

»Also, Herr Hohmann, fangen wir von vorne an. Name, Geburtsdatum, Meldeadresse. Ich höre.«

Hohmann gab bereitwillig Auskunft, und Sabine tippte seine Angaben in den Polizeicomputer, wo sie sie gleich überprüfte. Alles stimmte. Hohmann hatte keine Vorstrafen. Sein Führerschein war vor zwei Jahren eingezogen worden.

»Zwei Jahre?«, sagte Sabine verwundert, »da müssen Sie ja ordentlich blau gewesen sein. Was ist passiert?«

»Ich habe das Wartehäuschen einer Bushaltestelle umgefahren.«

»Mehr nicht?«

»Mit dem Bus. Ich war der Fahrer. Es wurde niemand verletzt.«

»Verstehe – und nun erzählen Sie von der letzten Nacht. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie als Zeuge vernommen werden, nicht als Beschuldigter. Sie dürfen die Aussage verweigern, wenn Gefahr besteht, dass Sie sich selbst belasten. Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn wir über Wilderei oder illegalen Waffenbesitz sprechen. Verstehen Sie?«

Hohmann nickte. »Brauche ich einen Anwalt?« Sabine zuckte mit den Schultern. »Dauert halt alles noch länger.«

»Okay«, sagte Hohmann entschlossen, »bringen wir es hinter uns.«

Und dann erzählte er die in weiten Teilen langweilige Geschichte von einer nächtlichen Tour mit dem Kumpel Koslowski in den Wald, bei der sie eher zufällig die alte Schrotflinte von Hohmanns lange verstorbenem Vater dabeihatten.

»Und warum sind Sie dafür hierhergefahren?«, fragte Sabine. »Sie wohnen in Dannenberg. Da gibt es Wälder, die näher liegen.«

»Ach, der Wald hier gilt als besonders schön.«

»Wofür? Zum Jagen?«

Hohmann schwieg.

»Okay. Lassen wir das. Sie haben sich also in Ihr Auto gesetzt … Moment, wo ist Ihr Auto überhaupt? Und Sie haben doch gar keinen Führerschein.«

»Äh, ja«, druckste Hohmann herum, auf seiner Glatze bildeten sich Schweißperlen, das in der Nacht noch glattrasierte Kinn wies erste Stoppeln auf. »Ich habe kein Auto und Koslowski auch nicht. Er hat sich das von seinem Bruder geliehen. Einen alten Golf. Rot.«

»Und wo ist der?«

»Den haben wir nicht mehr wiedergefunden. Wir haben ihn gesucht, als wir Sie getroffen haben.«

»Das Fahrzeug steht da also irgendwo in der Nähe?«

Hohmann nickte.

»Ein einsames Auto am Waldesrand?« Sabine musste lachen. »Dann gehen Sie mal davon aus, dass meine Kollegen den Wagen inzwischen gefunden und als Beweismittel gesichert haben. Das wird einige Tage dauern. Und wahrscheinlich stehen Beamte gerade bei Koslowskis Bruder vor der Haustür, um ihn zu fragen, was sein Auto denn in der Nähe eines Tatorts macht. Na, der wird dumm gucken.«

Hohmann schaute betreten auf den Tisch.

»Was waren das denn für Leute, die da ermordet wurden?«, fragte er schließlich. Er wirkte echt betroffen.

»Das ist hier keine nette Plauderei, Herr Hohmann. Ich stelle die Fragen. Warum sind Sie zu dem Haus gegangen? Da gab es bestimmt keine Wildschweine.«

»Aus Neugier. Das lag da so geheimnisvoll, wie so ein Hexenhaus, wissen Sie?«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Stand ein Auto auf dem Hof?«

»Nein.«

»Ein Motorrad, ein Fahrrad, war da ein Hund? Mensch, wir brauchen jedes Detail. Brannte Licht?«

»Keine Fahrzeuge. Und, ja, es brannte Licht. Irgendwo im Innern. Nicht viel.« In der Küche, dachte Sabine, das hatte sie auch bemerkt. Es musste ein Gaslicht oder eine Kerze gewesen sein. Strom gab es ja nicht.

