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Junkies, Partyfreaks und Millionäre

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Ein solides Elternhaus, eine gute Ausbildung und hervorragende Charaktereigenschaften – viele unserer Mitarbeiter passen in dieses Schema. Aber längst nicht alle. Und es sind gerade diese gescheiterten Existenzen, die sogenannten Versagertypen, die im großen Organigramm von Diospi Suyana wichtige Aufgaben erfüllen. Einer von ihnen ist ein kleiner Mann mit wuscheligen schwarzen Haaren.

Marco genoss das Leben in vollen Zügen. Er spielte Gitarre in einer Band und war so richtig locker drauf. Meist trieb er sich in den Straßen der Stadt Abancay herum. Eine regelmäßige Arbeit war nicht sein Ding. „Ich scheiß auf das Establishment!“, sagte sich Marco, „ich brauche keine Karriere, und gesellschaftliche Anerkennung erst recht nicht!“ Seine Freunde in der Gang interessierten ihn schon mehr. Das waren coole Leute. Gemeinsam mit seinen Kumpels hellte er seine Stimmung regelmäßig mit Kokain und Marihuana auf. Marco wusste, wie man die getrockneten Blätter der Hanfpflanze in wenigen Sekunden zwischen Daumen und Fingern zu einem Joint drehte. Gierig blickte er auf seine schmutzigen Hände. Einige tiefe Inhalationen, und er würde dieses stimulierende Gefühl wieder in seinem Körper spüren. Bis zur nächsten Dröhnung war es nie weit. Ein junger Mann unterwegs von Kick zu Kick und meist nicht ganz klar in der Birne.

Aber wie jeder Drogenabhänge benötigte Marco einen regelmäßigen Nachschub an Material, sprich Cannabis und Papier. Irgendwann im Jahr 2009 fand er auf einem Regalbrett im Haus seiner Eltern einen wahren Schatz. Marcos Augen flackerten. Das dicke Buch in seinen Händen hatte etwa 1.000 dünne Seiten, die perfekte Lösung also für Joints über viele Wochen. Er riss das letzte Blatt heraus und verteilte den Stoff sorgfältig auf dem gedruckten Papier. Einfach genial. Schon führte er die Zigarette an seinen Mund. Ein tiefer Zug. Das tat gut. Fünfeinhalb Seiten fanden so ihre gewünschte Verwendung. Doch beim sechsten Joint klappte er den Buchdeckel vorne auf und fing an zu lesen. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so stand es da in kleinen dunklen Buchstaben. Irgendwie interessant, dachte Marco und überflog die nächsten Zeilen.

„Plötzlich sprach das Buch zu mir“, so beschreibt Marco heute die Dynamik, die unvermittelt einsetzte. „Ich kam von dieser Lektüre nicht mehr los. Stundenlang saß ich auf den Wiesen vor Abancay und saugte den Inhalt Wort für Wort förmlich in mich auf!“ Jeder Satz brannte sich in seine Fantasie ein. Nach einigen Wochen war er am Ende des Wälzers angekommen. Marco verstand zum ersten Mal in seinem Leben, dass er Hilfe benötigte. Er sah sein Dasein in einem völlig neuen Licht. Wie hatte er nur so viele Jahre verschwenden können? Er brauchte Vergebung und eine innere Erfüllung, die mehr bot als ein kurzes High. „Gott, hilf mir. Mach mich frei!“ Der Schrei seines Herzens tönte in eine unsichtbare Welt. Er wurde rascher erhört, als sich Marco das je hätte vorstellen können.

Von einem Tag zum anderen verlor er seine Sucht. Er mochte das Zeug überhaupt nicht mehr anfassen. Im Neuen Testament hatte Marco die Worte Jesu gelesen. „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen!“

Die innere Veränderung war real und drang nach außen.

„Marco“, rief eine seiner Freundinnen, „deine Augen leuchten so, was ist mit dir geschehen?“

Es dauerte nicht lange und Marco schnitt sich als Zeichen seiner totalen Umkehr die zotteligen Haare ab und begann in Lima eine vierjährige theologische Ausbildung.

