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Die E-Mail aus Sydney

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Ich bin in einer Bäckerfamilie aufgewachsen, und was die Medienangelegenheit betraf, gedachte ich nur kleine Brötchen zu backen. Das sollte sich bald ändern, als nämlich am 27. März 2015 während meiner Vortragsreise durch England eine überraschende E-Mail in meinem Computer eintrudelte. Sie kam aus Sydney und weckte sofort meine Aufmerksamkeit.

Ein gewisser Chris Welch äußerte Interesse, sich in unserem geplanten Medienzentrum einzubringen. Im angehängten Lebenslauf las ich Erstaunliches. Er schrieb: „Ich arbeite bei TX Australia als Ingenieur und bin für Radio- und Fernsehübertragung in allen fünf Hauptstädten Australiens verantwortlich. Meine Auftraggeber sind die drei kommerziellen TV-Kanäle Sieben, Neun und Zehn. Meine Erfahrungen auf diesem Gebiet erstrecken sich auf über 25 Jahre.“

Ich muss gestehen, dass mir sein beruflicher Hintergrund ziemlich imponierte. Doch der nächste Satz seines Resümees sollte alle unsere Absichten bezüglich der Gründung einer eigenen Mediengruppe auf ungeahnte Höhen katapultieren. Chris Welch erwähnte nämlich ein überaus wichtiges Detail: „Des Weiteren habe ich praktische Erfahrungen mit großen Satellitennetzwerken in weiten Teilen der Regionen Asien und Pazifik!“

Ich saß nachdenklich auf einem Schreibtischstuhl in meinem Hotelzimmer und studierte abermals seine E-Mail. War dieser Spezialist für Satellitenübertragung nicht einige Nummern zu groß für uns? Noch war von einem Medienzentrum nichts zu sehen. Auf dem hinteren Gelände grasten friedlich unsere vier Alpakas. Von Mauern, Fundamenten oder wenigstens einem Bauzaun keine Spur. Ich hatte nicht den Mut, dem Australier gleich zu antworten. Aber natürlich nahm ich seine Anfrage in Gedanken mit ins Bett. Als ich die Nachttischlampe ausknipste, grübelte ich unter der warmen Decke noch lange über jenen Unbekannten nach. Ob ich ihn jemals persönlich kennenlernen würde, diesen Mann vom grünen Kontinent auf der anderen Seite unseres Planeten?

Es war der 13. Januar 1996. Wie gewöhnlich flutete die warme Sonne über die Ostküste Australiens nieder. Ein unvergesslicher Tag für Chris und Sandi, denn der groß gewachsene Satellitentechniker und die zierliche Hörakustikerin gaben sich das Ja-Wort fürs Leben. Gesund, leistungsstark und gut aussehend. Das Gehalt von Chris war üppig, die Zukunft rosig und zur Freude der ganzen Verwandtschaft stellte sich bald der Kindersegen ein.

2001 zogen die Welchs nach Wahroonga, einen wohlsituierten Vorort Sydneys. Sie kauften ein Anwesen mit Pool und Garten. Natürlich hatte diese lukrative Immobilie ihren Preis. Aber bei dem hohen Einkommen der Familie zeigte sich die Bank großzügig und stellte den entsprechenden Kredit aus. Die Welchs hatten ihren Platz in der Gesellschaft anscheinend gefunden.

Es ist ein Merkmal des Menschen vorwärtszustreben. Wir wollen mehr. Wir suchen die Erfüllung durch „schneller, höher, weiter“. Ein Auto reicht bald nicht. Wir ersetzen die Wohnung durch ein Reihenhaus und hoffen schon beim Einzug auf die Villa als nächste Adresse. Vielleicht zeigt sich in diesem Drang nach oben unsere Sehnsucht, ein Vakuum im Herzen zu füllen. In seinem Welthit „Feel“ beschreibt Robbie Williams diese Ruhelosigkeit: „Ich möchte nur wahre Liebe spüren und ein beständiges Leben führen. Aber da ist ein Loch in meiner Seele und du kannst das an meinem Gesicht ablesen!“

