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Kapitel 2

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Olaf hatte lange genug auf den Marschbefehl gewartet. Es war schon einige Wochen her, dass der Bauer vom Leineweberhof und noch ein paar andere Kerle auf ihn zugekommen waren und ihm das verlockende Angebot gemacht hatten. Genau im richtigen Moment, denn die Zeiten waren hart. Seit fast zwei Jahren war Olaf nun arbeitslos und bald würde er Hartz IV beantragen müssen. Er würde auch in den kommenden Wochen keinen Job finden. Als Busfahrer ohne Führerschein war das nicht so einfach. Lagerarbeiter ging nicht wegen seines Rückens, Landarbeiter auch nicht. Einräumer im Supermarkt stand noch auf der Liste, doch die hatten ihn nicht genommen, weil er beim Vorstellungsgespräch zu viel intus gehabt hatte. Egal, er war nicht scharf auf so einen Scheißjob, und wenn sich ihm ab und zu Gelegenheiten wie diese bieten würden, war das Leben ja erträglich. 5.000 Euro hatte der Bauer geboten. Da Olaf den Job aber nicht alleine machen konnte, musste er jemanden finden, der ihm half.

Karsten, genannt Kiste, war der Auserwählte. Der hatte gerade mal wieder einen Job, allerdings nur Teilzeit in einem Getränkecenter zum Mindestlohn. Kiste war für solche Sachen zu haben. Und Kiste hatte ein Auto – oder genauer gesagt sein Bruder, der momentan in Lüneburg eine kurze Haftstrafe wegen Kreditkartenbetrugs absaß und den Wagen nicht brauchte. Das Auto war für den Abtransport bestimmt. Die Auftraggeber bestanden nämlich darauf, zu sehen, dass der Job erledigt war. Das war der gefährlichste Teil der Sache.

Egal. Am Nachmittag war der Anruf gekommen und es konnte losgehen. Die Warterei bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte Olaf fast irre gemacht. Er hätte zu gerne seine Aufregung mit einem Kümmel oder zwei heruntergeregelt, doch das verbot sich von selbst. Er musste eine ruhige Hand und ein ungetrübtes Auge haben. Das mit der ruhigen Hand war schwierig. Viele Jahre der Sauferei ließen sich nicht wegdrücken. Er hatte auch lange nicht mehr geschossen. Eigentlich wollte er vor dem Einsatz üben, aber wo hätte er das tun sollen? Im Schützenverein war er seit Langem nicht mehr und für ein ruhiges Plätzchen im Wald hätte er gehen müssen. Mit dem Gewehr über der Schulter. Auf dem Weg von seiner kleinen Bude am Stadtrand von Dannenberg bis in den nächsten Wald war es fast eine Stunde zu Fuß. Unterwegs wäre ihm bestimmt jemand begegnet und hätte doofe Fragen gestellt.

Die alte doppelläufige Schrotflinte seines Vaters lag nun geölt und geladen vor ihm auf dem Wohnzimmertisch. Sie würde ihren Zweck erfüllen.

Die Sonne ging unter. Es klingelte. Olaf öffnete die Tür. Kiste lehnte betont lässig am Türrahmen und sog an einer Zigarette. Er war etwas jünger als Olaf, 48 oder so, aber das sah man ihm nicht an. Die grauen Haare hingen dünn und strähnig auf die Schultern. Rasiert hatte er sich sicher seit zwei Wochen nicht mehr. Kiste trug ein grünes T-Shirt und eine abgeschnittene Jeans, dazu ausgelatschte Sneakers. Wenigstens hatte er sich an Olafs Anweisung gehalten und keine grellen Farben angezogen wie sonst.

»Im Wald wird nicht geraucht«, sagte Olaf streng und Kiste nickte nur.

»Warte hier«, sagte Olaf, der nicht wollte, dass Kiste einen Fuß in seine unordentliche Bude setzte, obwohl es bei ihm zu Hause sicher nicht besser aussah. Er schob das Gewehr in das dunkelgrüne Futteral und zog sich die hellgrüne Weste an, in deren Taschen er ein paar Patronen verstaut hatte. Dann verließen sie das Haus.

