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Der Weltpoet aus Franken
Vor hundertfünfzig Jahren starb Friedrich Rückert

Weltliteratur

In Schweinfurt ist er 1788 geboren, Rentamtmann war sein Vater. In Würzburg und Heidelberg hat er studiert, in Jena und Hanau hat er gelehrt, und später war er Professor in Erlangen und in Berlin. Ein eminenter Dichter, ein Orientalist, vor allem aber ein Sprachgenie: »Mit jeder Sprache mehr / die du erlernst, befreist / du einen bis daher / in dir gefangenen Geist.« Mit Deutschen Gedichten, darunter auch vierundsiebzig »Geharnischte Sonette«, wurde er ab 1814 bekannt, und spätere Gedichtsammlungen wie die sechsbändige Weisheit des Brahmanen (1836/39) oder der Liebesfrühling (1844) erreichten riesige Auflagen. Ja, es gab Zeiten, da wurden seine Werke eifrig gelesen und oft zitiert, und er galt als einer der ganz großen deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Auch heute darf man behaupten: Das stimmt! Friedrich Rückert ist ein bedeutender Poet, und im Zeitalter des globalen Austauschs zwischen den Sprachen und Kulturen ist er es vielleicht mehr denn je. Doch seine großen Zeiten sind spätestens seit dem Ersten Weltkrieg vorbei, und es ist kaum zu erwarten, dass die zahlreichen Aktivitäten rund um seinen hundertfünfzigsten Todestag – er starb am 31. Januar 1866 in Coburg – sehr viel daran ändern werden. Sicher, der umfassenden Ausstellung »Der Weltpoet: Friedrich Rückert (1788–1866) – Dichter, Orientalist, Zeitkritiker«, die in Schweinfurt gezeigt wird und später, in leicht veränderter Form, auch nach Erlangen und Coburg kommt, sind viele interessierte Besucher zu wünschen. Und die vom 2007 gestorbenen Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger zusammen mit Rudolf Kreutner begründete historisch-kritische Ausgabe seiner Werke ist natürlich zu empfehlen – ein äußerst verdienstvolles philologisches Mammutprojekt, keine Frage!

Oft gelobt und kaum gelesen

Doch sind nicht historisch-kritische Ausgaben immer auch tonnenschwere Grabplatten? Von Rückert, dem Viel- und vielleicht Zuvielschreiber mit einem unglaublich umfangreichen, noch immer nicht völlig erschlossenen Werk, gibt es kaum etwas, was dem heutigen Lesergeschmack entgegenkommt, keinen Roman und überhaupt kaum Prosa. Seine Formenwelt, klassisch-romantisch plus orientalisch-üppig, ist die seiner Zeit. Wer aber wird sich für den jungen Lyrikstar der Befreiungskriegsjahre interessieren? Welche von kunstsinnigen Bürgertöchtern des 19. Jahrhunderts einst auswendig hergesagten Verse kennt denn man überhaupt noch? Wird man sich mit den ergreifenden Kindertotenliedern näher befassen, bloß weil deren Vertonungen durch Gustav Mahler bis heute immer wieder aufgeführt werden – »Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht«? Gustav Mahler war nicht allein – auch Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt und noch Max Reger haben manche Perle aus dem Werk des aufrechten Franken aufgespürt und musikalisch veredelt. Aber deshalb Rückerts Gedichte lesen? Sich für seine Nachdichtungen des Hafiz oder Firdusi interessieren, sich gar für seine lyrische Lieblingsform erwärmen, das Ghasel? Dafür findet sich heutzutage wohl kaum noch Publikum. Einen Orientalistik-Professor und kongenialen Kulturwissenschaftler zu studieren, der aus nicht weniger als vierundvierzig Sprachen mit siebzehn Schriftsystemen übersetzte, ist erst recht eine Beschäftigung für Spezialisten. Seufz! Aber es hilft nichts, auch sein verdienter und äußerst rühriger Schweinfurter Fanclub (www.rue⮯ckert-gesellschaft.de) wird zustimmen müssen: Friedrich Rückert im frühen 21. Jahrhundert, das ist nicht unbedingt der Hit!