Es kam das Jahr 2009. Die Welchs verkauften ihren herrschaftlichen Bungalow in der Leuna Avenue 26 und zogen in das kleine Haus nebenan, Leuna Avenue 28. Wahrscheinlich standen viele ihrer Nachbarn neugierig hinter den Gardinen, als die Möbelpacker den gesamten Hausstand der Welchs über die kurze Distanz von 15 Metern von A nach B beförderten. Wohl mancher, der die Familie flüchtig kannte, wird sich gefragt haben, ob bei dem jungen Ehepaar im Oberstübchen noch alles in Ordnung sei. Wer ahnte schon, dass Chris und Sandi bei diesem seltsamen Umzug aus tiefster Überzeugung handelten.

Die gläubigen Christen wollten jederzeit bereit sein. „Bereit sein für was?“, wollen Sie sicherlich wissen. Nun, die Welchs dachten, sollte Gott sie jemals zu einem besonderen Auftrag berufen, würden ihr Kredit, all diese hohen Schulden, nur wie ein Klotz am Bein hängen. Ihre innere Freiheit bestand also nicht aus „mehr“, sondern aus „weniger“. Solche Leute mit dieser Geisteshaltung sind selten. Man muss sie mit der Lupe suchen. Sei es in der 5-Millionen-Metropole Sydney oder in den sibirischen Weiten Russlands.

Über Ostern 2014 nahmen Chris und sein ältester Sohn Jake an einem humanitären Kurzeinsatz in Kambodscha teil. Die Reise wurde von der amerikanischen Missionsgesellschaft Samaritan’s Purse organisiert, die in Europa durch die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Mit großen Augen sahen die beiden Australier menschliches Elend aus nächster Nähe.

Flüchtige Fernsehbilder von Not und Verzweiflung lassen sich auf der heimischen Couch gut verkraften. Man kann jederzeit mit der Fernbedienung umschalten und die quälenden Eindrücke verdrängen. Aber in der Hitze Südostasiens sind unsere Sinne ungemein sensibel für unappetitliche Gerüche. Die vielen beklagenswerten Gestalten, die auf den Straßen ihr Dasein fristen, bringen uns ungewollt in direkte Tuchfühlung mit Krankheit, Alter und Tod. Die Szenen vor ihren Augen sollten bei Chris und Jake tiefe Spuren hinterlassen. Aber die beiden lernten auch, dass Not kein unentrinnbares Schicksal sein muss. Sie waren erstaunt, wie effizient und liebevoll Missionare gegen das unbeschreibliche Leid ankämpften. Nach diesem Exkurs in die sogenannte Dritte Welt fassten die Welchs einen festen Entschluss: „Wir wollen es nicht beim Reden belassen, sondern wir wollen etwas tun!“

Also bewarben sie sich bei den verschiedensten Missionsgesellschaften. Sie verschickten Briefe und führten Telefongespräche. Sie schrieben lange E-Mails und wurden sogar persönlich vorstellig. Egal, wo sie anklopften, es gab für sie immer nur Absagen. Der Grund lag auf der Hand: Ihre Kinderschar hatte sich im Laufe der Jahre auf sieben erhöht. Die Unterstützung einer solchen Missionarsfamilie würde Unsummen verschlingen. Deshalb kamen sie für keine der kontaktierten Agenturen infrage.

Im Sommer 2014 publizierte der YWAM-Verlag aus Seattle, USA, ein Buch über meine Frau und mich. Unter der Überschrift „Hope in the Andes“ schrieben die Neuseeländer Janet und Geoff Benge eine Biografie, die besonders eine jugendliche Leserschaft ansprechen sollte. Der englische Band gelangte auf die Bücherregale von Tausenden von Familien in Nordamerika, Australien und Großbritannien.