Sein Bruder war Alkoholiker und sein Vater ein durchgeknallter Extremist mit radikalen Ansichten. Der totale Wandel von Marco machte auf alle Familienmitglieder einen tiefen Eindruck. Einer nach dem anderen kam zum Glauben an Gott. In einer noch nie gekannten Einmütigkeit begann die Familie, an den Sonntagen die Gottesdienste einer evangelischen Kirchengemeinde zu besuchen.

Im August 2014 hörte Marco mit 200 weiteren Jugendlichen im Hörsaal einer Universität von Abancay einen Vortrag über Diospi Suyana. Unmittelbar nach meiner Präsentation stellte er sich mir vor. Und im Dezember des gleichen Jahres setzten der Ex-Junkie und ich unsere Unterschriften unter einen mehrseitigen Arbeitsvertrag. Seit jenem Tage ist er als unser Reisepastor im Süden Perus unterwegs und besucht ehemalige Patienten von Diospi Suyana. Sein Leben hat viel mit dem Vorbild seines Herrn zu tun. Er verkehrt mit Tausenden von Armen und Verachteten auf Augenhöhe. Die meisten seiner Gesprächspartner sind Quechua-Indianer und Mestizos der Anden.

Im Mai 2018 schickte er mir einige Fotos von seinem Besuch in einem Indianerdorf. Das Bild zeigte Marco mit seiner zerfledderten Bibel in der Hand neben einem einfachen braunen Holzsarg. Darinnen lag der Leichnam einer Frau, die noch in ihren Zwanzigern einer Krebserkrankung erlegen war. Ihre Nachbarn und Verwandten standen um den schlichten Kasten herum, während Marco seine Predigt hielt. Die meisten seiner Zuhörer waren keine überzeugten Christen und die wenigsten würde man sonntags in einer Kirche antreffen. Aber dort auf dem Campo Santo, dem heiligen Gottesacker, verweilten sie geduldig und lauschten. In der säkularen westlichen Welt ist das ganz ähnlich. Wenn die Trauerfeier eines Bekannten ruft, geht man hin. Aus Solidarität und dem Gefühl, nicht kneifen zu wollen.

Auf einem Friedhof drängen sich Gedanken auf, die wir sonst so gerne von uns wegschieben. „Mit welcher Hoffnung lebe ich und mit welcher Hoffnung werde ich einmal sterben?“ Am offenen Grab werden selbst die lautesten Spötter seltsam schweigsam. „Hatte Jesus vielleicht doch recht, als er sagte, wir müssten einmal alle vor Gott Rechenschaft ablegen? Und könnte der Auferstandene wirklich unsere Sünden vergeben und uns ein ewiges Leben schenken?

Die Predigt von Marco wäre auf einem Friedhof in der westlichen Welt in gleicher Weise aktuell gewesen. Unsere Zuversicht basiert auf der Auferstehung Christi am dritten Tag. Es gibt nirgends sonst eine überzeugende Alternative zu dieser Nachricht.

Regelmäßig erhalte ich von Marco Berichte über seine Tätigkeit. Seine Protokolle lassen erahnen, welchen persönlichen Preis er bei seiner Reisetätigkeit zahlt.

„Nicht alles, was ich erlebe, ist rosarot. Für meine Arbeit benötige ich die Nähe und die Kraft Gottes. Ich mache Kälte und Hitze durch. Manchmal stehe ich mitten im Regen. Ich muss das essen, was man mir anbietet. Gelegentlich finde ich die Patienten nicht, die ich suche. Dann fühle ich mich niedergeschlagen, als ob ich nichts, aber auch gar nichts erreicht hätte. … Nicht wenige Reisen sind gefährlich und die Wege eng. Und manche Fahrer rasen um die Kurven. Dann bete ich, dass Gott uns davor bewahrt, in die Tiefe zu stürzen. Ja, in der Tat, ich erlebe viele Schwierigkeiten in meiner Aufgabe als Evangelist. Aber es gibt nichts, was ich mit der Hilfe Gottes nicht überwinden könnte. Ich schaffe alles durch Jesus Christus, der mir die innere Stärke schenkt!“

Vom Hippie an der frischen Luft gehen wir nun in eine Diskothek. Der Mief ist zum Schneiden und aus den Boxen tönen heiße Rhythmen.

