Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 24
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ОглавлениеMarion machte die Überfahrt von Le Havre nach New York auf einem mittelgroßen französischen Dampfer, in der Tourist Class. Die Reise langweilte sie. Sie war enttäuscht vom Meer, das sie von den Ufern aus so sehr geliebt hatte. Das Grenzenlose war öde. Der runde Horizont ermüdete den Blick; die kahle Größe der Wasserlandschaft, die tote Majestät der Unendlichkeit war geeignet, ein bedrücktes Herz erst recht traurig, beinah hoffnungslos zu stimmen.
Sie versuchte, sich zu zerstreuen. Die Bücher, die sie für die lange Reise mitgenommen hatte, ließ sie unten in der Kabine liegen; abends vor dem Einschlafen las sie in ihnen; tagsüber ging es nicht: sie war zu nervös, konnte sich nicht konzentrieren. Am ehesten gelang es ihr, die unruhig zerstreuten Gedanken zu sammeln, wenn sie mit Menschen sprach. Sie war gesellig; spielte Pingpong mit Studenten aus dem amerikanischen Mittelwesten; flirtete mit einem französischen Grafen, der durch soignierten Spitzbart und Monokel auffiel; schwätzte über Hüte und Parfüms mit einer lustigen kleinen Pariserin – über die politische Situation mit einem jungen Rechtsanwalt aus London; sie freundete sich mit einem deutschen Emigranten an, der in Berlin Schauspieler gewesen war – »aber kein besonders guter!« wie er munter gestand – und in New York Kellner werden wollte; und sie ärgerte sich über ein Ehepaar aus Frankfurt am Main, Siegmund und Marta Meyer, weil sie ihr erklärten: »Wir sind selber Nichtarier; aber man muß doch objektiv sein und zugeben: in vieler Hinsicht ist der Antisemitismus berechtigt. Die deutschen Juden sind zu frech gewesen, besonders in Berlin, wir in Frankfurt haben das nie gebilligt, diese arroganten Typen, Journalisten oder Börsenschieber, lauter Parvenüs, die meisten waren ja erst nach dem Krieg aus Polen oder Rußland eingewandert – für diese Ostjuden haben wir deutsch-jüdischen Patrizier nichts übrig gehabt.« Herr Meyer sagte es streng, seine Frau nickte, bekam aber ihrerseits eine klagende Stimme, als sie hinzufügte: »Nun müssen wir leiden, weil die Ostjuden gesündigt haben. Man ist ungerecht gegen uns, aber lange kann das nicht dauern, die Deutschen werden bald einsehen, daß sie sich geirrt haben, was die guten, die richtigen Juden betrifft: sie werden uns bitten, heimzukehren, ich freue mich schon darauf!«
Ganz entschieden: die Reise war kein Vergnügen. Das Schiff kam Marion wie ein luxuriöser Käfig vor; es wurde enervierend und quälend, jeden Tag die gleichen, gelangweilten Mienen zu sehen; die langen Mahlzeiten, die stumpfsinnigen Deckpromenaden, sogar das Pingpongspiel – alles wurde zur Marter. Sie freute sich auf die Ankunft wie ein Kind auf Weihnachten. Sie freute sich auf New York. Gierig las sie in der Reklamebroschüre, die man in den Kabinen verteilte:
»New York est la ville gigantesque, elle s’est développée entre deux rivières, en remontant tous les dix ans vingt rues dans le nord, de telle sorte que maintenant, de la Battery à Bronx, il y a trente kilomètres de maisons. Avec ses cinq ›boroughs‹, Bronx, Brooklyn, Queens, Manhattan et Richmond, New York est un véritable monde. – Désormais, vous sentirez toujours de l’autre côté de l’océan frémir, trépider, peser cette prolifération inouïe, cette formidable masse de monuments inimaginables abritant une agglomération d’humanité sans pareille …«
Die Ankunft hatte festlichen Charakter. Marions Agent war zur Stelle: ein munterer Herr und äußerst zuversichtlich, was Marions Chancen »in this country« betraf. Auch einige Journalisten hatten sich eingefunden, auf Veranlassung des Agenten: sie mußte ihnen erzählen, warum sie nicht in Deutschland leben mochte; ob ihr Vater, der berühmte Arzt, den Kaiser gekannt habe; ob ihr verstorbener Gatte ein hoher Offizier in Spanien und Mitglied der Académie française gewesen sei, und wie ihr New York gefalle. »How do you like New York?« Sie versicherte: »I am sure I will love it …« – und sie meinte es ernst.