Zum Auto mussten sie ein Stück gehen, weil man nicht direkt bis zu Olafs Hütte fahren konnte, die in einer Art Schrebergartensiedlung lag. Sie kamen an der Bushaltestelle vorbei, an der immer die kleinen Jungs aus den Hochhäusern herumlungerten und kifften. Sie musterten Olaf und Kiste interessiert.

»Ey, Almans«, rief der Kleinste von ihnen, »was habt ihr denn vor? Einen umlegen?«

»Halt die Fresse, du Schwuchtel, sonst bist du der eine«, rief Kiste und Olaf boxte ihn in die Rippen.

»Spinnst du? Ich will jetzt keinen Ärger mit den Kanaken.«

»Halt du die Fresse, Alman«, rief ein anderer aus der Gruppe, »sonst komm ich mal rüber.« Sie lachten.

Olaf und Karsten gingen etwas schneller. Bevor die Situation eskalieren konnte, waren sie schon an Karstens Wagen. Kiste schloss den alten Golf auf und Olaf legte das Gewehr auf die Rückbank.

»Hey, nicht dahin«, zischte Kiste, »in den Kofferraum, da sieht das Ding keiner.«

Karsten setzte sich hinters Steuer und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Oh, muss das sein?«, maulte Olaf, dem es bei allen schlechten Angewohnheiten wenigstens gelungen war, mit dem Rauchen aufzuhören. Vor Jahren schon.

»Sind wir hier im Wald, oder was?«, sagte Kiste und lachte. Sie fuhren los. Es war verdammt heiß in dem alten Wagen, eine Klimaanlage gab es natürlich nicht, und das Fenster auf Olafs Seite ließ sich nicht öffnen. Die Kurbel fehlte. Am Rückspiegel baumelte ein grüner Duftbaum, der sicher längst den Gestank der vielen Zigaretten angenommen hatte, die hier geraucht wurden. Der Fußraum auf der Beifahrerseite war vollgemüllt mit McDonald’s-Verpackungen, leeren Zigarettenschachteln und Coladosen. Olaf versuchte, das Radio einzuschalten, doch Kiste sagte nur: »Kaputt.«

Olaf beobachtete Kiste. Der Kerl schien kein bisschen nervös zu sein. Schnallte er nicht, dass sie auf dem Weg waren, eine schwere Straftat zu begehen, auf die viele Jahre Knast stand?

Die beiden Männer kannten sich erst knapp zwei Jahre. Sie hatten sich bei einem Bewerbungstraining des Arbeitsamtes kennengelernt und waren nach dieser komplett sinnlosen Maßnahme in Olafs Stammkneipe versackt. Dort liefen sie sich seitdem immer wieder über den Weg, denn Kiste hatte die Sport-Klause auch zu seiner Stammkneipe erkoren. Waren sie Freunde? Olaf stellte sich diese Frage nicht. Mit Kiste konnte er trinken, lachen und quatschen, den ganzen Mist für ein paar Stunden vergessen. Und er konnte mit ihm so ein Ding drehen und sich einigermaßen darauf verlassen, dass Kiste ihn nicht verpfeifen würde.

»Bist du sicher, dass wir das mit ner Schrotflinte hinkriegen?«, fragte Kiste, als sie auf der Dannenberger Straße Richtung Südosten den Ort verließen.

»Ich denke schon. Hast du was Besseres?«

»Nee. Ich mein ja nur.«

»Du sollst nicht meinen, Kiste, du sollst tun, was ich dir sage. Dafür bekommst du nen Tausender.«

»Und die Arschlöcher tun wirklich bloß 2.000 raus? Ich finde, das ist echt wenig.«

»Ja, ist halt so. Hättest ja nein sagen können, dann hätte ich jemand anders gefragt. Verhandeln ist mit denen nicht.«

»Ja, ja, ist schon gut.«

Olaf hatte kein schlechtes Gewissen, Karsten hinsichtlich des Geldes zu belügen. Er hatte den Job aufgetrieben, er besaß das Gewehr und er würde am Ende schießen. Da war es nur gerecht, dass sein Anteil größer ausfiel. Das hätte Kiste aber nie eingesehen, und deshalb war es besser, die Wahrheit etwas zu bearbeiten.

