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Wir kommen von ganz weit weg

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Die Sonne warf ihre letzten Strahlen durch die trüben Fensterscheiben des kleinen Lehmhauses. Daniel Ticona blickte zu seinem Neffen auf der anderen Tischseite hinüber und ergriff das Wort: „Meine beiden Leistenbrüche tun so weh, und sie werden von Monat zu Monat größer.“ Der Aimara-Indianer machte eine kurze Pause und hustete leise, „Constantino, du hast doch gesagt, dass deine Mutter in diesem Missionskrankenhaus Diospi Suyana gut behandelt wurde. Vielleicht können mir die Ärzte dort auch helfen!“

Constantino wiegte mit dem Kopf hin und her. „Onkel, von unserem Dorf nach Curahuasi ist es eine lange Reise. Man muss mehrmals die Busse wechseln. Glaubst du, dass du die Strapazen wirklich aushalten könntest?“

„Natürlich schaffe ich das. Gott hat mir genug Kraft gegeben!“ In Daniels Augen lag eine tiefe Entschlossenheit. „Ich bin zwar über achtzig, aber eine Busfahrt ist für mich kein Problem!“

„Onkel, ich werde dich begleiten. Wenn du willst, können wir noch in dieser Woche aufbrechen!“

Daniels vom Wind und Wetter gegerbtes Gesicht schien sich etwas aufzuhellen: „Neffe, ich danke dir. Möge Gott uns auf der Reise beschützen!“

Der Alte schlug mit den faltigen Händen auf seine ausgeblichene Hose, als wolle er sich mit dieser Geste selbst etwas Zuversicht einflößen. Und Mut würde er noch brauchen. Er konnte nicht wissen, dass sich gerade politische Unruhen wie Gewitterwolken über dem Bundesstaat Cusco zusammenbrauten.

Manchmal ist es wohl besser, die Zukunft nicht zu kennen und sich ohne quälende Sorgen zur Ruhe zu betten. Denn Angst und Ungewissheit wirken lähmend. Sie können einem Menschen jede Lebenskraft rauben. Aber wenn der Körper schmerzt und die Geduld zerrinnt, hat ein Kranker im peruanischen Hochland irgendwann ohnehin gar keine andere Wahl, als sein Heil in der Ferne zu suchen. Auch in Puno gab es ein Regierungskrankenhaus. Doch dessen Ruf war schlecht. Die meisten Ärzte ließen im Umgang mit Indianern jegliche Freundlichkeit vermissen. Es dauerte Wochen, um überhaupt einen Arzttermin zu ergattern. Und gewöhnlich verstrichen weitere Monate, bis eine Operation anberaumt wurde. In den Privatkliniken ging es zwar schneller, aber deren Preise waren für die Campesinos, also Landbauern wie ihn, unerschwinglich hoch.

Es war ein Mittwochnachmittag im Februar mitten in der Regenzeit. Die beiden bestiegen in ihrem Dorf Ilave den Kleinbus, der sie über holprige Wege nach Puno, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates bringen würde. Viel Gepäck hatten sie wahrlich nicht dabei: zwei kleine Taschen mit Wäsche zum Wechseln und etwas Proviant. Daniel klammerte sich an die Haltestange des Vordersitzes und versuchte mit seinen Armen den Oberkörper zu entlasten, wann immer das klapprige Gefährt durch eines der vielen Schlaglöcher holperte. Jede Erschütterung schmerzte. Mal drückte es in einer Leiste, mal in der anderen. Man hatte ihm einmal gesagt, die anstrengende Feldarbeit hätte wohl seine Brüche ausgelöst oder zumindest verschlimmert. Daniel schüttelte unmerklich mit dem Kopf. Von irgendetwas muss der Mensch doch leben. Seit Generationen hatten seine Vorväter auf dem Acker geschuftet und ihr täglich Brot dem harten Boden abgerungen. In der Höhe von fast 4.000 Metern wuchs nicht alles, aber die Erträge von Tomaten, Kartoffeln und Bohnen hatten für den Eigenbedarf und den bescheidenen Verkauf auf dem Markt ausgereicht.