Anfang 2015 erhielt Sandi von ihrer Freundin Lilli Wilkinson genau dieses Jugendbuch geschenkt. „Sandi, diese Geschichte musst du einfach lesen“, hatte Lilli sie ermuntert, „der Inhalt ist genau das Richtige für euch!“

Die meisten von uns sind durchaus für einen guten Schmöker zu haben. Aber sind wir mal ganz ehrlich, viele der Wälzer, die wir an Festtagen erhalten, verschwinden ordentlich im Regal, ohne jemals aufgeschlagen zu werden. Wir finden einfach nicht die Zeit, all die Literatur zu verinnerlichen, die wohlmeinende Leute uns empfehlen. Und Sandi, Mutter einer halben Fußballmannschaft, machte da wahrlich keine Ausnahme.

Mitte März meldete sich Lilli telefonisch gleich zweimal bei Sandi mit einer Mischung aus Ungeduld und Euphorie: „Hast du das Buch endlich gelesen?“

„Bis jetzt noch nicht“, klang es etwas verschämt aus dem Hörer. Die Freundin wiederholte ihre Aufforderung: „Sandi, höre auf mich. Lies endlich dieses Buch!“

Ein günstiger Umstand spielte Lilli plötzlich einige Tage später in die Hände: Sandis eingewachsener Zehennagel. Der tat so weh, dass ein Chirurg sich bald ans Werk machte. Nach dem erfolgreichen Eingriff am 23. März lag Sandi völlig abgemeldet im Wohnzimmer auf der Couch. Die täglichen Pflichten der vielköpfigen Familie mussten die Kinder, ihr lieber Ehemann oder sonst jemand erledigen. Auf jeden Fall nicht sie. Mit Lilli im Nacken griff die Australierin nun zu „Hope in the Andes“ und überflog die erste Seite.

Die drei Tage Ruhepause auf weichen Polstern reichten aus. Mit wachsendem Interesse verschlang Sandi die Geschichte, die von Gebetserhörungen und Fügungen im fernen Peru handelte. Und so richtig spannend wurde es auf Seite 214. Die Autorin Janet hatte mich über die nächsten Projekte bei Diospi Suyana befragt. Und ohne lange zu überlegen, hatte ich mich über die enormen Vorteile einer zukünftigen Radiostation ausgelassen.

„Chris“, rief Sandi, als ihr Mann am Abend nach Hause kam. „Das musst du dir mal genauer anschauen. In Peru wird demnächst ein christlicher Familiensender entstehen. Die suchen Leute wie dich!“

Kaum hatte Chris Welch das Buch diagonal gescreent, schickte er mir seine oben erwähnte E-Mail. Und die Dinge gerieten in Bewegung. Bedingt durch meinen engmaschigen Terminkalender in Großbritannien, ließ ich es bei einer kurzen Erwiderung bewenden. Ich würde mich zu gegebener Zeit noch einmal melden. Ich hatte keine Eile, da das Medienzentrum noch gar nicht existierte.

Im Jahr 2014 ließ die australische Regierung alle Sendemasten, Satellitenverbindungen und Transmitter überprüfen. Der Zweck dieser umfangreichen Maßnahme war die verbesserte Qualität der Radio- und Fernsehübermittlung auf einem ganzen Kontinent. All diese Kalibrierungen dienten der Perfektion. Um dieses sinnvolle Ziel auch zu erreichen, erwarb das Kommunikationsministerium 29 Sets von Messgeräten, die jeweils einen Wert von 250.000 Australischen Dollar aufwiesen. Als ein Heer von Technikern das Projekt zu einem guten Ende gebracht hatte, wollte der Staat die Ausrüstung durch eine Online-Versteigerung wieder veräußern. Zwei Runden waren vorgesehen.

Chris und Sandi wurden unruhig. Falls sie jemals bei Diospi Suyana mitarbeiten sollten, wäre diese Ausstattung ungemein hilfreich. Aber die beiden hatten bislang von mir nur eine kurze Bestätigung ihrer E-Mail erhalten. Mehr nicht.