»Wie ist dieser Bauer überhaupt auf dich gekommen, Olaf?«, fragte Kiste. »Kennste den? Ist doch gar nicht unsere Gegend.«

»Nee. Ich kenne einen von seinen Arbeitern – oder besser Sklaven. Siggi heißt der. Mit dem war ich im Schützenverein. Der ist aber auch ziemlich parterre inzwischen. Der hat mich wohl empfohlen.«

»Und warum macht der Siggi den Job nicht selbst, wenn er so parterre ist?«

»Was weiß ich, Kiste. Weil er zu alt und zu blind dafür ist, weil er Schiss hat. Mir egal.«

Kiste konnte nie lange die Klappe halten. Schon stellte er die nächste blöde Frage. »Und woher weißt du, wo wir suchen müssen? Ich mein, der schlägt ja nicht irgendwo ein Zelt auf und wartet auf uns«, sagte er, während er zu schnell durch eine langgestreckte Kurve auf der Dannenberger Straße Richtung Gorleben fuhr. Der alte Wagen schlingerte beunruhigend. Es war nun fast dunkel.

»Der Bauer hat ihn da gestern Abend rumschleichen sehen, und wenn er heute ein paar Schafe auf seine Weide stellt, dann taucht der Mistkerl wieder auf. Garantiert.«

Karsten schwieg einen Moment und starrte auf die Straße. Er schien nachzudenken. Olaf war sicher, dass er selbst der Intelligentere von ihnen beiden war, doch er vermied es, Kiste das spüren zu lassen.

»Sind ja eigentlich ganz tolle Tiere, oder?«, sagte Kiste versonnen.

»Hä? Alles klar bei dir? Jetzt werd bloß nicht gefühlsduselig. Wir machen das Monster platt. Wir sind nicht im Auftrag von Greenpeace unterwegs.«

»Ja, ja. Keine Sorge. Aber wieso ist der überhaupt alleine? Sind die nicht sonst im Rudel unterwegs?«

»Das ist so ein Einzelgänger. Ein alter Hund. Der macht besonders viel kaputt, wenn er die Gelegenheit dazu hat.«

»Aha, hast du ne Doku gesehen, oder was?«, fragte Kiste und grinste.

»Nee. Hat der Bauer mir erzählt.«

»Und was ist, wenn das Monster auf uns losgeht? Ich mein, wenn der so ein Lonesome Cowboy ist …«

»Mensch, Kiste, kriegste Schiss, oder was?«

»Nee, Quatsch. Wenn der böse Wolf kommt, dann machst du ihn doch mit einem Schuss aus deinem Henry­stutzen sofort platt, oder, Old Shatterhand?«, Kiste lachte sich kaputt über seinen eigenen blöden Witz. Fast hätte er den Abzweig verpasst, den Olaf mit einem Fingerzeig angekündigt hatte.

Nun fuhren sie langsam über eine schmale, asphaltierte Straße tiefer in den Wald hinein. Olaf suchte auf seinem Smartphone nach der Stelle, die der Bauer ihm genannt hatte. Bis auf das unrunde Motorgeräusch des Golfs war es totenstill. Keine Menschen, keine Autos, das Ende der Welt.

»Hier halten wir, Kiste. Fahr da rechts in den kleinen Waldweg rein«, kommandierte Olaf und Kiste gehorchte. Er stellte den Motor ab und sie stiegen aus. Olaf nahm das Gewehr aus dem Kofferraum und zog es aus dem Futteral. Er ließ die Hülle im Auto liegen und knickte den Doppellauf der Flinte ab, um sich zu vergewissern, ob wirklich zwei Schrotpatronen in den Läufen steckten.

Kiste musterte den geparkten Wagen. »Der kann doch so nicht stehen bleiben. Wenn den jemand sieht und sich das Nummernschild notiert, dann …«

»Was willste denn machen? Ne Tiefgarage ist hier nicht, Kiste.«

»Ich versteck den da hinter dem Stapel«, sagte Kiste und sprang ins Fahrzeug. Umständlich kurvte er hinter den verwitterten Holzstapel, den sein Besitzer sicher längst vergessen hatte, und bohrte den Golf regelrecht in das Gebüsch. Die paar Kratzer mehr würden neben den vielen anderen nicht auffallen.

