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Kapitel 1

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Jetzt war es ganz still. Im Haus rührte sich nichts mehr. Irgendwo im Erdgeschoss brannte noch Licht. Vermutlich in der Küche. Die Tür zur Küche stand offen und die zur Stube auch, und so konnte Sahas den Lichtschein durch ein Fenster von draußen sehen. Es war verboten, Licht brennen zu lassen, wenn niemand im Raum war. Sahas war weggerannt, so schnell wie es in den zu großen Hausschuhen möglich war, und hatte sich in einiger Entfernung hinter einem Baum versteckt. Er trug nur eine Schlafanzughose und ein T-Shirt. Das weiße, mit SpongeBob drauf. Sahas zitterte. Dabei war es gar nicht kalt. Den Tag über war es sogar sehr heiß gewesen und Sahas hatte sich am Mittag in das kleine Planschbecken im Garten gesetzt. Aber das Wasser war schmutzig und warm gewesen und hatte keine Abkühlung gebracht.

Sahas versuchte, sich zu erinnern, was passiert war. Wer hatte was gemacht? Und wann? Er wusste es nicht. Die Ereignisse der letzten Stunden waren aus seinem Kopf verschwunden.

Sollte Sahas wieder hineingehen? Das war keine gute Idee. Dort drinnen war etwas Schreckliches passiert. Er hatte nur keine Ahnung mehr, was.

Aber wo sollte er sonst hin? In die Welt? Hinter dem Wald begann die Welt, und wenn er eines gelernt hatte, dann das: In der Welt war er verloren. Nie wäre es ihm früher in den Sinn gekommen, alleine in die Welt zu gehen. Und er war auch jetzt nicht bereit dafür.

Wohin sollte er also nun laufen? Um ihn herum war der Wald und irgendwo weit dahinten lag ein Feld, das er mal durch die Bäume hindurch gesehen hatte. Das Feld gehörte schon zur Welt und dort wäre er im Mondlicht gut sichtbar. Also in die andere Richtung, tiefer in den Wald. Der Wald war Sahas nicht so fremd wie das Feld. Im Wald war er mit Udgam häufiger gewesen, im Schutz der Bäume hatte er nicht ganz so viel Angst.

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Wald war sehr dicht, abgestorbene Bäume, Wurzeln und Büsche bedeckten den Boden. Sahas ging tiefer hinein, bis kaum noch Licht zu ihm durchdrang und ihn die Dunkelheit umfing wie eine schützende Decke. Er war an Dunkelheit gewöhnt. Es gab nicht immer Licht, dort, wo er lebte. Dunkelheit war Stille, und solange es dunkel war, konnte nicht wirklich etwas Schlimmes passieren.

Der Boden unter seinen Füßen war weich und trocken. Er trat auf Äste, Steine, kleine Grasbüschel. Es gab keinen Weg, er musste vorsichtig gehen, um nicht umzuknicken. Bei jedem Schritt knirschte und knackte es leise. Mehrfach musste er sich durch Haufen abgestorbener Zweige zwängen oder darüberklettern. Es roch nach Sonne, obwohl die schon lange untergegangen war. Sahas ging einfach immer geradeaus. Er stieg über Baumwurzeln. Schließlich setzte er sich auf einen Baumstumpf und lauschte in den Wald. Wenn man selbst ganz ruhig war, konnte die Stille richtig laut werden. Der Wind, der leicht durch die Bäume rauschte. Ein Vogel, der in die Nacht rief. Und es gab viele Geräusche, die Sahas nicht kannte und von denen er nicht wusste, woher sie kamen. Aber er hatte keine Angst vor dem Wald. Er hatte Angst vor der Welt und nun auch vor dem Haus. Er würde im Wald bleiben.