Sie fühlte sich gleich zu Hause in der ungeheuren Stadt – ville gigantesque, Gigantenstadt, Überstadt, Stadt der Städte, monströse Siedlung, überdimensional, von enormer Häßlichkeit, enormer Schönheit, verwirrend, lähmend, bedrückend, erheiternd. Marion sagte sich jeden Morgen beim Aufwachen: ›Jetzt lebe ich in New York. Paris liegt hinter mir; hinter mir: Zürich, Amsterdam und Prag. Die Gegenwart heißt New York. Alles andere muß Erinnerung sein – und vielleicht auch Zukunft. Wenn ich New York nicht lieben würde: ich müßte mich dazu zwingen, es zu lieben. Aber es gefällt mir; es gefällt mir wirklich …‹
Das kleine Hotel, 39. Street, zwischen Lexington und Park Avenue, hatte man ihr in Paris empfohlen. Ihr Zimmer ging auf den Hof und war dunkel, aber nicht ohne eine gewisse Behaglichkeit. Sie saß gerne unten in der Bar und plauderte mit dem Mixer, Monsieur Gaston, einem Franzosen. Der Raum sah sauber und lustig aus, mit großen Spiegeln hinter der Theke und Möbeln, deren Lederbezüge rot leuchteten – »beinah wie in Paris …« sagte Marion und ertappte sich zu ihrem Ärger dabei, daß sie doch ein klein wenig Sehnsucht und Heimweh hatte nach dem, was hinter ihr lag und nur Vergangenheit war, oder vielleicht Zukunft … Monsieur Gaston, ein charmanter, welterfahrener Geselle, erzählte ihr mancherlei; zum Beispiel Geschichten über seine Gäste und ihre Schicksale. »In diesem Sommer«, sagte er, »als wir es so sehr heiß in New York hatten, saß jeden Tag ein deutscher Professor an meiner Bar – ein sehr feiner Herr, aber so traurig! Er konnte sich gar nicht hier einleben und hatte ein betrübtes Gesicht! Pauvre type. Ja, für einen gebildeten Herrn muß es schwer sein, sich in neuen Verhältnissen zurechtzufinden …« – Marion meinte: »Wie kann es jemandem in New York nicht gefallen? Es ist doch wunderbar hier!« – »Madame haben eben mehr Lebensmut als der Professor«, sagte der erfahrene Gaston.
Sie bekam bald heraus, daß manches, was man in Europa über New York erzählte, schierer Unsinn war. Das berühmte »amerikanische Tempo« zum Beispiel – in Berlin hatte man es vielleicht, etwas krampfhafterweise, gehabt; hier indessen suchte man es vergeblich. Die Stadt war eher gemütlich, bei all ihrem Riesenmaß. Den gehetzten Eindruck machten die kürzlich eingetroffenen Europäer, die gierig waren, sich dem eingebildeten »amerikanischen Tempo« anzupassen und rapide vorwärtszukommen – was sie sich gerade durch ihre Hast und die hysterische Gespanntheit ihres Egoismus erschwerten. Die Amerikaner ließen sich durchaus Zeit: Marion stellte es, erstaunt sowohl als befriedigt, fest. Manchmal wunderte sie sich über ihre eigene Ungeduld, das nervöse Bedürfnis nach Geschwindigkeit. Den Amerikanern, die im Hotel wohnten, schien es kaum etwas auszumachen, wenn sie mehrere Minuten lang auf den Lift warten mußten – wie es häufig geschah. Marion aber verlor die Nerven. Sie klingelte heftig, und da der »Elevator« noch immer nicht kam, suchte sie nach der Treppe; schließlich konnte man vom fünften Stockwerk ja auch zu Fuß in die Halle gelangen. Die Treppe aber war zunächst unauffindbar; sie schien zur Benutzung für die Gäste überhaupt nicht bestimmt. Endlich fand Marion die versteckte Tür. Das Treppenhaus war eng und lag fast im Dunkel. Es roch modrig hier, wie in Räumen, die man nur selten betritt: die Treppe war ein abgestorbenes Glied des lebendigen Hauses.
Marion, die vergessen wollte – die gar zuviel zu vergessen hatte – stürzte sich fieberhaft auf die neuen Eindrücke, auf die neuen Menschen. Alles interessierte sie, alles machte Spaß: die rasende Fahrt im Lift, die Wolkenkratzer empor bis zum Aussichtspunkt auf dem Dach – man bekam etwas Ohrensausen und Magenweh; aber es war doch schön – der enorme Rundblick über die unermeßlich gebreitete Stadt – gewaltige Landschaft: wild zerklüftet, wie das Hochgebirge; weit, ruhend und ewig bewegt, wie das Meer. Ihr schmeckten die geschwinden Mahlzeiten in den Cafeterias, den Automatenbuffets, auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen; sie mochte das zugleich scharfe und süße, kräftige Aroma der amerikanischen Zigaretten – Chesterfields, Camels, Lucky Strikes. Sie amüsierte sich über die Zeitungen, vor allem über die fetten Sonntagsausgaben mit ihren unendlichen Beilagen: Sport, Film, Broadwaytheater, Hollywoodklatsch, Börse, Karikaturenserien, Berichte aus dem »Gesellschaftsleben« – wie komisch waren die eitlen Mienen der mondänen »Debütantinnen« und die ernsthaften Beschreibungen der Abendkleider, die sie getragen hatten! – Sie liebte die Jazzmusik und die munter vorgebrachten kleinen Reden, die fast ohne Unterbrechung aus dem Radio kamen, und sie liebte sogar das Wetter: dieses geschwind und heftig wechselnde, von einem Extrem ins andere jäh umschlagende, grausame und lustige Wetter der Stadt New York. An manchen Tagen war die Luft mit Elektrizität so geladen, daß man kleine Schläge empfing bei der Berührung von metallischen Gegenständen. Die seidene Wäsche knisterte und klebte am Körper, und wenn man einem Menschen die Hand gab, sprühten Funken: es war etwas unheimlich und sehr amüsant.
