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2Fürsten des Horizonts
Das Osmanische Reich bis zum Regierungsantritt Süleymans

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»Mein Gott, sei dem Besitzer dieser Moschee gnädig, und dieser ist der große und gewaltige Emir, der Mudschahed auf dem Wege Allahs, der Sultan der Ghazis, ein Ghazi, der Sohn eines Ghazis, der Recke des Staates und der korrekten Ritualpraxis, der Fürst des Horizontes, der Held des Glaubens, Orhan, der Sohn des Osman. Möge Allah seine Lebenszeit lange sein lassen.«

Inschrift an einer Moschee in Bursa (14. Jh.)1

In einem seiner vier Briefe aus der Türkei bemerkte der kaiserlichhabsburgische Gesandte am Hofe Sultan Süleymans (1520 – 1566), Ogier Ghislain de Busbecq, dass es gewiss nicht leicht sei, eine zweite Nation zu finden, die sich so unermüdlich wie die Türken fremde Erfindungen aneigne. Davon zeugten etwa die großen und kleinen Geschütze in der Armee des Sultans und »vieles sonst, was die Unseren erfunden und sie angewandt haben«.2 Damit lieferte der aus Flandern stammende Diplomat im Dienste Kaiser Ferdinands I. gewiss eine der erhellendsten Erklärungen für den atemberaubenden Aufstieg eines ehemals unbedeutenden Nomadenstammes aus dem nordwestlichen Anatolien zur Weltmacht auf drei Kontinenten. Doch nicht nur die unvoreingenommene Nutzung fremder Kenntnisse und Fertigkeiten hatte den osmanischen Staat seit seinen bescheidenen Anfängen geprägt. Auch der Dienste befähigter Europäer und nicht selten ihrer Loyalität verstanden sich seine Sultane zu versichern, die ihren diplomatischen Verkehr mit den christlichen Staaten noch lange in griechischer oder slawischer Sprache führten.3

Noch der legendäre Staatsgründer Osman (oder Uthman) war nicht mehr als der Anführer (Bey) einer unbedeutenden Gruppe von Nomaden und Entwurzelten gewesen, die wie viele andere turkmenische Stämme die Mongolenstürme und den Zerfall des mächtigen Seldschukensultanats von Konya im 13. Jahrhundert überlebt hatte und seither die byzantinischen Restgebiete in Anatolien infiltrierte. Je nach den Umständen übernahmen ihre Khans oder Emire die Rolle eines Ghasi, der nach islamischer Lehre kämpfend den rechten Glauben verbreiten sollte und sich dabei nach Kräften bereicherte, kooperierten allerdings auch mit den Christen gegen ihre eigenen Glaubensbrüder. Selbst Religionsgrenzen bildeten in diesen ethnisch durchmischten Regionen Westanatoliens keine unüberbrückbare Kluft.

Auch Osman scheint eine Zeit lang gute Beziehungen zu seinen christlichen Nachbarn gepflegt zu haben, denn er soll wiederholt einem byzantinischen Beamten aus der Stadt Belikoma (Bilecik) die gesamte Habe seines Clans anvertraut haben, wenn er nach altem Brauch mit seinen Herden die entfernten Sommerweiden aufsuchte.4

Über Osman ist nur wenig bekannt. Immerhin soll er in seinem stetig wachsenden Herrschaftsbereich bereits erste staatliche Strukturen aufgebaut haben. So ernannte er etwa Religionsgelehrte zu Richtern (Kadi), die in seinem Namen Recht sprachen und sogar Polizeibefugnisse besaßen. Außerdem soll er seine Krieger erstmals in feste Verbände (Sandschaks) eingeteilt und sie einem besonderen Oberbefehlshaber (Beylerbey) unterstellt haben. Schon unter Osmans Söhnen und Nachfolgern verwandelte sich das osmanische Heer aus einer nach Beute trachtenden Streifschar in das schlagkräftige Instrument einer ambitionierten Expansionspolitik. Selbst dem siechen griechischen Kaisertum konnten die Nachfolger Osmans schon fallweise auf dem Balkan mit Hilfstruppen aushelfen. So verhinderte im Jahre 1349 etwa eine osmanische Streitmacht aus 20 000 Soldaten unter dem Befehl von Orhans ältestem Sohn, Süleyman Pascha, auf Bitten Kaiser Johannes’ V. die Einnahme von Saloniki durch die Serben.5