Nach einer Weile fühlte es sich am Hintern feucht und kalt an. Sahas stand auf und sah, dass an dem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, etwas Merkwürdiges wuchs. Es war groß und weiß und bestand aus vielen Blasen. Einige davon waren zerbröselt und auf den Boden gefallen. Er nahm die Brösel auf und roch daran. Ein sehr schwacher, modriger Geruch ging von ihnen aus. Er zog die Schlafanzughose runter und pinkelte auf die Blasen. Das weiße Zeug veränderte sich nicht. Direkt vor seinen Füßen raschelte es. Da, eine Bewegung. Schnell. Eine Maus, die sich davonmachte und im trockenen Laub verschwand. Mäuse kannte Sahas, die machten ihm keine Angst.

Sein Herz schlug nicht mehr so stark wie am Anfang. Nun wurde Sahas müde. Er hatte ja schon geschlafen, als es plötzlich laut geworden war im Haus und alle in den Schutzraum sollten. Er hatte sich in seinem Geheimversteck verkrochen und von dort die Sachen gesehen, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, sosehr er es auch versuchte. Und dann war er weggerannt.

Die Müdigkeit kehrte zurück. Ein Stück neben dem Baumstumpf legte er sich auf den Rücken. Es war weich und warm dort, fast wie in seinem Bett. Er blickte nach oben. Das Ende der Bäume war kaum zu erkennen, und an ihren Spitzen stießen sie so zusammen, dass er nur ahnen konnte, wo der Himmel war. Waren da Sterne? Sahas liebte Sterne und sah sie sich gerne durch das Fenster seines Zimmers an. Er stellte sich dabei vor, wie er durchs Universum schwebte von Stern zu Stern, wie dieser kleine Prinz, von dem Kamini ihm vorgelesen hatte. Er schlief ein.

Es war immer noch dunkel, als er wieder wach wurde. Lange konnte er nicht geschlafen haben. Was hatte ihn geweckt? Ein Geräusch? Durch die Spitzen der Bäume drang schwaches Licht. Der Mond stand nun höher am Himmel. Sahas sah sich im Wald um und konnte etwas mehr erkennen. Baumstämme, Baumstümpfe, dort noch mehr von diesen weißen Blasen.

Er hörte ein Geräusch, vermutlich das gleiche, durch das er zuvor aufgewacht war. Ein Hecheln? Atmete da jemand? Er drehte sich langsam um und entdeckte nicht weit weg, neben dem nächsten Baum: einen Hund. Der Hund war recht groß, weiß und grau, und er war dünn. Er sah Sahas an. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit.

Auf dem Hof hatten sie bis vor einiger Zeit auch Hunde gehabt. Zwei. Die hatte Sahas gut gekannt, aber sie waren weggelaufen. Sie haben sich in die Welt gewagt, hatte Kamini ihm erklärt, und dort seien sie verschlungen worden. Sie schien gar nicht so traurig darüber zu sein wie er. Die Hunde auf dem Hof waren freundlich gewesen, und auch dieser Hund da neben dem Baum wirkte freundlich. So einen Hund hatte er noch nie gesehen. Das Tier nickte mit dem Kopf und schob zögerlich eine Pfote vor, als wolle es auf Sahas zugehen, traue sich aber nicht. »Komm«, rief Sahas leise und lächelte den Hund an. Der rührte sich nicht.

Eine ganze Weile blickten sich Sahas und der Hund an. Niemand bewegte sich auf den anderen zu. Dann hob der Hund ruckartig den Kopf, spitzte die Ohren. Jetzt hörte Sahas es auch: Stimmen, von Männern. Sie näherten sich, langsam, flüsternd. Der Hund warf einen Blick in die Richtung, aus der die Geräusche zu ihnen drangen, und plötzlich zerriss ein schrecklich lauter Knall die Stille. Der Hund lief weg, langsam, lautlos und an den Boden gedrückt. Sahas folgte ihm, ebenfalls leise und gebückt. Der Hund wurde schneller und schneller. Sahas hatte Mühe, hinter ihm zu bleiben.

Mord im Wendland

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