Anfangs schienen sogar die Cocktailparties in der Park Avenue unterhaltend; der Manager bestand darauf, daß Marion sich in der »Gesellschaft« bemerkbar mache. Allmählich ward der Umgang mit den Reichen ermüdend. Marion hatte ein Grauen vor dem Konventionellen – vielleicht weil ihre Mutter, die geborene von Seydewitz, gar zu lange Meisterin in der Kunst der floskelhaften Konversation gewesen war. In den Salons der »society«-Damen wurde jedes spontane Wort wie eine Obszönität vermieden. Das Spiel der Fragen und Antworten funktionierte mechanisch und starr; niemand interessierte sich für die Worte des anderen, alle Worte waren inhaltslos.
Marion hatte Stunden tiefer Niedergeschlagenheit. Der erste Enthusiasmus war abgenutzt und verbraucht; das Herz füllte sich mit Bangigkeit und Langeweile.
Sie saß am Schreibtisch, sie versuchte, irgend etwas zustande zu bringen – einen Brief oder ein paar Notizen zu ihrem Vortrag. Die Hände blieben wie gelähmt auf den Tasten der Schreibmaschine liegen.
Das summende Geräusch des elektrischen Eisschrankes störte sie. Alles störte und alles tat weh. Sie ging durchs Zimmer; ließ sich auf dem breiten Fensterbrett nieder; es war glühend heiß von der Zentralheizung. Die Hitze im Raum war fast unerträglich; jetzt erst fiel es ihr auf. Der Heizkörper war hinter einem weiß lackierten Gitter versteckt; sie fand den Griff nicht, durch den die Hitze sich hätte abstellen lassen. Das Fenster immerhin konnte man öffnen, wenngleich nicht ganz ohne Schwierigkeiten. Es war ein Schiebefenster, und die Kraft, die man brauchte, um es in die Höhe zu bringen, war bedeutend. Marion strengte sich tapfer an; plagte sich schnaufend; schließlich kam die kalte Luft herein. Während Marion aber noch die Kühlung dankbar genoß, senkte sie auch schon – zum wievielten Male enttäuscht? – die Stirn vor dieser trostlosen Aussicht. Was war zu sehen? Nur der kahle Baum vor der roten Mauer, an der die Zickzacklinie einer schwarzen Feuertreppe nach oben führte. Kein Himmel – ach, kein Himmel, der sich blau und abgrundtief geöffnet hätte. Kein Himmel …
Die Sehnsucht nach der Luft, dem Licht, den herben Düften von Sils Maria überfiel sie mit schmerzender Heftigkeit wie die Sehnsucht nach einem Menschen. Übrigens mischte sich das Heimweh nach der verlorenen Landschaft in ihrem Herzen mit der Trauer um den verlorenen Freund. Marcel war tot, ins Herz getroffen, tot – unter fremden Himmeln gestorben. Und hier kein Himmel, der hätte trösten können. Und hier – kein Himmel.
Marion hatte das Gesicht in die Hände gelegt – aber ohne zu weinen – als es an der Türe klopfte.
Ein junger Mann, der einen großen Kübel und mehrere Lappen trug, trat ins Zimmer. Marion schaute kaum auf. Der junge Mann fragte höflich, ob es die Dame stören würde, wenn er die Fenster putzte. »Sie können es brauchen«, sagte er, auf die Fensterscheiben deutend; dabei lachte er ein wenig. Seine englische Aussprache war fehlerhaft. ›Er hat den italienischen Akzent‹, dachte Marion – übrigens nicht eigentlich interessiert; ganz mechanisch. Sie hatte dem Jungen noch nicht geantwortet. Er fragte wieder: »Darf ich?« Dabei ging er schon, mit energischen, etwas wiegenden Schritten, durchs Zimmer und stellte den Kübel vor dem Fenster hin. Seine Stimme hatte einen hellen und festen Klang.