Der Kern der osmanischen Armee bestand aus einer ständig unter Waffen gehaltenen Truppe, den sogenannten Pfortenknechten (Kapıkulu), die sich in ein Infanterie- sowie ein Kavalleriekorps aufspalteten. Sie dienten dem Sultan als Leibwache und begleiteten ihn gewöhnlich auf seinen Jagden. Aus den Pfortenknechten ging auch das Korps der Janitscharen(yeniçeri), die wohl bedeutendste militärische Innovation des 14. Jahrhunderts, hervor. Die »neue Truppe« bestand anfangs ausschließlich aus jungen männlichen Gefangenen aus christlichen Familien, die der Sultan gemäß der sogenannten Beutesure des Korans (8,41) für sich beanspruchen durfte. Religiöse Umerziehung und eine harte militärische Ausbildung sollten aus den verschleppten Jungen loyale Kämpfer machen. Wohl schon unter Sultan Bayezid I., gewiss aber unter Murad II., gingen die Osmanen dazu über, den Mannschaftsersatz des Janitscharenkorps durch die berüchtigte Knabenlese (devşirme) sicherzustellen.6 Je nach Bedarf erfassten dazu besondere Beamte in den unterworfenen Christengebieten des Balkans den männlichen Nachwuchs in Listen und brachten geeignete Kandidaten, die sich durch Körperkraft, Intelligenz, aber auch ein ansprechendes Äußeres auszeichneten, nach Edirne und später nach Konstantinopel. Dort nahm das Führerkorps der Janitscharen eine weitere Musterung vor, wobei die besten Kandidaten (etwa ein Zehntel) für den zukünftigen Dienst am Hof ausgewählt und zur Ausbildung auf die drei Palastschulen von Konstantinopel, Edirne und Bursa verteilt wurden. Die Mehrheit der Geraubten kam nach jahrelanger Assimilierung in türkischen Familien in Anatolien und einer Phase des Frondienstes im Straßen- oder Festungsbau schließlich zurück zu den Janitscharen, wo sich eine mehrjährige militärische Ausbildung anschloss. Ihre hohe Disziplin, ihr Korpsgeist und ihre solide militärische Schulung machte aus den Janitscharen eine überall gefürchtete Elitetruppe. Selten seien sie mit anderen Waffen als mit Musketen ausgerüstet, schrieb der kaiserliche Gesandte Ogier Ghislain de Busbecq, der im Jahre 1562 in Konstantinopel Gelegenheit hatte, die Janitscharen bei einer Parade zu beobachten. Ihre Kleidung sei von gleicher Form und Farbe, es gebe keinen ausschweifenden Kleiderprunk, nur mit ihren Federn und Rosshaaren seien sie eigen, besonders die am Ende des Zuges marschierenden Veteranen. »Mit ihren Federn, die sie als Stirnschmuck aufsteckten, glaubt man einen Wald wandeln zu sehen. Ihre Hauptleute und Obersten folgten ihnen zu Pferde, am Schluss aber schritt einzeln ihr Oberbefehlshaber, der Aga, einher.«7 Bereits während der Herrschaft Sultan Süleymans war die Stärke der Janitscharen auf rund 15 000 Mann angestiegen. Nur ein Teil von ihnen blieb in der Hauptstadt, andere dienten als Festungsbesatzungen an den Grenzen, und starke Kontingente nahmen sogar an den großen Flottenoperationen gegen Malta und Zypern teil. Das Korps vergrößerte sich unter Süleymans Nachfolgern in rasanten Schritten. Auch gebürtige Türken durften ihm seit 1568 beitreten, und Sultan Murad III. gestattete den Janitscharen 1582 sogar, noch während ihrer Dienstzeit zu heiraten. Bis zum Beginn des »Langen Krieges« (1593 – 1606) hatte sich die Zahl der Janitscharen bereits auf mehr als 35 000 verdoppelt.8 Als die Truppe um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit rund 200 000 Angehörigen ihren größten Unfang erreichte, war der alte Elitestatus des Korps jedoch längst dahin.9