»Und dann«, Hohmann wollte offensichtlich etwas sagen und traute sich nicht. »Dann …«

»Was, und dann?«

»Dann war da noch dieses Kind.« Er sagte es mit gesenktem Blick, fast eher für sich, als würde er selbst nicht daran glauben.

»Ein Kind?«, Sabine wurde lauter, als sie wollte. »Was für ein Kind? Was reden Sie da? Waren Sie betrunken?«

»Nein. Ich hatte den ganzen Tag nichts getrunken. Ich war nüchtern. Im Wald war da dieses Kind. Kiste wird Ihnen sagen, dass ich …«

»Kiste?«, Sabine stand unter Strom. Etwas hatte dieser schräge Vogel gesehen, aber es würde nicht einfach sein, Irrsinn und Wirklichkeit in seinen Erzählungen zu unterscheiden.

»Kiste, so nennen wir Koslowski, weil …«

»Hohmann, es ist mir scheißegal, warum Sie den so nennen, was für ein Kind?«

»Na, das Kind, das mit dem Wolf weggelaufen ist.«

Dieser Satz ließ Sabines Adrenalinpegel schlagartig sinken. Was redete der Typ da für einen Blödsinn?

»Was denn für ein Wolf?«, fragte sie genervt. »War der mit Rotkäppchen unterwegs, oder was? Hohmann, verarschen Sie mich nicht.«

In diesem Moment steckte Melanie Gierke die frisch gewaschenen blonden Stoppeln durch die nicht vorhandene Tür. »Kann ich helfen?«

Die hatte gerade noch gefehlt. »Nein, danke, Frau Gierke, ich komme klar.«

»Gut. Ich mache ich mich jetzt mit Ihrem jungen Kollegen auf zur Turnhalle der Grundschule, die könnte als Einsatzzentrale passen«, sagte die Gierke und ging.

»Ja, gut. Tun Sie das.«

»Ich verarsche Sie nicht, ehrlich«, jammerte Hohmann. Wenn solche Typen »ehrlich« sagten, war alles zu spät. »Ich sage jetzt die ganze Wahrheit, und wenn ich dafür in den Knast muss.«

»Die ganze Wahrheit? Da freue ich mich wirklich, Herr Hohmann. Haben Sie den Korb mit Kuchen und Wein für die Großmutter gefunden?« Sabine ärgerte sich über ihren Sarkasmus, aber sie hatte keine Lust auf diesen Mist. Sie musste mit Koslowski, Kiste, ja noch so ein Gespräch führen.

»Wir waren nicht auf der Wildschweinjagd.« Hohmann schluckte, dieses Geständnis kostete ihn sichtlich Kraft. »Wir waren dort, um einen Wolf zu schießen. Jemand wollte uns dafür bezahlen.«

Ein Wolf in Zusammenhang mit Geld? Schlagartig kam Sabine Hohmanns Geschichte nicht mehr so abwegig vor. Sie wusste um die Wölfe in dieser Gegend, die von einigen als Problem wahrgenommen wurden.

»Ein Schäfer, nehme ich an. Wer?«, sagte Sabine.

Hohmann schwieg.

»Okay. Sie haben den Wolf also tatsächlich gestellt.«

»Ja. Nicht weit von diesem Haus. Auf der anderen Seite des Waldes war eine Schafweide mit ein paar Schafen, davon wurde der Wolf angelockt. Das war so geplant. Ich hatte ihn vor der Flinte, dann hat er uns wohl bemerkt und ist abgehauen. Ich habe noch geschossen, aber nicht getroffen.«

»Und das Kind?«

»Im Mündungsfeuer habe ich eine Gestalt gesehen. Ein Mensch, ganz sicher. Er war nicht groß. Eher so.« Er hielt seine Hand ungefähr 120 Zentimeter über den Boden.