Matthias Rehder studierte in Hamburg Naturwissenschaften. Er war ein heller Kopf, ohne Frage. Vielleicht lag das an seiner Kinderstube. Sein Vater arbeitete an der Universität als Professor der Chemie. Beste Voraussetzungen. Intelligenz wird vererbt oder gelernt. Matthias war nicht nur schlau, sondern er sah auch gut aus. Der richtige Mix, um in einer westeuropäischen Gesellschaft erfolgreich zu sein. Zwei Jahre später würde er sein Staatsexamen mit Auszeichnung machen, und zwar in den Fächern Mathematik und Chemie.

Gott spielte in seinem Leben absolut keine Rolle. Seine Eltern hatten ihn nicht taufen lassen. Konfirmiert war er auch nicht. Warum auch? Matthias sah ein wenig auf Menschen herab, die eine „höhere Macht“ brauchten, um mit ihrem Leben klarzukommen. Was ihn betraf, war er mit sich und der Welt ganz zufrieden. Bei ihm ging es ohne eine „religiöse Krücke“. Jung und gesund. Allseits interessiert. Nach einem Film über den Dreißigjährigen Krieg griff Matthias zum Neuen Testament. Er wollte wissen, warum sich damals vor 350 Jahren so viele Leute die Köpfe eingeschlagen hatten. Bei seiner Lektüre wunderte er sich, dass die Geschichte von Jesus gleich vier Mal erzählt wurde. Die Lutherübersetzung war alt, die Schrift schwer lesbar. Doch Matthias las die 400 Seiten und tat damit wieder einmal etwas für seine Allgemeinbildung.

11.11.2011 – An jenem Tag begann die fünfte Jahreszeit. Der 27-Jährige saß zu später Stunde mit Freunden in einer Bar. Die Hamburger sind, was Karneval angeht, keine Kölner, aber ein Bier am Abend ist immer drin. Plötzlich traf er eine hübsche junge Dame. Sie hieß Jennifer Serec und präsentierte am Tisch ein ziemlich ungewöhnliches Gesprächsthema: Der Glaube an einen persönlichen Gott. So einer war Matthias noch nicht begegnet. Ein wenig später standen die beiden neben der Tanzfläche und unterhielten sich. Ihm fiel auf, dass die Studentin der Sozialpädagogik strahlte, wenn sie von ihren Erfahrungen mit Gott berichtete. Eine Frau wie von einem anderen Stern und ein Gesprächsstoff, mit dem er beim Betreten der Bar wirklich nicht gerechnet hatte. Zwei Stunden verstrichen und Matthias wunderte sich zusehends, dass Jennifer anscheinend wirklich glaubte, was sie sagte. Als er spät in der Nacht ins Bett fiel, schüttelte er ungläubig den Kopf. Die Wissenschaft hatte doch unser Universum ausreichend erklärt. Wo war da noch Platz für einen Gott im Himmel?

Doch Matthias hatte angebissen. Jennifer war schon etwas ganz Besonderes, und für eine gute philosophische Diskussion war er ohnehin immer zu haben. Man verabredete sich gelegentlich, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Was hatte es mit Jesus Christus wirklich auf sich? Und war er allen Ernstes von den Toten auferstanden? Bald fing Matthias an, christliche Bücher zu lesen. C.S. Lewis, der berühmte Oxford-Professor, war einer der Autoren. Bestsellerautor Timothy Keller aus den USA ein anderer. Nach und nach tauchte der Hamburger in eine ganz andere Welt ein. Schließlich wurde er in eine Gemeinde von überzeugten Christen eingeladen. Es gab außer Jennifer offensichtlich noch andere, die fest mit Gott rechneten.