Kiste ging einige Schritte und betrachtete aus der Entfernung sein Versteck. »Genial ist das, Olaf, wie weggezaubert, die Karre.«

»Ja, Kiste, bist Siegfried und Roy in einer Person.«

»Und jetzt?«, fragte Kiste voller Tatendrang.

»Jetzt gehen wir in diese Richtung in den Wald rein. Auf der anderen Seite, ungefähr 800 Meter von hier, ist die Weide von dem Bauern, wo er hoffentlich seine stinkenden Heidschnucken platziert hat. So wie der Wind im Moment steht, wird der Wolf die Schafe wittern, aber nicht uns, weil wir aus der anderen Richtung kommen. Verstehste?«

»800 Meter?«, bellte Kiste. »Wird das ne verfickte Nachtwanderung, oder was?« Kiste wollte sich schon wieder eine Zigarette anzünden, doch ein kritischer Blick von Olaf reichte, um ihn zu stoppen.

»Wir gehen jetzt da rein«, sagte Olaf ernst und deutete auf die dunkelgrüne Wand aus Fichten, die sich vor ihnen aufbaute. »Und wir halten die Fresse, kein Wort. Wir sind auf der Jagd, kapiert?«

Kiste nickte.

Leicht gebückt schlichen sie in den Wald. Olaf hatte das Gewehr so über der Schulter hängen, dass er es sofort in Anschlag bringen konnte.

Es war stockfinster. Kein Mond, keine Sterne. Zwischen den dichten Bäumen hätte Licht auch kaum eine Chance gehabt. Natürlich hatten sie Taschenlampen dabei, aber da hätten sie ja gleich laut herumbrüllen können. Olaf hatte einen Kompass mit Leuchtzeigern in der Hand und folgte stur der eingeschlagenen Richtung. Immer wieder stolperten sie über Wurzeln, traten in tiefe Furchen. Sie mussten um Haufen abgestorbener Äste herumgehen. Äste bohrten sich in ihre Beine. Sie kamen recht langsam voran. Das trockene Laub und die kleinen Zweige unter ihren Füßen machten einen Höllenlärm in dieser totenstillen Umgebung. Olaf hoffte, dass der leichte Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstreifte, ihre Geräusche von den empfindlichen Ohren des Wolfes fernhielt.

Der Wald war sehr dicht. Unordentlich standen die gut 20 Meter hohen Fichten nebeneinander. Es gab keine Lichtungen, keine Flächen für die Holzarbeiter oder Picknickplätze für Wanderer. Unvermittelt legte Olaf Karsten die Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Auch er selbst ließ sich auf den Waldboden sinken. Sie drehten sich in die Richtung, in der Olaf die Weide in ungefähr 200 Metern Entfernung vermutete, und starrten in die Dunkelheit. Olaf bildete sich ein, einen leichten Schafsgeruch wahrzunehmen. Es war offensichtlich, dass sich Kiste zusammenreißen musste, um nicht irgendeinen Quatsch zu reden. Nach einer halben Stunde, in der sich Karsten alle 30 Sekunden anders hingesetzt hatte, hielt er es nicht mehr länger aus.

»Wie lange sollen wir jetzt hier rumhocken?«, flüsterte Kiste.

»Bis er kommt.«

»Der Wolf?«

»Ja, der. Und der Mond.«

Kaum, dass Olaf das gesagt hatte, wurde es über ihren Köpfen hell. Nicht wirklich hell, aber in dieser Dunkelheit wirkte jedes Glühwürmchen wie eine Flutlichtanlage. Nun konnten sie mehr von ihrer Umgebung erkennen. Die Weide, die Heidschnucken oder gar den Wolf sahen sie jedoch nicht.