Marion sagte am Schreibtisch: »Natürlich. Bitte. Ich wollte ohnedies eben ausgehen …« Sie erhob sich, um sich aus dem Wandschrank Hut und Mantel zu holen. Der Junge kniete auf dem Fensterbrett und begann schon, eine der Scheiben mit dem nassen Tuch zu bearbeiten. Marion schaute ihn an.
Sie blieb stehen, noch ehe sie den Schrank erreicht hatte. »Sie sind Italiener?« fragte sie ihn. Er lachte und nickte. »Woran merken Sie das?« wollte er lachend wissen. Marion – nach einer Pause, die mehrere Sekunden lang dauerte: »Das kann man doch hören …«
Sie nahm Hut und Mantel; machte sich geschwind vor dem Spiegel zurecht, und ging – etwas zu rasch – aus dem Zimmer. Der Junge hatte in seiner Tätigkeit am Fenster innegehalten und ihr nachgeschaut, bis sie die Türe hinter sich schloß. Sein Gesicht war braun und kräftig geformt, mit blauen, weiten, sehr leuchtenden Augen, deren Helligkeit zum Schwarz des dichten, glatten Haars kontrastierte.
Marion, im Korridor, klingelte nach dem Lift; der ließ auf sich warten, wie meistens. Sie dachte – mehr noch erstaunt als entzückt: ›Aber dieser Bursche ist ja schön wie ein junger Gott! Nein, so etwas! Plötzlich tritt ein junger Gott zu mir ins Zimmer; trägt eine kurze braune Lederjacke – das blaue Hemd offen am Halse – und putzt mein Fenster mit einem Lappen. Ein überraschender Vorfall. Dergleichen erlebt man nicht alle Tage …‹ Sie klingelte nochmals. Der Lift kam nicht. Sie erwog, ins Zimmer zurückzugehen; ein Vorwand dafür hätte sich finden lassen … Das würde die Gelegenheit bedeuten, noch ein paar Worte mit dem Burschen zu sprechen. ›Denn wenn ich von meinem ausgedehnten Spaziergang zurückkomme‹, meinte sie, ›ist er doch natürlich nicht mehr da, und dann sehe ich ihn nie wieder.‹ – Plötzlich aber empfand sie mit Beschämung die Albernheit ihres kleinen Plans. ›Er würde merken, daß ich seinetwegen zurückkomme … Was für Dummheiten!‹
Es machte sie nervös, hier zu stehen und auf den Lift zu warten. Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus – die halb verborgene Tür, die sie so lange nicht gefunden hatte und die ihr nun schon vertraut war. Vertraut war ihr auch der muffig-modrige Geruch auf der engen Treppe, die eigentlich gar nicht den Gästen zur Benutzung dienen sollte, sondern nur zur vorläufigen Aufbewahrung von allerlei Abfall.
Vom fünften Stockwerk geschwinden Schrittes hinunter in den Empfangsraum zu steigen macht etwas atemlos. Marion keuchte, als sie die andere schmale und geheime Tür öffnete, durch die sie, nach dem Ausflug in die Unterwelt, wieder ans Tageslicht treten durfte. Der Concierge betrachtete die Dame, die da aus den eigentlich unbetretbaren, fast verbotenen Gegenden kam, zunächst recht erstaunt; erinnerte sich dann aber, daß Miss Kammer nun einmal solch drollig-originelle Angewohnheiten habe – und lächelte strahlend. »How do you do, Miss Kammer? Nice weather today …«
Das Wetter war wirklich schön; Marion hatte es, von ihrem Zimmer aus, noch gar nicht feststellen können. Der schmale Streifen Himmel, der zwischen den Reihen der Häuserfronten sichtbar wurde, strahlte in harter und reiner Bläue. ›Fast wie im Engadin‹ – dachte Marion, plötzlich guter Laune.
›Wo wollte ich eigentlich hin?‹ fragte sie sich selber, ziemlich heuchlerisch; denn in Wahrheit hatte sie ja vorgehabt, einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. – ›Natürlich: nur bis zum Drugstore an der Ecke, um Zigaretten zu holen …‹
›Woher hat der Junge diese Augen?‹ überlegte sie, während sie die paar hundert Meter, die zwischen dem Hotel und dem Drugstore lagen, hastig zurücklegte. ›Und woher kenne ich sie? Woher sind mir die Blicke dieses italienischen Fensterputzers bekannt?‹ – Sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte heftiger; bis zum Hals hinauf fühlte sie es nun klopfen. ›Diese Augen – sternenhaft geöffnet unter gewölbten Brauen … kindlich und trauervoll und etwas wahnsinnig – sollen sie mich denn nie loslassen? – Ach, Marcel, Marcel …‹ – Sie trat in den Drugstore, verlangte zwei Pakete Lucky-Strike-Zigaretten, bezahlte siebenundzwanzig Cent und ging.
