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Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg

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Es war Montag, der 11. Februar. In aller Frühe standen Daniel und Constantino morgens an der Haltestelle im Stadtteil Arcopata. Normalerweise fuhren hier im 20-Minuten-Takt die Kleinbusse nach Curahuasi ab.

Auffällig wenige Fahrgäste hatten sich eingefunden. Unsere beiden Freunde aus Puno schöpften keinen Verdacht. Niemand hatte sie über den Generalstreik der Landbauern informiert, der ausgerechnet für jenen Tag ausgerufen worden war. Die Campesinos wollten die Regierung in Lima wegen der miserablen Ernte zwingen, den allgemeinen Notstand zu verhängen und die Bauern zu entschädigen.

In so einer Woche, in der betrunkene Streikposten womöglich zu allem fähig wären, blieben die meisten Peruaner lieber zu Hause und warteten auf bessere Zeiten. Warum ein Risiko eingehen? Steine flogen schnell durch die Luft und zertrümmerten im Bruchteil einer Sekunde selbst die dickste Windschutzscheibe. An den Straßenblockaden könnte das übliche Palaver schnell in offene Aggression ausarten.

„Wir sind im Paro, Streik“, würden die Campesinos an den Barrikaden rufen. „Wir lassen niemanden durch!“

Von all dem hatten Daniel und Constantino keinen Schimmer. Sie blickten durch die Seitenfenster nach draußen, als der Hyundai mit seinen neun Insassen die Anhöhe vor Cusco erklomm. Auf beiden Seiten reihten sich baufällige Adobehäuser aus Lehm und unverputzte Zementkonstruktionen aneinander. Die Stahlstangen auf den Dächern ließen erkennen, dass die Besitzer planten, in einer unbestimmten Zukunft eine weitere Etage auf ihre Gebäude zu bauen, vielleicht auch zwei oder drei, je nach Kassenlage der Familie. Auf den Bürgersteigen lagen unappetitliche Müllberge, in denen Straßenhunde nach Futter wühlten und sich gegenseitig die Brocken streitig machten.

Zwanzig Kilometer hatten sie wohl schon zurückgelegt und die Außenbezirke von Izcuchaca kamen in Sichtweite.

Der Fahrer bremste abrupt ab. Eine lange Kolonne von großen und kleinen Fahrzeugen versperrte ihnen den Weg. „Vorne ist Schluss“, rief der Mann am Steuer, „durch diese Barrikade kommen wir nicht durch!“

Einige Fahrgäste begannen zu schimpfen. „Diese verdammten Streiks bringen überhaupt nichts und machen uns nur das Leben schwer“, brummte ein gut gekleideter Herr auf dem Vordersitz.

„Was ist denn hier los?“, fragte Constantino die Mitfahrer.

„Ja, hast du etwa nichts von dem Paro gehört?“, antwortete eine Indianerin von hinten, erstaunt über seine Unwissenheit.

Normalerweise ist in der Hauptstadt der Provinz Anta um 9 Uhr viel los. Und man muss sich auf der belebten Hauptstraße in Acht nehmen. Quirlige Mototaxis kurven wie aus dem Nichts um die Ecken. Fußgänger überqueren im Schnellschritt die Straßen und dazwischen rennen die Hunde ziemlich kopflos durch den Verkehr. Aber an jenem Vormittag waren die meisten Läden geschlossen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme der Besitzer. Niemand konnte vorhersagen, ob nicht die Truppen der Polizei die Öffnung der Straße erzwingen würden. Dann könnte sich die ohnehin gespannte Atmosphäre schnell in offener Gewalt entladen. Eine Straßenschlacht in Peru kennt keine Sieger und Verlierer, sondern nur Verletzte und Tote.

Mit den übrigen Fahrgästen bewegten sich Daniel und Constantino der Straßensperre entgegen. Vorbei an den wartenden Autos und hinein in eine völlig unberechenbare Situation.

Das lokale Streikkomitee hatte ganze Arbeit geleistet: Einige gefällte Bäume lagen quer über der Fahrbahn. Daneben türmte sich ein Wall aus Geröll und Steinen. Der Qualm brennender Autoreifen verpestete die Luft und reizte – je nach Windrichtung – die Augen. Eine große Gruppe von Campesinos lagerte am Straßenrand. Die Männer debattierten lautstark mit mehreren Autofahrern, die eine Durchfahrt auf dem Verhandlungswege erreichen wollten. Doch bei der gereizten Stimmung der Streikenden war Bedachtsamkeit geboten.