Eine Viertelstunde später stand Olaf auf und ging langsam in Richtung Weide. Kiste folgte. Irgendwann zeigte er mit dem Finger nach rechts auf etwas zwischen den Bäumen. Zunächst erkannte Olaf nichts, doch dann bemerkte auch er ein schwaches Licht, das zwischen den Stämmen hindurchschimmerte. Irgendwo da hinten musste ein Haus sein. Würde der Wolf hier überhaupt auftauchen, wenn so nah Menschen lebten? Aber der Bauer hatte ihn in der Nähe gesehen, also würde er kommen.

Langsam gingen sie weiter. Kiste platzte fast vor Mitteilungsdrang.

»Hat die ganze Aktion überhaupt noch Sinn?«, maulte er in einer Lautstärke, die nicht mehr als Flüstern durchging.

»Halt den Rand«, zischte Olaf ihn an, »sonst können wir wirklich gleich abhauen.«

Und plötzlich, an einer Stelle, an der die Bäume etwas unregelmäßiger verteilt wuchsen und sich ein kleiner Hügel erhob, stand auf diesem Hügel: der Wolf. Sie sahen ihn von der Seite und er blickte in die Richtung, in der sie kurz zuvor das Licht entdeckt hatten. Olaf brach augenblicklich der Schweiß aus. Nie zuvor war er einem Wolf in freier Wildbahn begegnet. Klar, im Wildpark Schwarze Berge, da gab es auch Wölfe, aber hier im Wald, keine 50 Meter entfernt, das war schon verdammt krass.

Olaf hatte in der Zeitung gelesen, dass es inzwischen wieder viele Wölfe in der Gegend gab. Man sprach von zehn Wolfsrudeln allein im östlichen Niedersachsen. Sie wurden zu einer echten Plage für die Schaf- und Rinderzüchter und erschießen durfte man sie nicht. Bis zu fünf Jahre Gefängnis und 50.000 Euro Strafe drohten beim Abschuss eines Wolfes. Olaf konnte verstehen, dass die Bauern das nicht einsahen. Warum sollte man ihnen verbieten, ihr Eigentum zu schützen? Aber so war das heute. Da haben die Ökos aus der Stadt mehr zu sagen als die Leute, die jeden Tag mit harter Arbeit auf dem Land ihr Geld verdienen müssen. Zum Kotzen.

Olaf hob langsam die Büchse und legte an. Er zitterte. Seit fast 24 Stunden hatte er keinen Tropfen getrunken. Das war er nicht gewohnt. Und aufgeregt war er. Nur einen guten Schuss entfernt von 4.000 Euro Cash. Es musste klappen.

Er spannte den Hahn. Das Klicken dröhnte in seinem rechten Ohr wie eine Bombenexplosion. Nun drehte der Wolf seinen Kopf, schaute in Olafs Richtung und spitzte die Ohren – für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sprang er von dem Hügel und verschwand zwischen den Bäumen.

Scheiße, weg. Keine Chance mehr, ihn zu erwischen. Mit diesem Gedanken zog Olaf den Abzug. Ein fürchterlicher Knall und im grellen Feuerschein der Büchse bemerkte Olaf noch etwas. Etwas Kleines, Helles huschte hinter dem Wolf her. Ein Junges? Ein Welpe? Nein, dafür war es zu groß. War es ein Mensch, ein kleiner Mensch? Oder irrte er sich? Er pinkelte sich fast ein vor Aufregung.

»Kiste, hast du das gesehen?«, zischte er dem Komplizen zu, der zehn Meter entfernt hinter einem Baum kauerte.

»Ja, habe ich. Du hast danebengeschossen, Old Shatterhand.« Er kicherte leise.

»Ach Quatsch, ich meine das Kind. Da war doch ein Kind, oder ein kleiner Erwachsener, irgendwas.« Olaf bemühte sich nicht länger, leise zu sein. Der Wolf war weg.

»Nee, da war nix. Nur der Wolf. Bis er nicht mehr da war.«

»Du bist ja total blind«, schimpfte Olaf und ging vorsichtig zu der Stelle, an der vorher der Wolf gestanden hatte. Er hatte Angst. Wenn da nun wirklich ein Mensch gewesen war und er ihn getroffen hatte? Nicht auszudenken. Dann wäre er geliefert. Er suchte den Waldboden ab. Schließlich auch mit der Taschenlampe, die er in seiner Weste bei sich trug. Er leuchtete in Büsche, in Farne.