Nach anderthalb Stunden erreichten Daniel und Constantino den zentralen Busbahnhof von Puno. An diesem Umschlagsplatz von Passagieren und Waren herrschte ein geschäftiges Treiben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kamen Busse an oder fuhren von hier in jede Himmelsrichtung davon. Nach Süden dauerte eine Fahrt um den Titicacasee nach La Paz sieben bis acht Stunden, vorausgesetzt, der Grenzübertritt zwischen Peru und Bolivien verlief ohne besondere Vorkommnisse und der Fahrer musste keine platten Reifen wechseln. In jungen Jahren war Daniel zweimal diese Strecke gefahren, um an einer Klinik dort behandelt zu werden. Einige Buslinien bedienten die Verbindungen nach Arequipa im Westen und Cusco im Norden. Sicherlich hatte er in seinem Leben Cusco, die alte Metropole der Inkas, gelegentlich besucht. Aber wie Constantino ihm erklärt hatte, lag das Hospital Diospi Suyana noch weiter entfernt, jenseits des Horizonts, irgendwo im Bundesstaat Apurimac.

Auf Daniel Ticona wirkte das ruhelose Treiben beängstigend: Menschentrauben, wohin man schaute. Aufgeregte Rufe und hektische Schritte. Sein Blick suchte unwillkürlich nach Constantino. Ohne seinen Neffen wäre er an diesem Ort ziemlich hilflos gewesen. Alleine hätte er sich so eine lange Fahrt niemals zugetraut!

Bald standen die beiden in einer Schlange vor dem Fahrkartenschalter. Als sie an der Reihe waren, sagte Constantino zur Frau hinter der Glasscheibe: „Zweimal Cusco!“, und Sekunden später hielt er die Tickets in seiner Hand. Abfahrtszeit 22.30 Uhr.

Jede Reise birgt ihre Risiken und Gefahren, dachte er. Würde der Busfahrer nachts am Steuer wach bleiben und seine Fahrgäste sicher und verantwortungsvoll ans Ziel bringen? Tagtäglich berichteten die Nachrichten von schrecklichen Zusammenstößen auf den Fernstraßen. Und auch Überfälle auf Fahrzeuge waren keine Seltenheit. Im Schutze der Dunkelheit lagen die Maskierten im Hinterhalt auf der Lauer. Urplötzlich griffen sie an, schwer bewaffnet und zu allem entschlossen. Nach dem Raub verschwanden sie mit ihrer Beute in den Büschen am Wegrand.

Daniel Ticona sprach leise ein Gebet. Er war sich sicher, dass Gott ihn und Constantino begleiten würde. Auf der Reise nach Cusco und auf allen Fahrten danach. Und er selbst würde tapfer sein und Gott vertrauen.

Der Nachtbus benötigte für die 400 Kilometer auf der Panamericana 8 Stunden. Dem Himmel sei Dank, es kam zu keinen Zwischenfällen. Kurz nach Sonnenaufgang folgten noch eine Taxifahrt durch Cusco und danach eine 3-stündige Tour mit dem Minibus nach Curahuasi. Die letzten Kilometer im Ort legten sie in einem Mototaxi zurück, das im Schritttempo die Auffahrt zum Missionsspital hochkeuchte, vorbei an Gästehäusern und Restaurants.

Im Eingangsbereich des Krankenhauses war viel los. Mehrere Straßenhändler boten ihre Waren an. Auf den Ständen sah man Süßwaren, Sandwiches und sogar warme Gerichte für den großen und den kleinen Hunger.

Die begehrten Eintrittskarten, sogenannte Coupons für den Tag, waren längst vergeben. Die ganze Nacht hindurch hatten Hunderte von Menschen draußen ausgeharrt. Leider gehörten am Morgen nicht alle zu den glücklichen Gewinnern eines Losverfahrens. Nun standen viele unschlüssig auf der Straße herum und fragten sich, ob sie es am nächsten Tag auf einen weiteren Versuch ankommen lassen sollten.

Das Mototaxi hielt direkt am Wächterhäuschen und die beiden Indianer stiegen vorsichtig aus der kleinen Kabine. Auf einer weißen Wand stand geschrieben: Hospital Diospi Suyana – herzlich willkommen!