Als sie in ihr Zimmer zurückkam, war der Junge noch da. Er kniete auf dem Fenstersims und bearbeitete die Scheiben mit dem Lederlappen; es gab ein häßlich knirschendes Geräusch. Marion sagte: »Es ist schönes Wetter draußen.« Der Junge, ohne sich in der Arbeit zu unterbrechen, drehte das Gesicht halb nach ihr hin. »Aber Sie haben keinen langen Spaziergang gemacht …«
Über dem offenen Hemdkragen erhob sich der Hals, ein wenig zu breit vielleicht – zugleich stämmig und kühn. Hatte sein Gesicht wirklich Ähnlichkeit mit dem anderen Antlitz, das verloren war und versunken? Mit dem kindlichen und stolzen, von unbeschreiblichen Abenteuern vielfach gezeichneten Antlitz Marcels? – Marion prüfte die Züge dieses Fensterputzers, während sie, möglichst hochmütig, sagte: »Ich hatte eine kleine Besorgung zu machen.«
Es waren wohl nur Schnitt und Farbe der Augen, die mit so bestürzender Heftigkeit an Marcel erinnerten. Übrigens blickten diese Augen unschuldiger und blanker als die tragisch aufgerissenen Augen des Verlorenen. In dem Gesicht des Italieners gab es nur klare und starke Linien. Die Nase war kurz und gerade. Die Lippen – etwas zu dick, um im klassischen Sinne völlig schön zu sein – schienen aus einem soliden und verlockenden Material geformt, wie sehr edle Früchte. Wenn die Lippen sich öffneten, leuchteten die Zähne – ›Marcel aber hat poröse, gelbliche Zähne gehabt‹, mußte Marion denken. – Die kraftvolle Rundung des Kinns und die Form der breiten, hochsitzenden Wangenknochen waren bei Marcel ähnlich gewesen.
Marion murmelte etwas über ein paar Briefe, die sie eilig zu schreiben habe. Der Italiener, mit einer plötzlich pathetisch verfinsterten Stirn, sagte: »Bitte … Ich bin ja ohnedies hier gleich fertig.« Dabei rieb er mit demonstrativem Eifer die Fensterscheiben. Marion lächelte: »So war es doch nicht gemeint.« Da schaute er sie dankbar aus seinen hellen, weiten, blanken Augen an.
Sie setzte sich an den Schreibtisch – diese Geste glaubte sie sich doch schuldig zu sein, nachdem sie die Bemerkung über die Briefe nun einmal gemacht hatte. Indessen sorgte sie dafür, daß die Unterhaltung nicht abbreche. »Wie lange sind Sie schon in New York?« – Er berichtete: »Ich bin hier geboren. Aber als ich zwölf Jahre alt war, wollten meine Eltern nach Italien zurück, und sie nahmen mich mit. Meine Eltern leben in Bari: das ist eine große Stadt in Italien. Mein Vater möchte in Bari sterben. Es ist die schönste Stadt auf der Welt, sagt mein Vater. Aber ich habe es dort nicht ausgehalten. Seit zwei Jahren bin ich wieder hier.« – Er reckte, aufatmend, den schlanken und athletischen Körper, als ob es ihm ein physisches Behagen verursachte, wieder hier zu sein.
»Wie alt sind Sie denn jetzt?« fragte Marion. Er antwortete: »Zweiundzwanzig!« – mit einem stolzen und kindlichen Lächeln, das den Glanz seiner Zähne zeigte. Dann verfinsterte sich seine blanke Stirn gleich wieder.
»Da stehe ich, ein großer langer Kerl, zweiundzwanzig Jahre alt, und bin nichts als ein Fensterputzer!« Seine Augen waren dunkel geworden – fast schwarz – und die starken Lippen hatte er trotzig vorgeschoben. »Eine feine Situation!« Er lachte erbittert. Dann stellte er fest: »Eigentlich wollte ich schreiben« – und ließ den Scheuerlappen, wie entmutigt, sinken.
Marion erkundigte sich: »Was wollten Sie schreiben? Romane? Oder Gedichte? Oder Philosophie?«
Er machte eine große Gebärde, die wie eine Umarmung war. »Oh – alles – einfach alles – verstehen Sie? Theaterstücke und schöne Verse, aber auch Zeitungsartikel – gewaltige Zeitungsartikel gegen fascismo; gegen verdammten fascismo.« In seinen Augen flammte es wieder dunkel; aber diesmal nicht von Traurigkeit, sondern von Zorn. »Voriges Jahr habe ich für ein italienisches Blatt, hier in New York, feine lange Sachen gegen fascismo schreiben dürfen«, erzählte er. »Aber bezahlt habe ich nie was bekommen. Schließlich ist die Zeitung eingegangen, obwohl sie viele gute Mitarbeiter hatte. Und da stehe ich nun, mit meinem Scheuerlappen!« Er zuckte mehrfach ausdrucksvoll die Achseln, schnalzte verächtlich mit der Zunge und rollte grimmig die Augen, als wäre ihm gerade jetzt, im Moment, ein kolossales Malheur passiert.