»Was machst du?«, fragte Kiste, der ihm gefolgt war. »So verjagst du das Vieh auf jeden Fall.«

Olaf antwortete nicht. Langsam machte er ein paar Schritte in die Richtung, in die der Wolf und die andere Gestalt gelaufen waren, und leuchtete auf den Boden vor seinen Füßen. Er war darauf vorbereitet, jeden Moment auf etwas Schockierendes zu stoßen. Blut. Oder vielleicht sogar einen Menschen. Verletzt. Tot. Warum rennt da mitten in der Nacht einer im Wald rum? Verdammter Mist.

Doch er entdeckte nichts Schockierendes. Olaf und Kiste irrten planlos durch den Wald, dem schmalen Lichtschein von Olafs Taschenlampe folgend. Sie hatten sich verlaufen. Irgendwann standen sie vor dem Haus, dessen Licht sie vermutlich schon zu Beginn ihrer Jagd von Weitem gesehen hatten.

Es war ein einfaches Bauernhaus, wie es sie viele in der Gegend gab. Eineinhalb Stockwerke, ein Dach, das früher sicher mal mit Reet gedeckt war, nun aber mit vermoosten Ziegeln. Es war in schlechtem Zustand, auch das Fachwerk und die Ziegel der Wände des Hauses schienen nicht gepflegt. Von den hölzernen Fensterrahmen blätterte der weiße Lack. Das Haus war mittelgroß, kein fetter Gutshof, aber auch keine Kate. Olaf schätzte sechs Räume im Erdgeschoss und ebenso viele im Dachgeschoss, vielleicht ein Keller.

»Wo willst du hin?«, fragte Kiste, als Olaf langsam an dem Haus vorbei auf den Hof schlich. »Meinst du, der Wolf hat sich da verschanzt und nimmt erst mal ne warme Dusche, oder was?«

Olaf schüttelte genervt den Kopf und ging weiter. Erst jetzt bemerkte er, dass er die ganze Zeit die Büchse fast schussbereit unter dem Arm trug. Eine Patrone steckte noch im Lauf. Der Wolf würde sich sicher nicht auf diesen Hof flüchten. Aber vielleicht der Mensch, den Olaf glaubte, gesehen zu haben.

Mitten auf dem Hof blieb er stehen. Neben dem Hauptgebäude gab es einen kleinen Schuppen, dessen Tor offenstand, es befand sich kein Fahrzeug darin. Gegenüber dem Haupthaus und ein wenig abseits entdeckte er eine etwas größere Scheune. Der Vollmond stand nun so, dass er alles gut erkennen konnte. Die Scheune war in noch schlechterem Zustand als das Haupthaus. In dem zweiflügeligen Holztor fehlten einige Latten. Das Tor hing schief in seinen Angeln. Im Dach klafften große Löcher. Was auch immer in dieser Scheune gelagert wurde, es konnte nicht mehr viel taugen.

Der Hof war bewohnt. Davon zeugten Gartengeräte und verblichene Liegestühle, die an der Hauswand lehnten, eine überquellende Mülltonne und eine leere, eingestaubte Colakiste, die neben der dreistufigen Treppe zum Haupteingang stand. Rechts neben dem Haus meinte Olaf einen Garten zu erkennen, mit Bohnenstangen und Tomatenstauden. Die Haustür war einen Spaltbreit geöffnet. Olaf ging darauf zu. Kiste trippelte hinter ihm her.

»Was hast du vor, Alter?«, raunte er. »Lass uns abhauen. Hier ist der Scheißwolf nicht. Wir kriegen nur Ärger.«

Olaf blieb stehen.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte er und blickte Kiste an.

»Was meinst du? Du machst mir Angst, Mann.« Er kicherte verlegen.

»Die Tür steht offen, mitten in der Nacht. Und drinnen brennt Licht, aber es ist niemand zu sehen«, sagte Olaf.