So einen Satz lasen sie gerne, doch Daniel und Constantino blickten besorgt auf den Vorplatz. Menschen in großer Zahl standen hier wie bestellt und nicht abgeholt. Offensichtlich war das Krankenhaus dem Massenansturm nicht gewachsen. Würde es ihnen nun genauso ergehen wie den Wartenden, denen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand?

„Wir haben für heute keine Tickets mehr!“ Der schwarz gekleidete Wächter im Tor erklärte ihnen die traurige Wahrheit.

„Wir kommen aus Puno und waren fünfzehn Stunden unterwegs“, rief Constantino, der sich nicht so schnell abwimmeln lassen wollte, „mein Onkel ist zweiundachtzig Jahre alt und hat starke Schmerzen!“

„Wenn das so ist“, meinte der Mann vom Wachpersonal, „dann dürft ihr als Notfall ins Spital!“

Die beiden Reisenden atmeten auf. Eine weitere Hürde hatten sie genommen. Langsam gingen sie auf einem Zementweg die 150 Meter zum Haupteingang. Rechter Hand schaukelten und kletterten einige Kinder unbeschwert auf dem Spielplatz des Hospitals. Mit einer gewissen inneren Spannung betraten sie den Wartesaal. Er war groß und wie üblich überfüllt. Wohl 120 Patienten – überwiegend Quechua-Indianer – saßen auf den orangefarbenen Bänken. Einige belagerten die Information und hofften auf gute Nachrichten.

„Wir kommen von ganz weit weg“, rief gerade ein Campesino und wandte sich bittend an die Sekretärin, „kann meine Mutter vielleicht am Nachmittag noch von einem Arzt untersucht werden?“

Die Dame an der Rezeption schüttelte mit dem Kopf: „Leider nein, aber vielleicht morgen.“

Daniel und Constantino folgten einem Wegweiser und gelangten über einen Gang zwischen Apotheke und Labor zu einem kleinen Wartesaal, gingen dann durch eine Doppeltür in die Notaufnahme. Hinter einer Theke rechts saßen einige Krankenschwestern und begrüßten freundlich die Neuankömmlinge.

„Womit können wir Ihnen dienen?“, fragte eine kleine Peruanerin, die sich mit dem Namen Maribel vorstellte.

Da sein Onkel nur gebrochenes Spanisch sprach, antwortete Constantino: „Wir sind die ganze Nacht gefahren. Mein Onkel hat Schmerzen, in den Leisten große Beulen und mit der Prostata hat er auch Probleme!“

„Dann sollte Ihr Verwandter gleich mal hier Platz nehmen. Wir werden zunächst einige Daten notieren und anschließend Puls und Blutdruck messen!“

Daniel schwieg, aber seine dankbaren Augen sagten umso mehr. Es tat gut, so fürsorglich versorgt zu werden, und das Schönste war das Lächeln einer Krankenschwester, die offensichtlich als Missionarin am Spital arbeitete. Ihr ausländischer Akzent war unüberhörbar. Einen halben Nachmittag, eine ganze Nacht und einen Vormittag hatte ihre Anreise gedauert. Aber ihre Mühen wurden in diesen Augenblicken belohnt.

Bald wies man Daniel eine fahrbare Trage hinter einer Faltwand zu. Constantino setzte sich auf den Stuhl daneben. „Ich bin so froh, dass wir jetzt drinnen sind“, flüsterte Daniel, „wenn ich an all die Leute am Eingang denke, die in der Nacht vergeblich gewartet haben, gehören wir doch zu den Glücklichen!“

Sein Neffe nickte.

Es dauerte keine zehn Minuten, und eine junge Ärztin mit funkelnden schwarzen Augen trat an sie heran.

„Ich heiße Dr. Karla Aguilar, ich möchte Ihnen gerne helfen. Ich habe einige Fragen, danach werde ich Sie gründlich untersuchen!“

Daniel wunderte sich, wie ungewohnt schnell hier alles ging. Nach der Untersuchung nahm eine Schwester Blut- und Urinproben ab. Wenig später führte man ihn quer durch das Spital zu einem dunklen Raum, in dem ein Ausländer mit einer kleinen Keule aus Plastik auf den Bauch drückte. „Ich kann mit dieser Sonde mitten in Sie hineinsehen“, sagte der Mann und lachte: „Ihre Prostata ist ganz schön groß, und außerdem haben Sie Leistenbrüche!“

Nach diesem Ausflug zum Ultraschallraum nahmen sie vor der Notaufnahme Platz.