»Und dieser Mensch ist mit dem Wolf weggerannt?«

»Ja, so wirkte es.«

»Können Sie sich vorstellen, was ein Wolf mit einem kleinen Kind macht? Die laufen doch nicht Hand in Hand zusammen weg«, sagte Sabine. Hohmann zuckte mit den Schultern. Sie wusste es selbst nicht. Sie hatte gelesen und im Fernsehen gesehen, dass Wölfe, entgegen der üblichen Vorurteile, keine brutalen Menschenfresser waren. Aber ob ein hungriger Wolf einen Unterschied zwischen einem Kind und einem Schaf machte?

Sabine atmete tief durch. Das Gespräch war anstrengender als erwartet, womöglich auch ergiebiger. Sie war sich da noch nicht sicher. »Herr Hohmann, ich glaube Ihnen. Ich glaube Ihnen, dass Sie einen Wolf gesehen haben, und ich glaube Ihnen auch, dass Sie ein Kind gesehen haben. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass Sie beide zusammen gesehen haben. Spielt Ihnen Ihre Erinnerung da einen Streich?«

»Nein, sicher nicht«, sagte Hohmann und fragte nach einer kurzen Pause: »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Folgendermaßen«, sagte Sabine. »Sie geben Fingerabdrücke und DNA-Probe ab und unterschreiben Ihre Aussage. Dann spreche ich mit Kiste«, sie lächelte, »und anschließend können Sie abhauen. Das Gewehr behalten wir hier. Das wird Folgen haben, wegen der fehlenden Besitzkarte. Den gejagten Wolf will ich Ihnen nicht anhängen. Seien Sie froh, dass Sie ihn nicht getroffen haben. Auf das Auto müssen Sie sicher noch eine Zeit warten.«

Hohmann sagte: »Danke.« Er war sichtlich erleichtert. Das Kind ging Sabine nicht aus dem Kopf. Dieser Kiste, Karsten Koslowski, bestritt in der anschließenden Vernehmung energisch, dass da ein Kind gewesen sei, und meinte, dass sein Freund sich das nur einbilde.

Am Mittag fuhr Sabine mit dem Fahrrad nach Hause. Das dauerte keine fünf Minuten. Wenn ihr Papa gut drauf war, kochte er mittags gerne eine Kleinigkeit. Andernfalls hatte Sabine immer etwas in der Tiefkühltruhe, was sie in der Mikrowelle für ihren Vater und sich auftauen konnte.

Als sie in das kleine Haus trat, das sie so liebte und an dem so viele Erinnerungen hingen, duftete es nach Essen. Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffelpüree standen fertig auf dem Herd. Was hatte sie für ein Glück, einen der wenigen Männer seiner Generation zum Vater zu haben, die kochen konnten. Als sie am Morgen das Haus verlassen hatte, schlief Papa noch, sodass sie ihn nicht über die spektakulären Ereignisse der Nacht hatte informieren können. Im Radio waren aber offenbar bereits einige rudimentäre Meldungen gesendet worden.

»Schön, dass du da bist«, rief er ihr aus der Küche entgegen, »du bekommst nur was zu essen, wenn du mir alles ganz genau und haarklein erzählst.«

Sie gab ihm einen Kuss und half ihm, Teller und Töpfe auf die Terrasse zu tragen.

»Für alle Details habe ich keine Zeit, aber einen groben Überblick kann ich dir geben.«

An ihre Schweigepflicht als Polizeibeamtin fühlte sich Sabine bei ihrem Vater nicht gebunden. Er war selbst Polizist gewesen, er wusste, wie das lief, er würde nie etwas ausplaudern.

Sabine kam kaum dazu, das gute Essen zu genießen, so löcherte sie der alte Mann mit Fragen. Er war der ewige Polizist. Einer seiner zahlreichen Freunde hatte mal gesagt, der Hannes würde noch auf dem Sterbebett einen Verbrecher überführen.

Der Fall, den Sabine ihrem Vater in knappen Worten schilderte, berührte ihn sehr. Ein solches Verbrechen mit fünf Toten hatte er in 40 Dienstjahren in seinem Zuständigkeitsbereich nicht erlebt.