Nach seinem Referendariat nahmen die beiden eine Auszeit und besuchten eine christliche Lebensgemeinschaft in Südindien. Hier ließ sich der ehemalige Agnostiker und Skeptiker am 25. Dezember 2013 im Indischen Ozean taufen. Im darauffolgenden Jahr heirateten Jennifer und er.

Das Leben des jungen Paares verlief in unkonventionellen Bahnen. Im Herbst 2017 traten sie an einer Schule in Nepal ihren Dienst als Missionslehrer an. Sie wollten eine Lücke füllen, bis irgendwann einmal ein Langzeitlehrer für diese Stelle gefunden würde. Kaum hatten sie ihre Tätigkeit begonnen, als ihnen eine Volontärin von Diospi Suyana erzählte. Mitten im Himalaya schauten sich die Rehders im Internet den Film über das „Krankenhaus des Glaubens“ an. Wahnsinn! Matthias und Jennifer kriegten Diospi Suyana nicht mehr aus ihrem Kopf. Das erste Buch „Ich habe Gott gesehen“ besorgte sich Jennifer elektronisch. Das zweite Buch „Gott hat uns gesehen“ entdeckte Jennifer während eines Heimatbesuches bei ihrer sterbenden Mutter auf dem Nachttisch.

Als Nachfolger für die Schule in Nepal meldeten sich gleich drei Interessenten. Die Rehders hatten ihre Mission in Asien also erfüllt. Am 2. Januar 2019 landeten sie mit ihrem Sohn Janne Paul am Flughafen von Lima. Die beiden Pädagogen haben sich für die Diospi-Suyana-Schule viel vorgenommen. Zwei Menschen, die sich von Gott geführt wissen. Eine Reise, die neben einer Tanzfläche in einer Bar begann. Mit einer Frau, die plötzlich sagte: „Ich vertraue auf Gott!“

Gegen Ende dieses Kapitels reisen wir nach Süddeutschland und besuchen den nordöstlichen Zipfel des Landkreises Lörrach. Dort liegt unweit des Großen Feldbergs die Kleinstadt Todtnau. Obwohl schon 1025 von Kaiser Konrad II. urkundlich erwähnt, zählt der reizvolle Skiort trotz seiner tausendjährigen Geschichte nur knapp fünftausend Seelen. Todtnau ist die Heimat von Dr. Georg Steinfurth. Der Arzt ist ein wahrer Tausendsassa: Unternehmer, Macher, Philosoph und halber Wissenschaftler. In den letzten Jahrzehnten flossen große Geldbeträge durch seine Taschen. Deshalb können wir ihm getrost auch das Label eines Millionärs umhängen.

Georg war ein schlanker, gut aussehender Oberschüler. Der hochintelligente Gymnasiast hatte die Mädchen noch nicht entdeckt. Deshalb trieb er sich weder in den lokalen Diskos noch auf den üblichen Schulpartys herum. Seine große Liebe galt den Büchern. Lesen ist ein hervorragender Zeitvertreib. Es macht Spaß und bildet, es prägt unseren Charakter und formt unser Weltbild. Wir können aus Langeweile lesen oder gezwungenermaßen vor einer Prüfung. Bei Georg gewannen Bücher im Jahr 1979 eine enorme Bedeutung, als der Sechzehnjährige nämlich anfing, sich mit den letzten Fragen der Menschheit zu beschäftigen.