„Wir lassen niemanden durch“, brüllten die finsteren Gestalten an den Barrikaden. „Und wenn ihr es versucht, kriegt ihr eine in die Fresse!“

Constantino und Daniel wechselten besorgte Blicke und wichen unwillkürlich zurück. „Komm, wir warten dort hinten“, flüsterte Constantino und zog seinen Onkel an der Hand an einen Zaun an der Seite. Sie setzten sich auf den Boden und aßen einige Kartoffeln mit Käse, die fliegende Straßenhändler anboten.

„Wir müssen nach Curahuasi, heute noch. Ich darf meinen OP-Termin nicht verpassen!“ Daniels Stimme zitterte leicht. Die Tumulte auf der Straße schlugen ihm sichtlich aufs Gemüt.

Die Stunden verstrichen … und nichts hatte sich am Status quo geändert. Die dicke Luft war nach wie vor spürbar. Und der steigende Alkoholspiegel bei einigen Streikenden machte ihr Verhalten immer unberechenbarer.

Die beiden Männer machten sich zunehmend Sorgen. Sollten etwa alle ihre Mühen umsonst gewesen sein? Und nun taten sie etwas, was auf Außenstehende eher rätselhaft wirken musste: Die beiden gläubigen Christen schlossen die Augen, senkten ihre Köpfe und brachten ihre Not vor Gott. „Vater im Himmel, bitte hilf uns, nach Curahuasi zu kommen“, flehten sie inbrünstig, „Du kennst immer Mittel und Wege, selbst dort, wo wir keinen Ausweg sehen!“

„Hermano, Bruder“, fragte Constantino schließlich einen Einheimischen, der dem Treiben mit düsterer Miene zuschaute, „es sieht nicht danach aus, dass sie heute Autos durchlassen werden. Wie weit müssten wir denn laufen, um alle Straßensperren hinter uns zu lassen?“

„Ich denke, ihr würdet acht Stunden brauchen“, antwortete der Mann und sah mitfühlend auf den alten Daniel. „Bis Ancahuasi sind es um die dreißig Kilometer. Dort könntet ihr möglicherweise ein Taxi bekommen!“

Das waren keine guten Aussichten. Constantino und Daniel zogen es vor, weiter zu warten. Vielleicht hofften sie auch auf ein Wunder. Schließlich brach die Dämmerung an. Die beiden Männer begriffen allmählich, dass sie nur wertvolle Zeit verloren hatten. Jetzt oder nie!

Sie fassten sich ein Herz und griffen zu den Taschen, obwohl über Izcuchaca gerade ein Regenschauer niederging. Ihre Jacken knöpften sie bis oben zu und zogen sich die Mützen etwas tiefer in die Stirn. Sie machten einen großen Bogen um die zahlreichen Sperren und marschierten los. Erstaunlich viele Peruaner hatten offenbar den gleichen Entschluss gefasst. Sie nahmen das Gesetz des Handelns in die Hand und bewegten sich schweigend die Straße entlang. Die Nacht brach herein.

Berglandindianer sind das Laufen gewöhnt. Aber in der Dunkelheit und im Regen wird ein Marsch für jeden Menschen zur Tortur. Es dauerte nicht lange, und sie waren bis auf die Haut durchnässt.

„Wir müssen jetzt in Bewegung bleiben, sonst holen wir uns eine Grippe!“, sagte Daniel und lief unbeirrt weiter.

Im Morgengrauen, etwa zehn Stunden später, schleppten sich zwei frierende Gestalten über den Marktplatz von Ancahuasi. Sie hatten zwar Unglaubliches geleistet, aber bis Curahuasi waren es immer noch achtzig Kilometer.

Leider fand sich im Ort kein Taxifahrer mit der Bereitschaft, sie nach Limatambo zu bringen. Die Zeiten waren zu gefährlich! Bis zur Mautstation in acht Kilometern Entfernung mochte es noch relativ sicher sein, doch danach führte die Überlandstraße über unzählige Serpentinen ins Tal hinab. Bei einem Paro warfen die Campesinos nicht selten Steine von den Hängen auf die vorbeifahrenden Autos. Eine Delle im Dach und kaputte Fenster galten als gerechte Strafe für Streikbrecher.

Waren die beiden also wieder auf sich selbst angewiesen? – Nein, ganz und gar nicht. Sie beteten erneut um eine Lösung. Und siehe da, sie nahte bald: in Gestalt eines Fahrrads.