Marion examinierte ihn weiter: »Und für den Faschismus haben Sie gar nichts übrig?«
Der Junge wurde sehr böse. »Aber natürlich nicht! Wie können Sie so etwas fragen? – Ganz und gar nichts habe ich für fascismo übrig! – Ach, wer weiß denn«, rief er mit Jammertönen, »wie miserabel, wie trostlos, wie ekelhaft die Verhältnisse in Italien sind! Niemand darf den Mund auftun. Niemand ist seines Lebens sicher.« Dabei hatte er ein theatralisches Gebärdenspiel, das die Gefahr schildern zu sollen schien, in der sich jeder Italiener befand und vor der es beinah kein Entrinnen gab. »Außerdem kann man dort nichts verdienen«, fügte er trockener hinzu. »Die Geschäfte gehen schlecht. Und die jungen Leute werden irgendwohin in den Krieg geschickt, nach Abessinien oder nach Spanien. – Mich aber können sie nicht verschicken«, konstatierte er stolz. »Ich bin amerikanischer Bürger.«
Später forschte er, etwas ängstlich: »Sie sind wohl Deutsche?« Sie lachte: »Man scheint es meinem Akzent anzumerken …« Er versicherte galant: »Gar nicht! Ihr Englisch ist ausgezeichnet. Aber ich habe die deutschen Bücher auf Ihrem Tisch gesehen.« – »Ja, ich lese noch deutsche Bücher.« Marion sprach leiser, lachte nicht mehr und wendete ihr Gesicht ab, als ob sie sich etwas schämte. »Aber ich bin lange nicht in Deutschland gewesen«, fügte sie rasch hinzu. – »Warum denn nicht?« fragte er, halb lustig, halb lauernd. »Sind Sie vielleicht auch nicht ganz einverstanden mit Ihrem fascismo? Ihrem Nationalsozialismus – wie man die miserable berliner Kopie einer schlechten römischen Erfindung wohl nennt?«
Nun mußte sie wieder lachen. »Nein – mit den Nazis bin ich auch nicht einverstanden.« – Sie begannen um die Wette zu schimpfen: jeder schimpfte auf den Diktator seines Landes und suchte zu beweisen, daß er der Schlimmere, der unvergleichbar Arge sei. Es war ein pervertierter nationaler Ehrgeiz, von dem sie beide besessen schienen – die »ausgebürgerte« Deutsche mit dem französischen Paß und der emigrierte Italiener, der amerikanischer Bürger war – in einem New Yorker Hotelzimmer stritten sie sich darüber, welche von ihren Regierungen abscheulicher war. Der Junge aus Bari hatte das letzte Wort. »Es mag ja sein, daß Ihr Hitler noch mehr Unheil angerichtet hat als unser Mussolini. Aber il Duce hat angefangen! – das muß man ihm lassen. Ohne Benito – kein Adolf!« Er lachte triumphierend, ließ die Zähne schimmern, warf kühn den Kopf in den Nacken und sah herrlich aus – wie ein junger Gott.
Das Telefon läutete; der Fensterputzer wurde in ein anderes Zimmer befohlen. Eilig packte er seine Sachen. »Ich habe mich schon zu lang hier aufgehalten. Es wird Krach geben …«
Am nächsten Morgen war er wieder da – »um den Fußboden schön blank zu machen!« – wie er übermütig sagte. Marion hatte ihn erwartet. Sie sprachen wieder, und sie schauten sich an. Diesmal sagte er ihr seinen Namen – den ihren wußte er schon; er hatte sich beim Portier erkundigt. Er hieß Tullio Rossi und wohnte bei einer verheirateten Schwester in Brooklyn. »Ich spare Geld«, sagte er, »um meinen kleinen Bruder aus Bari hierher kommen zu lassen. Er ist siebzehn Jahre alt. Was soll er denn in Italien? Il Duce würde ihn in irgendeinen Krieg schicken. Soll er fascismo helfen, Tunis oder Nizza zu erobern – damit noch mehr Menschen unglücklich werden?« Er holte die Photographie des Siebzehnjährigen aus der Tasche. »Ist er nicht hübsch?« Dabei zeigte er lächelnd den Glanz seiner Zähne. »Mein hübscher kleiner Bruder heißt Luigi.« Er reckte sich auf die stolze und theatralische Art, als ob der Umstand, daß seines kleinen Bruders Name Luigi war, ihn besonders selbstbewußt und fröhlich stimmte.