»Fünf Menschen, Sabine, das ist ja grauenhaft. Wer tut so was?«

»Wir vermuten im Moment, dass es einer der Bewohner war. Erweiterter Suizid. Aber sicher ist es nicht.«

»Erweiterter Suizid«, sagte der Alte verächtlich, »das ist eine blöde Formulierung. Das klingt so harmlos. In Wirklichkeit ist es ein vierfacher Mord und ein Selbstmord. Nennt es auch so.«

»Ja, Papa. – Was waren das für Leute, wer hat auf diesem Hof gelebt? Ich kenne keinen von denen.«

Der Alte senkte den dichten schneeweißen Haarschopf und legte die Hand an die Stirn. Das tat er seit ein paar Jahren, wenn er nachdachte, vor allem, wenn er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Sein Gehirn sei stark wie immer, sagte Sabine gerne, wenn er sich Sorgen um seine geistige Gesundheit machte, es sei halt nicht mehr ganz so schnell.

»Das war der Hof vom Bauer Kurze, Heinrich Kurze«, sagte der Alte schließlich. »Der hatte nur noch eine kleine Landwirtschaft. Das meiste verpachtet. Irgendwann, ich glaube, das war Ende der 70er, gab es dann diesen schrecklichen Unfall.«

»Was für einen Unfall, Papa?«

»Er ist mit seinem PKW nachts in einen Traktor gerast, der unbeleuchtet vom Feld kam. Ich war vor Ort. Ein schrecklicher Anblick. Heinrich und seine Frau Greta waren sofort tot. Heinrich hatte natürlich ordentlich getankt. Das war damals noch völlig normal.«

»Und was geschah danach mit dem Hof?«

»Heinrich hatte einen Sohn. Ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Muss so um die 20 gewesen sein. Der hat den Hof bestimmt geerbt. Aber, Kind, das ist alles so lange her. Ich weiß nicht, was der mit dem Hof gemacht hat. Viel wert war er sicher nicht. Ich glaube, da haben eine Zeitlang Hippies gehaust. Hat manchmal Ärger gegeben.«

»Hat dieser Sohn lange auf dem Hof gelebt oder lebte er da vielleicht bis heute?«

»Ich sag doch, ich weiß es nicht genau. Ich muss mal in meine Akten gucken, vielleicht finde ich da was. Ich meine, der war später auch bei diesen Anti-Atomkraft-Leuten dabei gewesen. Republik Freies Wendland. Aber welcher junge Mensch war das nicht zu der Zeit.«

Sabine räumte den Tisch ab, und Papa versuchte sie daran zu hindern. Das war fast ein Ritual.

Papa hatte während seiner Dienstjahrzehnte alle interessanten Vorgänge aufgehoben. Akten, die auf der Dienststelle niemanden mehr interessierten, hatte er nach Hause geschleppt und archiviert. Der Keller des kleinen Hauses war voll mit Papas Schätzen, die tatsächlich gut sortiert waren. Häufiger hatten jüngere Leute aus dem Dorf dem Sheriff von Gartow, wie er in seiner Stammkneipe respektvoll genannt wurde, angeboten, den Kram zu digitalisieren, Datenbanken und Verzeichnisse anzulegen. Aber das war nicht Papas Ding. Sabine war froh, dass er inzwischen wenigstens ein Smartphone benutzte. Das wichtigste Werkzeug ist das, sagte er immer und tippte sich an die Stirn.

Als Sabine wieder in der Polizeistation eintraf, wurde sie von Melanie Gierke ungeduldig erwartet. Metzger war nicht da. Mittagsschlaf. Daran konnten ihn auch fünf Tote und die halbe Kripo Niedersachsens nicht hindern.

»Schöne Mittagspause gehabt?«, fragte die Gierke schnippisch.

»Ja, danke. Mein Vater ist ein guter Koch. Wenn Sie noch länger in der Gegend bleiben, nehme ich Sie gerne mittags mal mit.«

Die Gierke reagierte nicht auf diese Einladung, die Sabine durchaus ernst meinte, und kam gleich zur Sache.

»Hat die Vernehmung Ihrer Wilderer irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht?« Sie saß gegenüber von Sabines Schreibtisch, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit einem Fuß, der von einer schönen Ledersandale bekleidet war.