Ohne Umschweife sprach Constantino den Mann auf dem Sattel an: „Señor, würden Sie uns Ihr Fahrrad verkaufen?“

„Wie viel wollt ihr bezahlen?“ Der Fremde zeigte sogleich einen überragenden Geschäftssinn. Und tatsächlich, nach einigen Minuten wurde man handelseinig, und der Drahtesel ging für 100 Soles in den Besitz von Constantino über.

„Onkel, setze dich hinten auf den Gepäckträger, ich trete in die Pedale!“

Hier waren nicht kleine Jungs dabei, sich die Zeit zu vertreiben, sondern zwei unterkühlte Männer wollten schlicht und ergreifend ihr Tempo verdreifachen. Zwar am Rande der Erschöpfung, aber mit einem eisernen Willen ausgestattet. Daniel kletterte etwas umständlich auf den harten Sitz und umklammerte mit beiden Armen seinen Vordermann.

Wahrscheinlich gibt es nicht viele Europäer oder US-Amerikaner, die mit zweiundachtzig Jahren zu so einer Leistung fähig wären. Es hat schon etwas Tollkühnes an sich, nach einem nächtlichen Fußmarsch noch siebenunddreißig Kilometer auf einem wackeligen Zweirad zu bewältigen. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnen die Psychologen so ein Durchhaltevermögen mit dem Fachwort Resilienz. Sie ist Teil unserer Persönlichkeitsstruktur. Christen kennen zudem noch eine übernatürliche Kraftquelle, die der Prophet Jesaja schon vor 2.750 Jahren beschrieben hat: „Doch die, die ihre Hoffnung auf den Herrn setzen, gewinnen neue Kraft. Sie schwingen sich nach oben wie die Adler. Sie laufen schnell, ohne zu ermüden. Sie gehen und werden nicht matt!“ Am Nachmittag um 14 Uhr rollten sie in den Ort Limatambo ein und entdeckten zu ihrer großen Freude ein Taxi rechter Hand auf einem Parkplatz.

Wer völlig ausgelaugt ist, weiß die Segnungen eines Autos zu schätzen. Jetzt dauerte es nur noch eine weitere Stunde, bis sie erschöpft, aber heilfroh die Schwelle des Hospitals Diospi Suyana überschritten. Sie hatten immerhin einen zweiunddreißigstündigen Marathon von 125 Kilometern erfolgreich überstanden!

Nach einer warmen Dusche und einer kräftigen Suppe kuschelte sich Daniel in sein trockenes Krankenhausbett. Sie hatten es geschafft! Zwar waren sie mit einem Tag Verspätung am Ziel angelangt – aber wer hätte es über das Herz gebracht, dem leidgeprüften Daniel seine Operation zu verweigern?

Dr. Brady wohl kaum. Er operierte die Leistenbrüche am nächsten Vormittag und entließ seinen Patienten am Freitag derselben Woche aus der stationären Behandlung. Und: Weder Daniel noch Constantino bekamen einen grippalen Infekt. Sie dankten Gott für die Bewahrung und machten sich fröhlich auf den Heimweg. Der verlief ohne Hindernisse oder sonstige Schwierigkeiten, denn der Streik hatte am Dienstagabend geendet.

Das, was der alte Daniel auf sich nahm, um unter allen Umständen im Hospital Diospi Suyana behandelt zu werden, ist bemerkenswert. Aber vier Fünftel unserer Patienten haben weite Anreisen hinter sich, bevor unsere Mitarbeiter die Krankengeschichte erheben. Sie lassen staatliche Krankenhäuser und Privatkliniken links liegen und stellen sich vor unserem Missionsspital in eine lange Schlange. Sie investieren Geld und Zeit, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich eine der begehrten Eintrittskarte erhalten werden.

Der legendär gute Ruf von Diospi Suyana hat viele Gründe. In einem Land, in dem das Gesundheitssystem an Korruption und Inkompetenz leidet, haben über vierzig TV-Reportagen unser Krankenhaus als Erfolgsmodell gepriesen. Die Kombination aus Freundlichkeit, guten Behandlungsergebnissen und billigen Preisen erklärt so einiges, aber nicht alles. Aus meiner Sicht ist ein ganz wesentlicher Aspekt unser Glaube. Jeder Besucher unseres Morgengottesdienstes versteht, dass Diospi Suyana nicht an Gewinnmaximierung interessiert ist. Wir Mitarbeiter wollen vielmehr unseren Glauben an den Gott der Bibel auf praktische und liebevolle Weise leben. Mit Sachverstand und Leidenschaft zugleich. So wie Jesus es einmal ausgedrückt hat: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

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