Die Nachricht vom Tod seines Freundes traf Georg hart. Hatte er nicht erst einige Tage zuvor mit dem cleveren Schachspieler am Brett mental gerungen? Jetzt war er von einem Moment zum anderen aus seinem Leben verschwunden. Einfach weg. Auf der Beerdigung hatten vier kräftige Männer seinen Sarg in die Erde hinabgelassen. Aber was lag da wirklich in diesem schwarzen Kasten? Markierten seine sterblichen Überreste den verfrühten Schlusspunkt nach einem ach so kurzen Leben? War die Identität von Edgar damit endgültig und unwiederbringlich ausgelöscht? Georg wusste es nicht und kam mehr und mehr ins Grübeln. Gab es vielleicht doch eine jenseitige Welt, irgendwo in der Ferne? Seit Jahrtausenden haben sich die klügsten Geister mit diesem Rätsel beschäftigt. Für einen Jugendlichen wie ihn war die Auseinandersetzung mit jenem Thema sicherlich keine leichte Aufgabe. Georg wollte sich zunächst in der Literatur schlau machen. Sobald er nach der Schule sein Mittagessen verschlungen hatte, verschwand er in seinem Zimmer und vergrub sich in der Welt des geschriebenen Wortes. Er nahm Fachbücher der Physik zur Hand und arbeitete sich durch das Tibetanische Totenbuch. Er studierte weite Teile des indischen Sanskrits und prüfte eine ganze Serie parapsychologischer Werke auf ihren Wahrheitsgehalt. Schließlich kaufte er sich aus dem Fischer-Verlag eine sechsbändige Abhandlung über die Geschichte der Philosophie. Zwei Jahre lang dauerte dieses intensive Privatstudium unter Zuhilfenahme von einschlägigen Sachbüchern.

Den 18. April 1981 wird Georg nie vergessen. Er lag auf seinem Bett und klappte wieder einmal einen hinteren Buchdeckel zu. Endlich hatte er verstanden. „Es gibt keine absolute Wahrheit“, murmelte er, „alles ist subjektiv und abhängig vom Blickwinkel des jeweiligen Betrachters!“ Und mit dieser Erkenntnis war ihm auch klar geworden, dass sein verstorbener Freund in ein dunkles ungewisses Nichts eingetaucht war. Der Abiturient sinnierte düster vor sich hin und seufzte in einem Anflug von Melancholie. Da vernahm er unversehens eine klare Stimme: „Ich bin die Wahrheit!“

Georg war völlig perplex. „Nein“, antwortete er, „unser Leben ist eine Wanderung ohne Sinn und Ziel!“

„Ich bin die Wahrheit!“ – Der Satz ertönte zum zweiten Mal.

Georgs Gedanken flogen zurück zu seiner Zeit als Ministrant in der katholischen Kirche. Hatte nicht ein Priester damals diesen Satz aus der Bibel zitiert? Georg sprang auf und begann wie wild im Haus seiner Eltern nach einer Bibel zu suchen. Alle möglichen Werke aus den unterschiedlichsten Rubriken standen ordentlich aufgereiht auf den Regalbrettern, aber die Bibel, das Buch der Bücher, fehlte.

Am nächsten Tag trampte er nach Freiburg und holte sich in einer Buchhandlung eine Ausgabe des Neuen Testamentes. Auf dem Nachhauseweg war er schon mittendrin im Text. Er hatte sich längst erinnert, dass dieser Satz „Ich bin die Wahrheit“ von Jesus Christus stammte. Und ihn überkam die leidenschaftliche Sehnsucht, den gesamten Kontext dieser ungeheuerlichen Aussage zu verstehen.

Etwa zwei Wochen später geschah etwas höchst Bemerkenswertes. Er sah nachts im Traum eine Schafherde auf sein Elternhaus zulaufen. Ein Mann im weißen Gewand ging voran. Er schaute Georg in die Augen und sprach: „Ich bin der gute Hirte. Folge mir nach!“

Georg spürte instinktiv, dass er in dieser Herde völlig deplatziert wäre. Die Nähe Jesu mochte etwas für gute Menschen mit edler Gesinnung sein, aber nicht für ihn. Im Traum rannte er weg, so schnell er konnte. Aber wie seltsam, die Schafe dribbelten zwar im gleichen Tempo weiter, aber auf wundersame Weise umringten sie ihn bald von allen Seiten. Als Georg aus seiner nächtlichen Vision erwachte, traf er eine Entscheidung, die bis heute die Grundlage seines Lebens ist: Er würde dem guten Hirten nachfolgen, der als Einziger mit göttlicher Autorität von sich sagen konnte, die personifizierte Wahrheit zu sein.