»Nur so viel, dass sie nicht Wilderer im engeren Sinne sind.«

»Wie meinen Sie das?«

Sabine erzählte die Wolfgeschichte. Melanie Gierke schien mäßig beeindruckt.

»Und was noch?«, fragte sie und schien zu spüren, dass das nicht alles war.

»Die Männer haben im Wald ein Kind gesehen, jedenfalls behauptet das einer von ihnen.«

»Ein Kind«, sagte die Gierke, und es klang weder wie eine Frage noch verwundert. Sie machte eine kurze Pause. »Das Kind, nach dem Sie in dem Haus gesucht haben.«

Sabine nickte.

»Scheiße«, rief die Gierke und sprang auf. »Soll das heißen, dass da draußen im Wald tatsächlich ein Kind herumirrt und vielleicht sogar ein Wolf?«

»Na ja, das sagt halt einer der beiden. Und besonders glaubwürdig ist der nicht. Das sind Alkoholiker, Frau Gierke.« Sabine hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen, dass sie so viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen.

Melanie Gierke drehte sich wortlos weg, nahm ihr Handy, tippte auf einen Kontakt und feuerte eine Salve an Anweisungen durch die Leitung. Es kamen Worte wie »Hundertschaft«, »Hundestaffel« und »Hubschrauber« darin vor. Wenigstens musste die Gierke nun insgeheim eingestehen, dass Sabines Suche nach einem Kind in der Nacht kein Unfug gewesen war. Als die Gierke ihre Einsatzbefehle abgespult hatte, wandte sie sich wieder an Sabine.

»Ihr überaus engagierter junger Kollege Attila hat nicht nur die Turnhalle der Grundschule für unser Hauptquartier beschlagnahmt und Gästezimmer buchen können, sondern auch den Besitzer des Hofes ermittelt.«

»Und?«, fragte Sabine.

Die Gierke las etwas von ihrem Handy ab. »Heinrich und Greta Kurze sind als Eigentümer eingetragen. Keine Grundschuld.«

Sabine musste grinsen. War es wichtig, dass die Bruchbude abbezahlt war? Sie konnte es sich nicht verkneifen, den Informationsvorsprung, den Papa ihr verschafft hatte, genüsslich zu inszenieren. »Wie schön, dass Heinrich und Greta für den Fall ihrer Wiedergeburt eine irdische Bleibe haben. Die beiden sind nämlich seit 40 Jahren tot.«

»Ups«, machte Melanie Gierke und sie wirkte nicht beleidigt, »dann hat der gute Attila die Recherche wohl mittendrin abgebrochen.«

»Er lernt ja noch«, sagte Sabine und grinste zu Attila hinüber, der an seinem Schreibtisch saß und dem Gespräch der beiden Frauen aufmerksam folgte. Er schaute verlegen.

»Sabine, echt, das steht so im Grundbuch, ich habe mir den Auszug aus Dannenberg faxen lassen.« Attila hielt ein Blatt hoch.

»Ihr faxt noch?«, fragte die Gierke überheblich.

»Wir nicht«, entgegnete Sabine, »Dannenberg faxt.«

»Ohne Quatsch jetzt, Frau Langkafel, wem gehört der Hof, wenn nicht dem toten Heinrich und der toten Greta, und wieso stehen die bis heute im Grundbuch?«

»Die Erklärung ist vermutlich einfacher, als Sie denken«, ertönte Metzgers Stimme, der frisch und ausgeruht in der Tür stand. »Der Erbe muss mit dem Erbschein zum Amtsgericht gehen und das Grundstück umtragen lassen. Tut er das nicht, passiert gar nichts.«

»Also wohnt der Sohn da?«, fragte Sabine.

»Nein«, antwortete Metzger, »muss ja nicht. Er hat das Grundbuch nicht ändern lassen. Also hat er die Immobilie nie verkauft. Das ist alles. Es sagt uns nichts darüber, wer dort wohnt. Das sagt uns höchstens das Melderegister.«

»Nee«, schaltete sich Attila ein, »laut Melderegister wohnt da niemand.«

Mord im Wendland

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