Als Daniel und Constantino am Nachmittag wieder ins Freie traten, lagen alle Laborergebnisse vor. Die Diagnosen standen fein säuberlich in der Akte, und für den nächsten Vormittag hatte Daniel sogar einen Termin beim Urologen bekommen. Wie man munkelte, war dieser Arzt aus Österreich ein echter Meister seines Fachs. Bei ihm wäre er in den besten aller Hände. Auf der anderen Straßenseite fanden sie ein billiges Zimmer in einem der vielen Unterkünfte, die Tür an Tür auf Gäste wie ihresgleichen Ausschau hielten.

Nach einer geruhsamen Nacht, die besonders dem alten Daniel wohltat, betraten sie am Morgen erneut das Hospital und saßen bald im vollen Wartesaal vor den Sprechzimmern der Ärzte. Plötzlich um halb neun öffnete sich an der Stirnseite eine große Flügeltür. Daniel sah dahinter in einen geräumigen Kirchsaal mit weißen Wänden und bunten Glasfenstern. Vorne auf einem Podest spielten junge Leute moderne Musik. Wie auf ein Zeichen erhoben sich fast alle Patienten von den Bänken und strömten in die Krankenhauskirche. Daniel und Constantino folgten dem Sog der Menschen, ohne genau zu wissen, wie lange der Morgengottesdienst dauern würde. Daniel schaute kurz nach hinten. Gut 250 Besucher hatten sich auf zwei Ebenen in den Saal gedrängt. Über der Kanzel hing ein schlichtes Holzkreuz. Durch das Buntglas schienen warme Sonnenstrahlen und warfen Lichtreflexe in allen Farben auf die Keramikfliesen.

Nach zwei Liedern hielt ein Pastor um die siebzig eine Predigt. Er wechselte während seiner Kurzansprache mehrmals zwischen Spanisch und Quechua hin und her. Daniel spürte instinktiv, dass der Mann hinter der Kanzel keine Sprüche klopfte. Seine Verkündigung kam aus dem Herzen: Gott, der Schöpfer des Universums, liebte alle Menschen. Das galt für Alte und Junge, Gesunde und Kranke. Die Worte des Pfarrers waren wahrer Balsam für die besorgten Patienten, die mit physischen Schmerzen und seelischem Kummer hierher nach Curahuasi gekommen waren – getrieben von dem unbändigen Wunsch nach Linderung und Heilung. Interessanterweise bedeutet Curahuasi in der Sprache der Quechuas: Das Haus, wo man heilt. Und die wörtliche Übersetzung von Diospi Suyana beschreibt den Ort, wo man auf Gott vertraut.

Schon um halb elf rief der Urologe über die Lautsprecheranlage Daniel in sein Sprechzimmer. Dr. David Brady war schlank und hochgewachsen. Er überragte seinen Patienten um mindestens dreißig Zentimeter. Nachdem er in Ruhe die Akte studiert hatte, erhob er seinen eigenen körperlichen Befund.

„Die Sache ist klar, Sie brauchen wegen ihrer beiden Leistenbrüche eine Operation. Wollen Sie den Eingriff bei uns machen lassen?“ Constantino übersetzte jeden Satz des Missionsarztes ins Aimara.

Daniel nickte und fragte: „Wann kann er mich denn operieren? Vielleicht noch vor der Trockenzeit im Mai?“ Zu seiner Überraschung meinte Dr. Brady: „Am nächsten Dienstag könnte ich Sie auf den Operationsplan setzen. Das wäre der 12. Februar.“

Nur noch wenige Tage! Am Nachmittag fuhren Daniel und Constantino nach Cusco, um Samstag und Sonntag bei Bekannten zu verbringen. Das letzte Wochenende mit Schmerzen in den Leisten!

Ein Operationstermin war kostbar, dass wusste Daniel von seinen Verwandten und Nachbarn. Unter keinen Umständen wollte er diese Chance verpassen. Er würde sich am Montag pünktlich auf der Krankenstation melden. Koste es, was es wolle.

Auf dem Wasser laufen

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