Er war glänzender Laune; zärtlich und überschwenglich. »Heute ist ein guter Tag!« rief er aus. »Ein ganz hervorragender Tag, ich habe es gleich beim Aufstehen gespürt. Kein Tag gleicht dem anderen – haben Sie das auch schon bemerkt? Es gibt gute und schlechte. Heute ist also ein besonders guter. – Ja, ich kenne das Leben!« Er schlug sich mit der Faust an die Brust, sehr vergnügt über seine Lebenskenntnis im allgemeinen und über diesen guten Tag im besonderen. »Tullio kennt das Leben! Tullio weiß Bescheid!«
Beim Abschied aber bekam er wieder die finsteren Augen. »Nun ist das Zimmer sauber«, stellte er fest und schickte einen drohenden Blick durch den Raum. Etwas sinnlos fügte er hinzu: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen …« – Marion aber fragte einfach: »Wann treffen wir uns? Und wo?«
Er schaute sie lange an, aus seinen hellen, heftigen Augen, die so schnell die Farbe wechselten. Er fand, sie war schön – zu schön, am Ende, für den armen Tullio aus Bari. Aber würde er denn immer der arme Tullio sein? Er war zu Großem bestimmt; würde herrliche Verse schreiben wie auch Theaterstücke und politische Manifeste. Er wollte sich würdig erweisen dieser sehr schönen Frau, die ihm jetzt ein Rendezvous vorschlug, als ob das gar nichts wäre. Die lockige Fülle ihres Haars hatte Purpurschimmer. Und wie siegesbewußt trug sie den kleinen Kopf! – Für Tullios Geschmack war sie ein wenig zu mager, vor allem was den sehnigen Hals und die langen, unruhig muskulösen Hände betraf. Aber er bewunderte ihren großen, leuchtenden Mund und das tiefe Farbgemisch in den Katzenaugen und ihre langen Beine und die Art, wie sie sich mit einer ungeduldig herrschsüchtigen Bewegung das Haar aus der breiten Stirne schüttelte. Er liebte auch ihre Stimme, die zugleich einschmeichelnd und grollend war, drohend und zärtlich und stark und sehr reich an überraschenden, herben oder süßen Nuancen. – Tullio war dazu imstande, sich geschwind zu begeistern. Er meinte, diese Frau schon zu lieben. Er begehrte sie schon.
Sie trafen sich abends, in einer kleinen Bar um die Ecke. Tullio, in einem bescheidenen grauen Paletot, ein etwas mißfarbenes und verwittertes rundes Hütchen auf dem Kopf, sah nicht mehr ganz so attraktiv aus wie in der offenen Lederbluse, die er zur Arbeit trug. Marion brauchte einige Minuten, um seinen großen Reiz wieder zu finden, wieder zu entdecken.
Ihr war sonderbar ernst zumute, als beginne nun ein sehr schöner, aber auch gefährlicher, vielleicht verhängnisvoller Abschnitt in ihrem Leben. Sie dachte an Marcel. Wenn sie die Augen schloß, zeigte sich ihr ein Gesicht, das mehr dem des fernen Toten als dem des Lebenden an ihrer Seite glich; es hatte aber die Züge von beiden. Sie bat Marcel um Verzeihung. Sie versprach ihm: ›Ich werde dich immer lieben. Was nun auch für mich beginnen mag, es kann mich dir nicht entfremden. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Ich bin deine Witwe, Marcel.‹
Tullio seinerseits war lustig bis zur Ausgelassenheit. Er lachte viel und sang Melodien aus italienischen Opern. Dazwischen schüttelte er den Kopf, als könnte er es selbst nicht begreifen, daß er hier saß, Marion an seiner Seite. »Life is funny«, sann er mit geheimnisvollem Mienenspiel. »Extremly funny – don’t you think so, Marion?« Dann sang er wieder; dann sprach er über Detektivromane, und schließlich gab er, in gedrängter Form, sein politisches Glaubensbekenntnis. »Ich bin Antifaschist«, sprach er feierlich. »Aber der Kommunismus gefällt mir auch nicht. Ich glaube, der Staat an sich ist das Schlechte. Kein Mensch sollte Gewalt über andere Menschen haben. Die Macht verdirbt den Charakter. Ich bin Anarchist. – Ja, Tullio kennt das Leben!« schloß er triumphierend.
Später, auf der Straße, preßte er Marions Arm und sagte mit einer Stimme, die mehr wütend als zärtlich klang: »Ich möchte mit dir allein sein, Marion! Ich möchte mit dir allein sein!«
»Das möchte ich auch«, sagte Marion.
Er versetzte düster: »Aber im Hotel geht es nicht. Dort kennen mich alle; sogar der Nachtportier weiß, daß ich der Fensterputzer Tullio bin. Es würde einen Skandal geben, wenn du mich mitnähmest.« Nachdem er diese Betrachtungen angestellt hatte, stampfte er vor Zorn mit dem Fuß aufs Straßenpflaster.