Georg bat für jedes Fehlverhalten um Entschuldigung, das ihm in den Sinn kam. Er spendete sogar seine knappe Barschaft an arme Leute auf der Straße. Im Bewusstsein, dass die Wahrheit Christi die Lösung für das menschliche Dilemma ist, räumte er in allen Lebensbereichen kräftig auf. Man könnte diese Aktivitäten als eine etwas merkwürdige Vorbereitung auf ein Abitur bezeichnen. Seltsam sicherlich, aber auch erfolgreich. Am 23. Mai 1982 bestand Georg das Abitur als Jahrgangsbester, eine Leistung, die vom Gymnasium mit drei Preisen honoriert wurde.

Wie sollte die Reise weitergehen? Seine Eltern, nominell Katholiken, waren nicht gerade begeistert, dass ihr Sohnemann mit dem Beruf des Pfarrers liebäugelte. Oder sollte er vielleicht Lehrer werden? Aber die Zeitungen klagten damals über eine Lehrerschwemme und schlechte Aussichten für Pädagogen. Georg wandte sich an Gott und bat gezielt um einen Fingerzeig. Der gute Hirte hatte ihm im Traum doch angeboten, ihn zu leiten; nun wollte er diese Lebensführung gerne in Anspruch nehmen. Es dauerte nicht lange und Georg stieß in der Zeitschrift Stern auf einen Artikel über Mutter Teresa. Sie beschrieb darin die große medizinische Not in Kalkutta und warb eindringlich um Ärzte für die Versorgung der vielen Kranken und Sterbenden. Georg wertete diesen Bericht als ein klares Signal. Er würde Medizin studieren und sich um die Elenden, Verzweifelten und Todkranken kümmern. Aus Überzeugung und echter Anteilnahme.

Nicht wenige Studenten immatrikulieren sich im Fach Medizin mit romantischen Vorstellungen, die sie im Laufe des Studiums peu à peu über Bord werfen. Nicht so Georg. Er blieb seiner Berufung treu. Vierzehn Jahre lang widmete sich der Mediziner an der Universitätsklinik von Freiburg um Menschen auf der letzten Etappe ihres Lebens. In der onkologischen und intensivmedizinischen Abteilung sah er fast täglich dem Tod ins Auge. Er rackerte bis zu 400 Stunden im Monat um das Wohl der Kranken. Leider blieb bei diesem Arbeitspensum wenig Zeit für seine Frau Kerstin und ihre drei Kinder.

Nach einer Phase reiflicher Überlegungen kündigte sich 2003 ein Umbruch an. Georg und Kerstin würden nach Todtnau ziehen und eine christliche Hausarztpraxis gründen. Dort, wo sich die letzten Landärzte gerade verabschiedeten, wollten die beiden mit einem Team von Experten ein geniales Pilotprojekt hochziehen. Sie entwickelten die Idee einer modernen Praxis, die einen hohen medizinischen Standard mit Seelsorge und Psychotherapie verbinden würde. Dieses Konzept nannten sie „s’Doc-Hüsli“, auf Hochdeutsch „Das Ärztehaus“. Was gut ist, setzt sich durch, und der Erfolg beflügelt. Aus einer Praxis wurden zwei und schließlich vier. Die Mitarbeiterschaft wuchs beträchtlich und die Patientenzahlen kletterten steil nach oben. Im Laufe der Jahre wurde dieses ganzheitliche Modell von den Medien entdeckt. Berichte in der Presse und im Rundfunk steigerten den Bekanntheitsgrad weiter. Schließlich 2016 wurden Dr. Georg Steinfurth und seine Frau Kerstin, die unermüdliche Managerin der Praxis, nach Berlin eingeladen. In einer feierlichen Zeremonie erhielten sie den ersten Preis der „Springer Medizin“. Die goldene Glühbirne, gewissermaßen der Oscar der Branche, wurde den beiden in Anerkennung für die innovativste deutsche Praxis überreicht. Diese hohe Auszeichnung brachte die beiden auf die Titelseite der Ärzte-Zeitung und damit in das Rampenlicht der deutschen Gesundheitspolitik.