Zwar blieb das Beutemachen in Feindgebiet weiterhin eine unverzichtbare Finanzierungsquelle des Staates, doch schon früh bildete die Vergabe von erobertem Christenland als Pfründe unterschiedlichen Zuschnitts (Timare, Ziamet- oder Has-Güter) an verdiente Kämpfer die zweite Säule des osmanischen Heerwesens. Die Inhaber dieser Pfründen (Timarioten) stellten die Elitekavallerie (Sipahis) des Sultans. Die Kavalleristen hatten Anspruch auf einen fixen Anteil an den jährlichen Einkünften ihrer Pfründen, der hauptsächlich zur Deckung ihrer militärischen Aufwendungen diente. Anders als im Feudalsystem des lateinischen Westens übten sie aber keine absolute Macht über ihre Bauern aus. Timarioten besaßen keine Gerichtsgewalt und durften ihren Besitz auch nicht vererben. Spätestens nach ihrem Tod, gelegentlich auch schon nach schweren Pflichtverletzungen, konnte der Sultan als tatsächlicher Eigentümer die Pfründe wieder einziehen. Nach einer Aufstellung aus dem Jahre 1533 zählten Rumelien (Römerland) und Anatolien, die beiden Hauptprovinzen des Reiches, insgesamt 27 868 Pfründen aller drei Kategorien. Zusammen mit den von ihren Besitzern zusätzlich zu stellenden Reitern ergab sich daraus eine theoretische Einsatzstärke von 50 000 Sipahis, wovon gewöhnlich aber ein Zehntel krankheitsbedingt oder aus sonstigen Gründen nicht im Heerlager erschien.10

Europäische Reisende vermerkten immer wieder mit kaum verhohlenem Respekt, dass der osmanische Staat im Gegensatz zu den erstarrten Feudalgesellschaften im christlichen Europa konsequent auf Verdienst und Loyalität aufgebaut war. Nach seiner Begabung und Tugend werde jeder ausgezeichnet, vermeldete etwa Ogier Ghislain de Busbecq nach Wien. So kämen nur geeignete Männer zu den führenden Stellen, und jeder könne daher sein Schicksal selbst gestalten.11

Christen bildeten noch lange Zeit die Mehrheit der Bevölkerung im Machtbereich der Sultane. Für sie änderte sich unter osmanischer Herrschaft vorerst nur wenig. Wie die moslemischen Untertanen des Reiches hatten sie das Recht, sich jederzeit direkt an den Sultan oder später an dessen Großwesir zu wenden. »Ungläubige« waren zwar nicht zur Heeresfolge verpflichtet, durften aber gelegentlich als sogenannte Martolosen freiwillig Militärdienst leisten. Auf der Ägäisinsel Limnos fungierte im Auftrag des Sultans sogar eine aus mehreren Hundert Christen bestehende Truppe als Besatzungsmacht.12 Gewöhnlich aber diente es dem osmanischen Staat am besten, wenn seine christlichen Untertanen ihren gewohnten Gewerben nachgingen. Gemäß islamischem Recht durften Griechen, Bulgaren, Serben und Armenier weiterhin ihre bisherige Religion praktizieren und bezahlten als sogenannte Schutzbefohlene (Dhimmis) nur eine anfangs noch moderate Kopfsteuer an die Staatskasse. Das Zusammenleben von Moslems, Christen und Juden im osmanischen Staat scheint lange Zeit ohne größere Reibungen funktioniert zu haben, auch wenn die gegenseitigen Vorbehalte oft fortbestanden. Schon während einer um 1350 unternommenen Reise durch Westanatolien musste der orthodoxe Erzbischof von Saloniki, Gregorios Palamas, mit Erstaunen feststellen, dass sich Griechen und Türken oft durch Heirat miteinander vermischt hatten, gemeinsam ihren Geschäften nachgingen und einander führten oder voneinander geführt wurden.13