Als die Sonne am 31. März 2015 aufging, trafen die Welchs eine Entscheidung, die rational von niemandem erklärt werden kann. Sie würden – volles Risiko voraus – im zweiten Durchgang mitbieten, und zwar mit ihrem eigenen Geld. Dabei ging es nicht um ihr Kleingeld aus der Portokasse, sondern ans Eingemachte. In einem Anflug von wilder Entschlossenheit boten sie kräftig mit und tippten schließlich ihr letztes Angebot auf die entsprechende Webseite des Ministeriums. Es lag bei 25.865 Australischen Dollar. Einige Sekunden später waren sie stolze Besitzer von dreizehn Kästen voller Hightech. Wie soll man so eine Entscheidung deuten? Der berühmte Sprung des Glaubens, den Chris und Sandi gewagt hatten, würde doch fast unweigerlich im Abgrund des Schwachsinns enden. Es war höchst unwahrscheinlich, dass nach all den Absagen durch andere Missionsgesellschaften ausgerechnet Diospi Suyana in Begeisterungsstürme ausbrechen und rufen würde: „Auf eine Familie mit sieben Kindern haben wir schon lange gewartet. Endlich seid ihr da!“

Ich denke, wir sind uns einig, dass, unabhängig von weltanschaulichen Gesichtspunkten, die meisten Menschen die eben beschriebene Tat der Welchs als eine große Dummheit bezeichnen würden. Aber wenn Christen im Vertrauen auf Gott alles in eine Waagschale werfen, geraten sie in das Epizentrum des Heiligen Geistes. Gott kennt unsere Motive, er prüft die Lauterkeit unserer Absichten, und wenn wir wirklich offen für den Willen Gottes sind, lenkt er mitunter unsere Gedanken und Pläne auf höchst unkonventionelle Art.

Am Dienstag, den 7. April, konnte Chris die ersteigerten Geräte in einem Lager in Sydney abholen. Sandi und die älteren Kinder halfen zu Hause alle Kisten ins Wohnzimmer zu tragen. Das, was sich auf dem Teppich stapelte, war wirklich ganz außerordentlich, aber leider hatte dieser Haufen Elektronik das Bankkonto der Welchs auch um über 25.000 Australische Dollar erleichtert.

Jetzt war der Augenblick gekommen, um in Ruhe über die eigene „Unvernunft“ zu meditieren. Chris ging in die Küche und holte zwei Tassen Tee. Eine für Sandi, die andere für sich selbst. Er wollte gerade auf dem Sofa Platz nehmen, als das Telefon klingelte. Es war ziemlich genau 10 Uhr. Chris griff zum Handy und meldete sich. In der Leitung hörte er eine fremde Stimme mit einem seltsamen Akzent.

Von meiner Europareise war ich längst nach Peru zurückgekehrt. Ich versuchte schnell alles abzuarbeiten, was sich während meiner Abwesenheit angesammelt hatte. Montagabend, der 6. April. Eigentlich wollte ich endlich nach Hause, da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht sollte ich jenen Satellitentechniker in Sydney einfach mal anrufen, lag doch seine E-Mail mittlerweile zehn Tage zurück. Bei Google gab ich schnell die Worte „Sydney“ und „time“ ein. Aha, es war im Osten Australiens also gerade 10 Uhr am Dienstagvormittag. Eigentlich eine gute Zeit für ein Gespräch.

„Hier ist Chris Welch am Apparat. Mit wem habe ich das Vergnügen?“ Es dauerte keine dreißig Sekunden und wir waren auf der gleichen Wellenlänge. Unser Telefonat verlief freundlich, ausführlich und positiv. Ich merkte sofort, dass jener Techniker unsere Radiopläne auf ein Niveau anheben könnte, das alle unsere Träume radikal sprengte. Nicht nur 30.000 Curahuasinos würden eines Tages unser Programm empfangen, sondern Hunderttausende, möglicherweise sogar Millionen von Peruanern.

Chris legte sein Telefon auf den Tisch und schaute zu Sandi hinüber. Beide verstanden, ohne viel zu reden, was soeben vorgefallen war. Gott hatte ihre selbstlose Entscheidung bestätigt. Wie es schien, würden sie in naher Zukunft ihren Wohnsitz nach Südamerika verlegen.

Auf dem Wasser laufen

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