Poesie des Interkulturellen

So ganz verständlich ist das nicht. Denn es gibt gute Gründe, diesen in zahllosen Anthologien hervorragend vertretenen Dichter nicht ins bloß Antiquarische absinken zu lassen. Sicher war er ein »Hausdichter des Biedermeier«, wie Hermann Glaser ihn in Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft nennt. Doch ob das »Biedermeier-Etikett« auch heute noch den Zugang zu einer angemessenen Beurteilung seiner Werke verbaut, wie Richard Dove im Vorwort zu seiner verdienstvollen Ausgabe zuvor unveröffentlichter Gedichte befürchtet, scheint fraglich. Abgesehen davon – aktuelle Anlässe gäbe es auch. Was ist eigentlich momentan angesagter als eine profunde Auseinandersetzung mit »Abendland« und »Morgenland«, dem Zentralthema seines Schaffens? Oder, um noch einmal Glaser zu zitieren: »Gibt es etwas Aktuelleres als den Versuch, durch gegenseitiges Verstehen – nicht nur in politischen und sozialen Fragen – Vertrauen zu gewinnen und somit zu einem versöhnten Miteinander zu gelangen?« Diesen Versuch hat der Übersetzer und Nachdichter Rückert quasi zu seinem Lebenszweck erhoben. Wobei ihm das Kennenlernen des Anderen immer wichtiger war als die Urteile der Philologen: »Der Übersetzung Kunst, die höchste, dahin geht, / Zu übersetzen recht, was man nicht recht versteht.« Den Puristen mag das ein Graus sein – Zeitgenossen wie der in Teheran geborene Münchner Dichter SAID schätzen Rückerts Übertragungen bis heute.

Plädoyer für ein Lesebuch

Er muss einem ja nicht gleich wahnsinnig sympathisch sein. Ja, Rückert war ein biederer, manchmal verstockter, sehr eigensinniger Provinzler und Quartals-Misanthrop, und er war ein trutziger Verfechter eines kleindeutschen Reichs, ein wahrer Patriot, der zeitlebens an seinem noch ungeeinten Vaterland litt und es kurz vor seinem Tod mit Zwölf Kampfliedern für Schleswigholstein kräftig dabei unterstützte, den bösen Dänen eins aufs Haupt zu geben. Seine Liebe zur fränkischen Heimat war innig, seine Aversion gegen moderne Metropolen war es auch – noch heute könnte man überhebliche Hauptstadtbewohner ärgern, indem man Rückert zitiert: »Manchmal gefällt mir es hier nicht recht; dann denk' ich, wie wär dirs, / Wärst du jezt in Berlin? Und es gefällt mir sogleich.« Das war auf seine eher unglücklichen Professorenjahre in Berlin gemünzt und bezeugt einmal mehr, dass Friedrich Rückert zu quasi allen Lebenssituationen und Lebensereignissen Gedichte schrieb. Wie sein keineswegs langweiliges Leben verlief, kann man im ersten Teil einer zum hundertfünfzigsten Todestag neu aufgelegten Studie von Annemarie Schimmel erfahren; dass sich die verdiente Orientalistin im zweiten Teil fast ganz seinen dem Laien höchsten Respekt einflößenden Orientstudien widmet, wird man ihr nachsehen – lernen kann man dabei eine ganze Menge. Und abgesehen vom Lernen – man kann sich von Rückert auch prächtig unterhalten lassen. So wenig beachtet wie heute müssten er und sein Lebenswerk nicht bleiben. Ein aus heutigem Zeitbewusstsein heraus sorgfältig zusammengestelltes Rückert-Lesebuch könnte dazu beitragen. Wer packt es an?

Friedrich Rückert: Gedichte. Hrsg. von Walter Schmitz. Stuttgart 2005: Reclam Verlag.

Friedrich Rückert: »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Richard Dove. Frankfurt am Main 1988: Athenäum Verlag (vergriffen).

Friedrich Rückert: Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Schweinfurter Edition). Begründet von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner. Hrsg. von Rudolf Kreutner, Claudia Wiener und Hartmut Bobzin. Göttingen 1998 ff.: Wallstein Verlag.

Annemarie Schimmel: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk. Neuausgabe. Göttingen 2015: Wallstein Verlag.

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