Auch auf höchster politischer Ebene kam es zu Ehebündnissen zwischen Christen und Moslems. So hatte Osmans ältester Sohn Orhan eine Tochter des byzantinischen Kaisers Johannes Kantakuzenos geheiratet. Freilich konnte ihn die enge Verwandtschaft zu den Griechen nicht davon abhalten, zwischen 1326 und 1337 die byzantinischen Städte Nicaia, Nikomedia und Bursa am Mamarameer zu besetzen. Das ehemals mächtige Ostrom war nach der Erstürmung seiner Hauptstadt durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 praktisch zerschlagen worden, und auch die Rückgewinnung Konstantinopels durch das Kaiserhaus der Palaiologen hatte ein halbes Jahrhundert später die alte imperiale Herrlichkeit nicht zurückgebracht. Stück für Stück war in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts das anatolische Kerngebiet der griechischen Kaiser westlich des Sangarios’ an die Osmanen verloren gegangen, und Bursa wurde für rund 30 Jahre auch die erste Hauptstadt der neuen Herren. Sofern sie nicht geflohen waren, übernahm Orhan die griechischen Amtsträger und ließ die alte Verwaltungsstruktur vorerst bestehen.14 Schon die Verteilung des eroberten Ackerlandes als Pfründe an verdiente Kämpfer und Gefolgsleute erforderte einen erhöhten Dokumentationsaufwand. Hunderte von Urkunden mussten erstellt und archiviert werden. Zunächst erledigten dies noch die umherreisenden Religionsgelehrten (Ulema) als Gelegenheitskanzlisten, später aber eine rasch wachsende Staatskanzlei mit einem nişancı an der Spitze.

Bereits Osman hatte seinen besonderen Herrschaftsanspruch durch die regelmäßige Erwähnung seines Namens in den Freitagsgebeten bekräftigt. Sein Sohn Orhan ging noch weiter und ließ im eigenen Namen Münzen prägen. Schließlich nahm er sogar den prestigeträchtigen Titel »Sultan« an. Der islamische Weltreisende Ibn Battuta, der sich um 1331 in Bursa aufhielt, nannte Orhan bereits den größten und reichsten König der Turkmenen.15 Der Sohn Osmans scheint neben seiner Vorliebe für Eroberungen auch Gefallen an offenen interreligiösen Debatten gehabt zu haben. Als der in osmanische Gefangenschaft geratene Erzbischof von Saloniki, Gregorios Palamas, während einer Auseinandersetzung mit islamischen Religionsgelehrten unvorsichtigerweise den Propheten Mohammed einen Gewalttäter und Plünderer nannte, nahm ihn Orhan ausdrücklich vor den darüber erbosten Anwesenden in Schutz und bestrafte sogar persönlich einen der »frommen« Männer, der es gewagt hatte, dem orthodoxen Kleriker ins Gesicht zu schlagen.16

Der Sultan war in seinem Reich der unbeschränkte Herrscher. Mehmed II. hatte mit einer radikalen Bodenreform dafür gesorgt, dass ihm mit Ausnahme des Grundbesitzes der frommen Stiftungen der gesamte eroberte Boden gehörte. Sämtliche Provinzgouverneure (Sandschakbeys) waren ihm persönlich verpflichtet. In beratender Funktion stand seiner Regierung der sogenannte Diwan zur Seite, ein hohes Gremium zur Erörterung wichtiger politischer Fragen, an dessen Spitze schon seit Orhans Tagen ein Großwesir stand. Besetzten diese zentrale Funktion anfangs noch Mitglieder der Herrscherfamilie wie etwa Orhans ältester Sohn Süleyman, traten später oftmals Nichttürken an ihre Stelle. So stammte mehr als ein Viertel der 92 Großwesire des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Knabenlese.17