»Ja. Weil alle schlafen. Die Tür haben sie vergessen. Ist ja auch egal«, sagte Kiste hastig, »hierher verirrt sich sowieso kein Schwein. Ist ja der Arsch der Welt. Guck mal dahinten.« Kiste deutete auf die Zufahrt zum Hof. »Soll das ne Straße sein? Das ist ein verdammter Dschungel. Wer in dieser Bruchbude wohnt, will keinen Besuch. Lass uns abhauen.«

Karsten drehte sich, um in der Richtung zu verschwinden, aus der sie gekommen waren. Doch Olaf ging auf das Haus zu. Er fühlte sich wie magisch angezogen von der offenen Tür. Er sah auf sein Handy. Mitternacht.

Karsten folgte Olaf ganz dicht. »Was willst du da?«, jammerte er.

Olaf stieg die drei Stufen zum Wohnhaus hoch. Es war sicher noch dieselbe Tür wie vor mindestens hundert Jahren, als es gebaut worden war. Der grüne Lack blätterte ab, darunter kam blauer Lack zum Vorschein. Das Schloss war nicht so alt. Es war mit einem vertikalen Sperrriegel im Innern verbunden. Ein guter Einbruchschutz, soweit Olaf das beurteilen konnte. Wieso war die Tür dann nicht abgeschlossen?

Langsam schob er sie auf. Das Gewehr hatte er immer noch unter dem Arm und die ausgeschaltete Taschenlampe in der linken Hand.

Direkt hinter der ausgetretenen hölzernen Türschwelle begann ein schwarz-weiß-karierter Fliesenboden. Einige Fliesen waren zerbrochen. Olaf spähte in den dunklen Hausflur. An der Wand zog sich bis auf Brusthöhe eine schäbige Holzverkleidung hoch, die sich über den gesamten Flur zu erstrecken schien. Schemenhaft erkannte Olaf Möbel, einen Leuchter mit Wachskerzen anstelle von Glühbirnen unter der Decke, ein kleines Tischchen, darauf eine merkwürdige Skulptur mit einem bunten Elefantenkopf und ein Kerzenleuchter mit drei Kerzen. Im hinteren Bereich lag etwas auf dem Boden, von dem Olaf nicht wusste, was es war. Er schaltete die Taschenlampe ein. Dann stockte ihm der Atem.

»Scheiße, Kiste«, sagte Olaf, als er wieder Luft bekam. »Siehst du das? Da liegt einer. Und dahinter noch einer. Und Blut, überall Blut. Oh, Mann.«

Doch Kiste war längst weg. In großen Schritten war der sonst so behäbige Kerl über den Hof getürmt und steuerte den Zufahrtsweg an, den er vorher noch so geringschätzig bewertet hatte.

Olaf konnte seinen Blick nicht von den beiden Menschen wenden, die regungslos im Halbdunkel lagen. Sie waren offensichtlich tot. Fliegen schwirrten umher. Der vordere Tote war ein Mann mit hellem Vollbart und mittellangen blonden Haaren, die an Stroh erinnerten. Er war jünger als Olaf. 40 vielleicht. Er trug nur eine verwaschene Unterhose und ein rotes T-Shirt. Seine weit geöffneten Augen starrten zur Decke, von seinem Hinterkopf hatte sich eine große, inzwischen angetrocknete Blutlache über die Fliesen ergossen. Die Person dahinter lag auf der Seite und von Olaf abgewandt. Er konnte weder erkennen, wie alt sie war, noch ob Mann oder Frau. Intensiv nahm er den metallischen Geruch von Blut wahr. Kurz war Olaf versucht, zu den Körpern zu gehen, sie sich genauer anzusehen.

Doch Kiste rief über den Hof: »Olaf, komm, wir müssen weg hier. Die Bullen rufen. Schnell!«

Olaf zögerte noch einen Moment, lief dann aber hinter Kiste her in den Zufahrtsweg. Er sah auf sein Handy. »Scheiße, kein Empfang, wir können die Bullen nicht rufen«, stöhnte er, während sie den zugewachsenen Weg hinunterrannten, wobei sie sich durch dichte Mückenschwärme kämpften. Das Gewehr baumelte am Trageriemen um Olafs rechte Schulter und schlug ihm schmerzhaft gegen das Knie.

