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Allzeit Trotz im Kopf!
Carl Spitteler? Heute?

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1919, fünf Jahre vor seinem Tod, erhielt er als bisher einziger gebürtiger Schweizer den Nobelpreis für Literatur: Carl Spitteler, 1845 in Liestal bei Basel geboren, Schüler des berühmten Jacob Burckhardt, Dichter, Essayist und Kritiker, zu Lebzeiten bekannt im ganzen deutschsprachigen Raum. Heute ist er so gut wie vergessen, außerhalb der Schweiz sowieso, weitgehend aber auch in der Eidgenossenschaft selbst. Kaum jemand liest Spitteler, auch die Schriftsteller von heute lesen ihn nicht. Wieso eigentlich?

»Dichter, Denker, Redner« lautet der Untertitel eines schön aufgemachten Lesebuchs, dessen Cover das Spitteler-Porträt von Ferdinand Hodler ziert. »Die mythische Chiffre seines Lebens wie seines Schaffens ist der trotzige Einzelne, der sich seine Bahn bricht durch die Masse der Gleichgeschalteten, allein mit einem unbezähmbaren Willen«, schreibt Peter von Matt in seinem Vorwort. Modern ist das eher nicht, und vom »demokratischen Empfinden der Schweiz« ist es weit entfernt. Mit seiner Ende 1914 gehaltenen Rede Unser Schweizer Standpunkt – vielleicht der einzige Spitteler-Text, den man noch halbwegs kennt – habe er »einheimischen Ruhm« erworben, seine »solide Präsenz in der deutschen Literatur« jedoch verloren. An seiner Verweigerung der Parteinahme für das hochgerüstete, kriegslüsterne und protzige Kaiserreich im Norden und seinem engagierten Plädoyer für den »richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt« kann das schon lange nicht mehr liegen. Woran dann? Vor allem wohl daran, dass nicht nur sein Roman Imago, erstmals 1906 in Jena erschienen und hier in ganzer, ermüdender Länge abgedruckt, hoffnungslos veraltet ist – seine Dichtungen, die im zweiten Teil des Buchs in Auszügen vorgestellt werden, sind es ebenfalls, auch wenn Peter von Matt den Olympischen Frühling (1900–1905) als »das spektakulärste Ereignis deutschsprachiger Fantasy-Literatur« zu retten sucht. Natürlich ist Xaver Z’Gilgen (1888) eine hervorragend rhythmisierte gute Erzählung, natürlich bleibt eine sprachgewaltige Reportage wie Der Gotthard (1896) spannend zu lesen, und selbstverständlich finden sich auch in diesem Auswahlband fulminante, bedenkenswerte Reden wie die über Gottfried Keller (1919) oder geistreiche Essays wie der über Die Persönlichkeit des Dichters (1892). Was Spitteler dort über den Realismus sagt – »Um ein großer Realist zu werden, muss einer tief nach innen geblickt haben« –, über den »Misserfolg«, über die »Verbitterung« oder über die »Eitelkeit«, möchte man einigen Zeitgenossen dringend zur Lektüre empfehlen. Und die politischen Eiferer von rechts sollten seinen Aufsatz Vom ›Volk‹ (1886) lesen und dann damit aufhören, »jede Zusammenrottung für Volk anzusehen und in jedem Gebrüll die Volksstimme zu hören«. Aber wer liest Essays und Reden von vorgestern? Nur sehr wenige Experten wie zum Beispiel der Zürcher Literaturwissenschaftler Philipp Theison, der in seinem luziden Nachwort plausibel herausarbeitet, weshalb Carl Spittelers Werk doch ein gewaltiges Stück hinter der literarischen Moderne zurückbleibt. Selbstverständlich plädiert Theison zugleich dafür, Spitteler »wiederzuentdecken«, um ihn »aus der Vergessenheit zu befreien«. Ob das gelingen wird, vielleicht mithilfe der vielen für 2019 angekündigten Aktivitäten und Publikationen? Eher nicht, darf man vermuten, und damit wäre Carl Spitteler in bester Gesellschaft. Aber vielleicht ja doch, wenigstens ein bisschen? Man darf gespannt sein.

Carl Spitteler – Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk. Hrsg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theison und Peter von Matt. München / Zürich 2019: Kollektion Nagel & Kimche. 471 S.

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