Die rasante Expansion des neuen Staates vollzog sich in Europa und Asien im geschickten Wechselspiel zwischen befristeten Waffenstillständen und Offensiven, sodass die Sultane selten an zwei Fronten zugleich kämpfen mussten. Während die Erben Osmans seit 1354 in Europa die Restterritorien des byzantinischen Staates liquidierten und Bulgaren sowie Serben überrannten, glückte ihnen in Anatolien Schlag auf Schlag die Einverleibung der rivalisierenden türkischen Emirate entlang der Ägäisküste. Ende des 14. Jahrhunderts waren die Osmanen die Herren Westanatoliens und hatten in Europa ihre Feldzeichen (Rossschweife) bis zur Donau getragen. Ganz Bulgarien war bereits zur Provinz geworden und die Walachei ein Vasall des Sultans. Noch residierten die byzantinischen Kaiser hinter den unüberwindbar scheinenden Mauern ihrer längst verfallenden Hauptstadt, aber die Osmanen hatten inzwischen die alte Rolle des Oströmischen Reiches als östliche Vormacht zwischen Donau und Taurusgebirge übernommen. Die Entscheidung Murads I., der 1360 seinem Vater Orhan in der Herrschaft gefolgt war, den Sultanssitz von Bursa in das erst kurz zuvor besetzte thrakische Adrianopel (Edirne) zu verlegen, belegt die überragende Wichtigkeit der europäischen Front für die osmanische Politik. 1385 ernannte Murad erstmals einen besonderen Beylerbey für Rumelien (Römerland), wie die Osmanen das ehemalige europäische Gebiet der Byzantiner inzwischen nannten. Selbst der Untergang eines ganzen osmanischen Heeres am Wardar 1385 vermochte die Herrschaft des Sultans über den südlichen Balkan nicht mehr zu erschüttern.18 Vier Jahre später mussten sich Serben und Bulgaren nach der am St. Veitstag (28. Juni 1389) verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) erneut der Oberhoheit des Sultans unterwerfen. Murad überlebte seinen militärischen Triumph jedoch nur wenige Stunden. Noch auf dem legendären Kampffeld starb er durch den Dolch eines serbischen Attentäters. Ihm folgte sein Sohn Bayezid, der in der Schlacht als Führer des linken Flügels gekämpft hatte. Indem er sogleich seinen jüngeren Bruder Yakub erwürgen ließ, begründete Bayezid I. die brutale Tradition des Herrschaftswechsels, die Gegner der Osmanen seither gern als Zeichen ihrer besonderen Barbarei brandmarkten. Tatsächlich reduzierte der systematische Brudermord bei Thronwechseln die Gefahr von Bürgerkriegen und möglichen Reichsteilungen erheblich.19 Unter seinem Urenkel Mehmed II. sollte die Praxis des Brudermordes sogar Gesetzeskraft erlangen.

Bayezids Heer stand bereits vor den Mauern Konstantinopels, als sein aufstrebendes Reich beinahe der Vernichtungsschlag traf. Hatte der Sultan noch im September 1396 vor der Donaufestung Nikopolis über ein ungarisch-französisches Kreuzfahrerheer triumphiert, musste er schon sechs Jahre später bei Angora (Ankara) gegen die Horden des Turkmenenführers Timur Lenk (der Lahme) selbst eine katastrophale Niederlage hinnehmen und zusammen mit zwei seiner Söhne den Weg in die Gefangenschaft antreten. Zwar wandten sich Timurs siegreiche Scharen schon im Jahr darauf wieder nach Zentralasien, um China zu erobern, hinterließen aber ein führerloses Osmanisches Reich, das in Aufständen und Bürgerkriegen unterzugehen drohte. Alle fünf Söhne des bald nach der Katastrophe in Timurs Gefangenschaft verstorbenen Bayezids beteiligten sich an den jahrelangen Kämpfen, aus denen schließlich Mehmed I. als Sieger hervorging. Während seiner nur kurzen Herrschaft (1413 – 1421) stabilisierte sich das Reich allmählich. Verlorene Territorien konnten zurückerobert werden, und bereits sein Sohn, Murad II. (1421 – 1444, 1446 – 1451), stellte die ursprüngliche Vorherrschaft der Osmanen in Westanatolien wieder her.

