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Der Schock am Morgen

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„Lassen Sie mich bitte noch kurz ein Telefonat mit meinem Anwalt führen“, sagte der Chef der sozialdemokratischen APRA-Partei und ging die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Die Polizisten nickten und nahmen auf den gediegenen Sesseln im Wohnzimmer Platz. Sie hatten von der Staatsanwaltschaft den Auftrag erhalten, den früheren Präsidenten Perus in Untersuchungshaft zu nehmen. Auf zehn Minuten mehr oder weniger kam es jetzt nicht an. Immerhin hatten sich die Ermittlungen gegen den zweimaligen Staatschef jahrelang in die Länge gezogen. Nun war Alan Garcia „schachmatt“, wie TV-Moderator Jaime Bayly es am Abend in seiner Sondersendung formulieren würde.

Der Korruptionsskandal um den Baukonzern Odebrecht forderte ein weiteres prominentes Opfer. Die engsten Vertrauten des gewieften Politikers hatten von der brasilianischen Firmengruppe 4 Millionen US-Dollar an Schmiergeldern erhalten. Und Alan Garcia hatte während seiner Amtszeit als Präsident dem Konsortium den Zuschlag erteilt. Der Bau einer elektrischen Bahn für die Hauptstadt Lima, ein Milliardengeschäft, war den Brasilianern damit sicher. Es würde für Garcia kaum möglich sein, vor Gericht seine Unschuld zu beteuern, zumindest nicht auf glaubwürdige Weise.

Kurz darauf hallte ein lauter Knall durch das vornehme Haus. Die Beamten sprangen auf die Beine und rannten die Stufen nach oben. Die Tür ins Schlafzimmer war verschlossen. Sekundenschnell brachen die Männer das Schloss auf und stürmten in den Raum. Doch das, was sie sahen, ließ sie augenblicklich erstarren: Alan Garcia saß auf einem Stuhl und stöhnte. Von seiner rechten Schläfe rann Blut. Auf dem Boden lag ein Revolver. Alan Garcia hatte den Winkel für die Schussbahn mit Bedacht gewählt. Selbst eine sofortige Notoperation in einem nahen Krankenhaus würde sein Leben nicht retten können. Um kurz nach 10 Uhr am Mittwochmorgen des 17. April 2019 verbreiteten die Massenmedien die Nachricht seines Todes.

Dr. Jens Haßfeld war der Erste, der mir auf der Krankenstation unseres Missionsspitals die Hiobsbotschaft zurief. Ich eilte umgehend in mein Büro und öffnete die Webseite von RPP, dem wichtigsten Nachrichtenportal Perus. Aus den Beiträgen konnte ich gleich entnehmen, welche Schockwelle der Freitod des Ex-Präsidenten im ganzen Land ausgelöst hatte. Meine Gedanken wanderten unwillkürlich zurück zu einem Ereignis am 26. Februar 2008:

Meine Frau und ich warteten mit unserem Urologen Dr. David Brady und Dr. Chorrea, einem hochrangigen Mitglied von APRA, in einem feinen Sitzungssaal des Regierungspalastes. Die Tür öffnete sich und Präsident Alan Garcia trat in Begleitung seiner Gattin Pilar Nores in das helle Licht der Kronleuchter. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten führte ich meine aufmerksamen Zuhörer anhand einer Laptop-Präsentation durch die Geschichte von Diospi Suyana. Ich begann mit unserem Jugendtraum, ein Leben lang gemeinsam als Ärzte für Menschen in Not zu arbeiten. Meine Frau Tina und ich hatten 2002 unsere verwegene Vision auf 100 Seiten zu Papier gebracht – wir wollten ein Hightech-Krankenhaus für die Nachfahren der Inkas bauen. Hoch oben in den Anden Südperus sollte diese moderne Klinik auf Spendenbasis entstehen, ohne Kredite, ohne Hilfe der Regierung und ohne Bill Gates.

Deshalb hatten wir alle unsere Hoffnungen auf die Karte des Glaubens gesetzt. Nur mit Gottes Hilfe könnte dieses medizinische Zentrum jemals Wirklichkeit werden.

Der höchste Würdenträger Perus und die First Lady blickten gebannt auf den kleinen Bildschirm, als ich von den unzähligen Fügungen und Wundern sprach, die wir bereits erlebt hatten. Auf geheimnisvolle Weise waren wir von einer höheren Macht auf verschlungenen Wegen geleitet worden und dem großen Ziel Schritt für Schritt näher gekommen.