Macht korrumpiert. Wer Einfluss hat, möchte diesen steigern, vielleicht sogar bis ins Uferlose. Beim Geld ist es ähnlich. Geld kann unersättlich machen. Wer sich nicht vorsieht, verfällt schnell dem Lockruf des Mammons. Thomas Middelhoff, der einstige Vorstandschef des Bertelsmann Konzerns, beschreibt diese moralische Spirale nach unten in seinem Aufsehen erregenden Bestseller „Schuldig“.

Georg und Kerstin Steinfurth scheinen irgendwie anders gestrickt zu sein. 2016 vollzogen sie einen radikalen Neuanfang und verkauften ihre Praxen und zwei Wohnungen gleich noch dazu. Einen nicht unerheblichen Teil spendeten sie für die christliche Einrichtung „Joshua-Dienst in Srittmatt“ und für kubanische Obdachlose, die ihr Hab und Gut im Wirbelsturm Irma verloren hatten. Am Ende lagen noch 300.000 Euro auf dem Konto und warteten auf ihre Verwendung. Bei einem Brainstorming diskutierten sie sowohl den möglichen Erwerb eines Hauses als auch die Übernahme eines Bauernguts. Aber obwohl die Steinfurths alle möglichen Optionen sorgfältig prüften, kamen sie auf keinen gemeinsamen Nenner. Was tun? Schließlich teilten sie diesen Betrag durch drei. Jeweils ein Drittel war für die Kinder, für Kerstin und für Georg selbst bestimmt.

Ausgerechnet in dieser Zeit schenkte ein treuer Freund Georg ein Jugendbuch über ein Missionsspital in Peru. Der Titel lautete „Der Doktor mit dem Draht zu Gott“. Georg las mit wachsender Begeisterung, wie aus dem Nichts ein Krankenhaus für die Nachfahren der Inkas entstand, ohne jegliche staatliche Absicherung. Darüber wollten die Steinfurths mehr erfahren. Die Gelegenheit dazu bot sich am 10. Mai 2016. Eine Studentengruppe hatte mich zu einem Vortrag an die Universität von Karlsruhe eingeladen. Der Hauptinitiator Christian van Reensen stand kurz vor seiner Ausreise nach Peru, um am Hospital Diospi Suyana als IT-Experte mitzuarbeiten. Getrieben von seiner Begeisterung hatte er ziemlich gewirbelt, um den Hörsaal zu füllen. Zu seiner Enttäuschung versammelten sich leider nur um die sechzig Zuhörer auf den Rängen, zwei von ihnen: Georg und Kerstin Steinfurth. Die Präsentation ging Georg unter die Haut, mitten ins Herz und drang sogar bis ins Gehirnareal vor, das für die Verwaltung von Geldern zuständig ist. Sechs Tage drauf ging eine Spende von 100.000 Euro auf dem Konto von Diospi Suyana ein.

Als Jugendlicher hatte Georg die vollkommene Wahrheit gesucht und in dem guten Hirten Jesus Christus gefunden. Als erfolgsverwöhnter Mediziner blieb er seinem Glauben treu. Bis heute bedeutet für ihn Geld nur ein anvertrautes Gut, welches er im Sinne des Hirten für die Belange des Himmels einsetzen möchte. Der Mann aus Todtnau zog die Abhängigkeit von Gott der vermeintlichen Sicherheit eines vollen Bankkontos vor. „Georg, deine konsequenten Entscheidungen für Gott imponieren mir gewaltig“, sagte ich während eines Telefongesprächs.

„Klaus, Gott hat mich dafür so gesegnet“, sprudelte es aus ihm heraus, und schon erzählte er mir voller Enthusiasmus, wie seine Lebensgeschichte weiterging. Immer unvorhersehbar und stets in den Fußstapfen des guten Hirten.

Auf dem Wasser laufen

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