Das christliche Lager hatte sich derweil außerstande gezeigt, die lange Phase der osmanischen Schwäche zu einem energischen Gegenschlag auf dem Balkan zu nutzen. Ungarn und Venedig, das eine Europas größte Landmacht, das andere sein bedeutendster maritimer Staat, lagen damals wegen der dalmatinischen Hafenstadt Zadar miteinander im Streit. Ungarns König Sigismund, der seit 1410 auch gewählter deutscher König war, schreckte selbst vor einer umfassenden Wirtschaftsblockade der Markusstadt nicht zurück und versuchte sogar, den griechischen Kaiser in Konstantinopel zur Sperrung seiner Häfen für venezianische Schiffe zu bewegen.20

Mehr als die unbeirrt ausgetragenen Rivalitäten der Europäer sicherte jedoch die Loyalität vieler seiner christlichen Bewohner das Überleben des osmanischen Staates. Eine große Zahl von Christen sah in den Lateinern inzwischen den gemeinsamen Feind von Türken und Griechen. Als der Beauftragte des burgundischen Herzogs Philipps des Guten, Bertrandon de Brocquière, im Jahre 1432 auf dem Rückweg aus Palästina bei Skutari (Üsküdar) den Bosporus überqueren wollte, bedrohten ihn die griechischen Schiffer sogar mit Waffen. Sie hatten herausgefunden, dass der fremde Reisende aus dem Westen kam.21 Längst hatten sich Händler, Handwerker und Seeleute, ehemals Untertanen des Kaisers in Konstantinopel, mit den neuen Verhältnissen arrangiert und betrachteten die Europäer eher als gefährliche Störenfriede. Als unter Führung János Hunyadis, des ungarischen Reichsverwesers, schließlich doch noch eine gemeinsame Expedition der Europäer zustande kam, transportierten christliche Seeleute das Heer des aus Anatolien heranrückenden Sultans bereitwillig über den Bosporus. So kam es im November 1444 zur Schlacht von Warna am Schwarzen Meer, in der Murad II. über Hunyadi, den unermüdlichen Bekämpfer der Türken, einen recht glücklichen Sieg errang. In der kritischen Phase der Schlacht hatten seine Janitscharen den Sultan sogar an der Flucht hindern müssen, angeblich indem sie seinem Pferd Fesseln anlegten.22 Es war ein Novum in der Geschichte des Reiches, als der Sultan wenige Wochen nach dem teuer erkauften Erfolg die Herrschaft seinem ältesten Sohn, dem erst 13-jährigen Mehmed, übertrug und sich auf einen Ruhesitz im anatolischen Magnesia zurückzog.23 Das umstrittene Experiment scheiterte jedoch, nachdem sich an allen Grenzen die Feinde des Reiches erneut zu regen begannen und sich sogar Koalitionen zwischen Europäern und dem südanatolischen Reich der Karamanen anbahnten. Dem regierungsmüden Murad blieb keine Wahl, als schon zwei Jahre nach seiner Abdankung wieder auf den Thron zurückzukehren. In einer zweiten Schlacht auf dem Amselfeld schlug er 1448 seinen Dauerwidersacher Hunyadi, der eine neuerliche Koalition aus Ungarn, Walachen und Albanern unter seiner Fahne gegen die Osmanen vereinigt hatte. Allerdings hatte erst der Seitenwechsel der 8000 Walachen in der Endphase der Schlacht die Wende zugunsten der Osmanen bewirkt.24 Konstantinopel war damit endgültig isoliert und Sultan Mehmed II. machte sich die Eroberung der Kaiserstadt zur ersten Aufgabe, nachdem er seinem Anfang 1451 in Edirne verstorbenen Vater endgültig auf den Thron gefolgt war. Es galt nicht nur, durch einen spektakulären Erfolg das Vertrauen der Armee zu gewinnen, sondern auch den letzten noch fehlenden Stein in das Fundament des Reiches einzufügen. Schon für Sultan Bayezid I. war klar gewesen, dass sein Imperium sich von jedem möglichen Verlust erholen konnte, wenn erst Konstantinopel in seiner Hand war.