Ich erzählte, wie ein gewisser Bauingenieur namens Udo Klemenz und seine Frau Barbara in der Küche ihres Hauses Gott um einen Lebensauftrag baten. Und ich zeitgleich in meiner Heimatstadt Wiesbaden von einem Anwalt zum ersten Mal ihre Namen hörte und sie anrief. Das Klingeln meines Anrufs ertönte wenige Augenblicke nach dem Amen ihres Gebetes. So kam Udo Klemenz dazu, unser Riesenprojekt zu überwachen – auf ehrenamtlicher Basis.

Natürlich durfte ich Alan Garcia nicht verschweigen, warum wir zwei Jahre zuvor den Kontakt zu seiner Frau Pilar Nores gesucht hatten: Die staatliche Kulturagentur wollte unsere Baustelle damals stilllegen und von uns ein Bußgeld von 700.000 US-Dollar abkassieren. Eine fehlende Lizenz war den Bürokraten Anlass genug, unserem Vorhaben ein für alle Mal den Garaus zu machen. In unserer Panik hatten wir gehofft, irgendwie beim neu gewählten Präsidentenehepaar persönlich vorsprechen zu können. Alle, die wir fragten, hatten müde abgewunken. „Ihr Anliegen ist völlig chancenlos“, hatte sogar der deutsche Botschafter etwas ärgerlich in den Telefonhörer gebrummt. Und doch, bis heute unerklärlich, hatte Pilar Nores uns drei Wochen später eine siebzigminütige Audienz in ihrem Büro gewährt. Und nach unserem Treffen sogar die Schirmherrschaft von Diospi Suyana übernommen.

„Wissen Sie, Herr Präsident“, fuhr ich langsam fort und klickte auf die nächste Folie, „im Dezember 2005 konfiszierte der peruanische Zoll am Flughafen meinen Beamer, den ich bei meinen weltweiten Vortragsreisen einsetzte. Also brauchte ich dringend einen neuen. Als ich in einem Geschäft Limas ein Gerät ausprobierte und die Bilder meiner Präsentation über die Leinwand huschen ließ, stand ‚zufällig‘ – inkognito – der Chef des Telekommunikationsunternehmens Impsat hinter mir. Der spendete uns danach eine Satellitenschüssel für Internet und Telefon. Als seine Firma Impsat die Großspende in der Wochenzeitschrift Somos werbewirksam verbreitete, bezahlte ein Minenbesitzer den Stahl für unser Dach. Schließlich wurde Fernsehkanal 2 auf uns aufmerksam und drehte mehrere Reportagen über ‚das Krankenhaus des Glaubens‘!“

Nach meinen Ausführungen bemächtigte sich eine kurze Stille des Sitzungssaals. Dann räusperte sich Alan Garcia, beugte sich etwas nach vorne und sagte: „Dr. John, Sie sind näher an Gott dran als ich!“

Das war eine gewagte Aussage, denn niemand von uns kann das Verhältnis eines anderen Menschen zu Gott beurteilen. In der Tiefe unseres Herzens spielen sich seelische Kämpfe ab, von denen ein Außenstehender nicht die leiseste Ahnung hat. Aber – ein „Senfkorn Glaube“ reiche aus, um Berge zu versetzen, hatte Jesus einmal seinen Jüngern versichert. Er wusste, dass wir vergänglichen Geschöpfe stets zwischen Hoffen und Bangen, Glauben und Zweifel hin- und hergerissen werden. Aber trotz der bohrenden Ungewissheit tief drinnen genügt der Schrei zu Gott, um seine reale Kraft zu erfahren.

Zwischen unserer Begegnung mit Alan Garcia und seinem Selbstmord lagen ziemlich genau elf Jahre. In dieser Zeitspanne hatte sich Diospi Suyana von bescheidenen Anfängen zu einem Werk mit 270 Mitarbeitern entwickelt. Einfach war es nie. Wie oft gingen wir zwei Schritte nach vorne und einen zurück. Manchmal auch umgekehrt. Wir machten gewaltige Fortschritte und erlitten Rückschläge, wir feierten Siege und gingen durch das Tal der Tränen. Aber auf diesem Weg häuften sich so viele Indizien für die Existenz Gottes, dass ich es als meinen Lebensauftrag ansehe, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Wie gerne hätte ich deshalb vor dem talentierten Staatsmann noch ein zweites Mal ein Bekenntnis meines Glaubens abgelegt. Ich hätte ihn beschworen, dass wir in jeder Lebenssituation, selbst in den dunkelsten Stunden, den Schutz des Allerhöchsten erfahren dürfen.

Doch dazu sollte es leider nie kommen. Alan Garcia wurde am Karfreitag 2019 bestattet.

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