»Ich habe doch gesagt, dass da was nicht stimmt«, sagte Olaf, als sie auf einen schmalen, nicht asphaltierten Waldweg einbogen. Nun rannten sie nicht mehr. Nach Luft schnappend gingen sie, so schnell sie konnten. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Es war wieder stockdunkel. Beide schwitzten aufgrund der körperlichen Anstrengung, aber auch, weil es in dieser Sommernacht sicher noch 24 Grad hatte. Handyempfang hatten sie nach wie vor keinen.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Kiste. »Ich meine, unser Wagen steht irgendwo da hinten.« Er deutete unbestimmt in den Wald.

»Ja, glaub schon, das ist die richtige Richtung. Aber man kommt ja völlig durcheinander hier. Nur Bäume.« Olaf zog den Kompass aus der Tasche und sah ratlos darauf. Natürlich sagte ihm das Gerät nicht, wo sie den Golf geparkt hatten.

»Hast du den Standort des Autos nicht in deinem Handy markiert, auf Google Maps?«, fragte Kiste, der seine Panik nicht verbergen konnte.

»Nein, du Klugscheißer«, rief Olaf, »das wäre doch dein Job als Fahrer, oder?«

Kiste zuckte mit den Schultern. Eine Zeitlang gingen sie schweigend den dunklen Weg entlang durch den Wald. Kiste rauchte seine letzte Zigarette. Ein Handynetz hatten sie immer noch nicht.

»Ey, Olaf, meinst du, der Kerl, der das gemacht hat, ist hier noch irgendwo?«, fragte Kiste.

»Glaube ich nicht«, sagte Olaf. »Der ist weg. Das ist schon ein paar Stunden her.«

»Ach echt? Bist du jetzt ein verfickter Rechtsmediziner, oder was?«, sagte Kiste.

»Mal was anderes, Kiste«, sagte Olaf und bemühte sich, beim Sprechen die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. »Wenn wir die Bullen rufen, was erzählen wir denen denn, warum wir mitten in der Nacht auf diesem Hof waren? Mit einem Gewehr.«

»Äh, ja, wir waren auf der Jagd. Schwarzwild. Das hat Saison, glaube ich.«

Olaf blieb stehen und sah Kiste verwundert an: »Ach, bist du jetzt hier der Oberförster? Dann vergiss aber nicht, dass wir beide weder einen Jagdschein noch eine Besitzkarte für die Wumme haben.«

Sie gingen weiter die Straße entlang. Beide dachten nach. Es schien nun wichtiger, die richtige Geschichte zu finden als das Auto.

»Das Gewehr verstecken wir irgendwo«, sagte Kiste schließlich. »Und wir sagen einfach, dass wir spazieren waren. Schöne lauschige Sommernacht. Weißt schon.«

»Als schwules Pärchen, oder was? Du spinnst doch, Kiste.«

»Nein, wir haben uns verlaufen. Beim Wandern, als es dunkel wurde.«

»Vergiss es. Das glaubt uns niemand. Am besten, wir sehen zu, dass wir den nächsten Ort erreichen und rufen dort von einer Telefonzelle aus anonym die Polizei an.«

In einiger Entfernung kreuzte eine Landstraße. Das erkannten sie daran, dass schon zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren waren. Es war sicher nicht die Straße, an der ihr Golf stand. Aber vielleicht konnten sie von dort ein Stück trampen.

An der Landstraße angekommen, waren sie erneut ratlos. Links oder rechts? Sie entschieden sich für rechts, denn Olaf war sicher, dass es dort nach Gartow ging, einem Kaff, dessen Namen er auf dem Hinweg auf einem Schild gelesen hatte.

»Eine Telefonzelle«, murmelte Kiste vor sich hin, »wo gibt es denn im verfickten Handyzeitalter noch eine Telefonzelle?«

In diesem Moment näherte sich von hinten ein Fahrzeug. Ohne lange nachzudenken, streckte Olaf den Daumen raus. Als das Auto näher kam, erkannte er, dass es die Polizei war. Zu spät. Der Streifenwagen hielt an.

Mord im Wendland

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