Zwei Jahre lang bereitete sein Urenkel Mehmed II. den größten und wichtigsten Erfolg seiner Regierung akribisch vor, schloss mit den Ungarn einen dreijährigen Waffenstillstand und zwang durch einen Blitzfeldzug in Anatolien das Emirat von Karaman, seine Oberhoheit erneut anzuerkennen. Den Getreidehandel mit dem Schwarzen Meer blockierte er durch die in Rekordzeit auf dem europäischen Ufer des Bosporus errichtete Festung Rumeli Hisarı, ließ einen christlichen Geschützmeister aus Siebenbürgen die größte Kanone seiner Zeit gießen und verfrachtete zum Erstaunen aller Militärexperten eine Kriegsflotte von 70 Schiffen auf dem Landweg in das Goldene Horn. Am 29. Mai 1453, genau 1123 Jahre und 20 Tage nach ihrer Gründung, fiel die Stadt des Konstantin, die bis dahin unbestrittene Metropole der Christenheit, nach siebenwöchiger Belagerung in die Hände der Osmanen. Am Mittag des welthistorischen Tages, der überall im lateinischen Westen Schockwellen auslöste, ritt der 22-jährige Sultan durch das erstürmte Romanos-Tor in die Stadt und betrat zunächst die gigantische Hagia Sophia, wo er sogleich einen seiner Soldaten züchtigte, der mit einer Axt den Marmorfußboden der Kirche zerstören wollte.25 Mehmed ließ die überlebenden Bewohner der eroberten Kaiserstadt deportieren, was ein Novum im Umgang der Osmanen mit unterworfenen Völkern darstellte. Im Gegenzug gelangten die Bewohner anderer unterworfener Städte in die Stadt, die seither die endgültige Hauptstadt des Osmanischen Reiches bis zu seiner Auflösung im Jahre 1923 war. In den folgenden sieben Jahren beseitigte der Sultan die letzten Reste der byzantinischen Staatlichkeit, die sich noch auf der Peloponnes oder im nordöstlichen Anatolien (Kaiserreich Trapezunt) gehalten hatten. Obwohl Mehmed, der später den Beinamen »Vater der Eroberung« erhielt, 1456 eine empfindliche Schlappe vor Belgrad hinnehmen musste, erschien die Macht des osmanischen Staates inzwischen so gewaltig, dass selbst Papst Pius II., wohl einer der unermüdlichsten Protagonisten der Kreuzzugsidee, in einer bemerkenswerten ideologischen Kehrtwende dem Sultan 1461 die alte römische Kaiserwürde anbot.26 Völlig abwegig war die wohl von dem befreundeten Brixener Kardinal Nikolaus von Kues aufgebrachte Idee freilich nicht. Glaubt man den Berichten des Venezianers Giovanni Maria Angiolello, der jahrelang am Sultanshof lebte, hat sich Mehmed, ganz im Gegensatz zu seinem frömmelnden Vater, überhaupt zu keiner Religion bekannt. Nach einem anderen Zeugnis soll der Sultan sogar ein großer Verehrer christlicher Reliquien gewesen sein.27 Die osmanische Gesellschaft war wie schon die spätbyzantinische ein hybrides Gebilde. Christen stellten die Mehrheit der Bevölkerung im Reich des Sultans, und zum Islam übergetretene Renegaten leisteten überall in Heer und Verwaltung unverzichtbare Arbeit. Nach dem Zeugnis eines Mannes aus Siebenbürgen, der zwei Jahrzehnte als Gefangener unter den Türken leben musste und später als Memoirenschreiber unter dem Namen Georg von Ungarn große Bekanntheit erlangte, hörte man in den 1440er-Jahren in der Residenzstadt Edirne und selbst unter den hohen Würdenträgern kaum jemanden Türkisch sprechen.28 Am Hofe des Sultans stellten die aus der Knabenlese hervorgegangen Amtsträger sogar eine eigene Fraktion, die politisch in scharfer Opposition zu den alten türkischen Eliten des Reiches stand und durch den Sturz des alten Großwesirs Candarlı Halil im Jahre 1453 weiter an Bedeutung gewonnen hatte.

Die Hoffnung des Papstes, dass der Konfessionswechsel des Sultans das Osmanische Reich in ein christliches Imperium verwandeln würde, so wie einst Kaiser Konstantin das heidnische Rom dem »wahren Glauben« geöffnet hatte, war also nicht völlig aus der Luft gegriffen. Anders als die traditionellen türkischen Eliten ließen sich die wurzellosen Renegaten gewiss für das Christentum gewinnen, wenn nur der Sultan ihnen voranschritt.

Es ist allerdings nicht gesichert, ob das päpstliche Schreiben jemals seinen hohen Adressaten erreicht hat. Eine Reaktion des Sultans ist jedenfalls nicht überliefert.29 In gewisser Weise könnte man Mehmeds bald darauf eröffnete Kriegszüge gegen Serben und Bosnier, die nun Schlag auf Schlag ihre letzte Unabhängigkeit verloren, durchaus als eine Antwort auf die päpstliche Offerte betrachten. Der Sultan schien es nicht nötig zu haben, die Religion seiner Väter aufzugeben, um etwas zu erreichen, was er sich ohnehin nach Belieben jederzeit nehmen konnte. Tatsächlich brauchte Mehmed II. die westslawischen Regionen mit ihren ergiebigen Silberbergwerken, um nicht beständig auf das toxische Instrument der Münzverschlechterung angewiesen zu sein. Von Albanien aus ließ sich auch leicht eine strategische Basis an der Adria zum Kampf gegen Venedig gewinnen. Die Hälfte seiner 30 Regierungsjahre führte der Sultan Krieg gegen die Serenissima. 1477 standen seine Streifscharen sogar bereits in Sichtweite der Lagunenstadt. Nur zwei Jahre später musste Venedig die Beendigung des kostspieligen Krieges gegen die Osmanen mit dem Verlust seiner wichtigen Insel Euböa einschließlich der lange umkämpften Festung Negroponte teuer erkaufen. Seither beherrschten die Schiffe des Sultans unangefochten die gesamte Ägäis. Zwei Flottenexpeditionen gegen Rhodos und gegen die italienische Adriaküste endeten allerdings mit Misserfolgen. Zwar konnte die zum Königreich Neapel gehörende Stadt Otranto eingenommen und einen Winter lang gehalten werden, doch Mehmeds überraschender Tod im Frühjahr 1481 zwang die Osmanen zur Aufgabe ihres italienischen Brückenkopfes. Zurück blieben die Gebeine von 800 enthaupteten männlichen Bewohnern Otrantos. Angeblich sollen sie alle als Märtyrer ihres Glaubens gestorben sein, und ihre Knochen sind daher bis heute in der Kathedrale der Stadt als makaberes Inventar in großen Vitrinen ausgestellt.

Unter Mehmeds Sohn Bayezid II., dessen Herrschaftszeit sich ebenfalls über drei Jahrzehnte erstreckte, setzte eine Phase der osmanischen Konsolidierung ein. Noch einmal musste allerdings Venedig mit Waffen niedergerungen werden, und mit Polen trat im Kampf um Moldawien erstmals ein neuer Feind des Reiches auf den Plan. Erst seinem Sohn Selim I. (1512 – 1520), einer derben und brutalen Soldatennatur, glückte mit der Unterwerfung des Mamelukenstaates wieder eine bedeutende Eroberung, die freilich den Charakter des Osmanischen Reiches vollkommen verändern sollte. Obwohl die Annexion von Syrien, Ägypten und der »Heiligen Stätten« in Arabien die Gefahr einer Überdehnung der osmanischen Macht heraufbeschwor, hatte sich Selim zu dem gewagten Schritt entschlossen. Möglicherweise spielte dabei auch das verstärkte Auftreten der Portugiesen in der arabischen See eine Rolle, die 1507 Socotra im Golf von Aden und ein Jahr später Hormuz besetzt hatten.30 Gewiss aber lockte den Sultan die Möglichkeit, mit der Annahme des Kalifentitels die Führungsrolle seines Reiches in der gesamten islamischen Welt zu bekräftigen. Als Beschützer der beiden heiligen Städte Mekka und Medina hörten die Sultane auf, nur besonders erfolgreiche Eroberer zu sein. Das Osmanische Reich war zu einem sakralen Imperium geworden. Es stand nun ganz in der Tradition des Islam, so wie das untergegangene Byzantinische Reich in der Tradition der Konstantinischen Wende und des Christentums gestanden hatte. Es war Selims einziger überlebender Sohn, Süleyman, der daraus seinen Weltherrschaftsanspruch ableitete. Wie es nur einen Gott gab, konnte es auch nur einen Kaiser auf Erden geben.

Die Türken vor Wien

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