»Nein, im Hotel geht es wohl nicht«, gab Marion zu. Dabei berührte sie mit ihren Fingern seine geballte Faust: die große, harte Faust eines Arbeiters.
Sie stand nahe bei ihm. Ihr Blick ging über sein Gesicht. Die Lippen hatte er schmollend vorgeschoben, und in den Augen gab es Wetterleuchten. Er ärgerte sich wohl noch immer darüber, daß im Hotel sogar der Nachtportier ihn kannte und wußte, daß er nur der Fensterputzer war.
Marion löste ihre Finger aus der Umklammerung seiner Faust. Sie berührte vorsichtig seinen Nacken, gerade dort, wo das schwarze, feste und seidige Haar ansetzte. Da umschlang er sie. Er küßte sie an der Straßenecke. Ein kalter Wind blies sie an. Marion befreite sich aus seiner wütenden Umarmung, als sie die Schritte von Passanten hörte.
Sie gingen schweigend, Hand in Hand, den Weg zum Hotel zurück. Ein paar Meter vom Portal entfernt, trennten sie sich. Tullio sagte: »Morgen habe ich im achten Stockwerk zu tun. Vielleicht kann ich zu dir kommen – für ein paar Minuten. Leb wohl.« Seine Augen standen voll Tränen.
Marion wollte seine Augen küssen, hatte aber Angst, vom Hotel aus beobachtet zu werden. Sie drückte ihm schnell die Hand, ohne noch etwas zu sagen.
Marions Tage in New York waren reichlich ausgefüllt. Sie studierte mit einer amerikanischen Schauspielerin ihre englischen Rezitationen sowie die kleinen Vorträge, die den Versen als Einleitung dienen sollten. Sie hatte Konferenzen mit ihrem Agenten, mit Journalisten, und es gab viele Menschen zu sehen. Die Menschen waren wohlmeinend und herzlich. Alle schienen voll lebhafter Sympathien mit Schicksal und Arbeit der deutschen Emigrantin, und sie äußerten Haß und Ekel, wenn von den Nazis die Rede war.
Aber die zentrale Figur für Marion in diesen Wochen wurde der Italiener, Tullio, der, schön wie ein junger Gott, mit einem Kübel und mehreren Lappen in ihre Stube getreten war. Er kam wieder, jeden Tag war er da, und schließlich wagte er es sogar, sie nachts zu besuchen, obwohl doch alle im Hotel ihn kannten. Er schlich sich durch den hinteren Eingang und benutzte, um nach oben zu gelangen, nicht den Lift, sondern die Treppe: die enge, dunkle, fast verbotene Treppe, die abgestorben zu sein schien wie ein Körperteil, den man nicht benutzt, und die nun endlich ihren Sinn, ihr neues Leben bekam.
Auf der Treppe aber begegnete er keiner Geringeren als der Gattin des Managers, die wohl, vom Korridor her, Schritte gehört hatte und neugierig lugte, wer sich da herumtreiben mochte. »Wohin wollen Sie?« fragte unbarmherzig die Dame. Tullio seinerseits wurde rot und blaß. Der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen auf die Stirne; er brachte mühsam hervor: »Zu Doktor Alberto – Doktor Alberto im sechsten Stock …« Er meinte einen deutschen Arzt namens Albert Müller, der im Hotel logierte und vor einigen Tagen einen verletzten Finger Tullios verbunden hatte. – »Zu Doktor Alberto!« beteuerte der Junge noch einmal – erleichtert, daß immerhin dieser rettende kleine Einfall ihm gekommen war – und er fügte jammernd hinzu: »Mein kaputter Finger tut ja so entsetzlich weh! Es ist der kalte Brand, fürchte ich. Doktor Alberto wird alles aufschneiden müssen …« Dabei streckte er der Gattin des Managers frech die gesunde Hand hin. Sie geruhte nicht einmal, sie anzuschauen; vielmehr sagte sie nur verächtlich: »Doktor Alberto? Von wem sprechen Sie denn? – Wahrscheinlich meinen Sie den Herrn Doktor Müller.« – Tullio nickte eifrig. – »Warum benutzen Sie nicht den Lift?« fragte die Gattin des Managers nur noch und wandte ihm verdrossen den Rücken.
Tullio kam zitternd und keuchend vor Aufregung bei Marion an. »Man hat mich entdeckt!« Er rang pathetisch die Hände, Tränen standen in seinen Augen, und der schöne Mund zuckte. Sie legte die Arme um seine Schulter. Ihre Liebkosung besänftigte ihn; er konnte erzählen, was geschehen war. Als Marion aber lachte, wurde er ärgerlich. »Du amüsierst dich!« grollte er und machte große Schritte durchs Zimmer. »Du ahnst ja nicht, wie gemein die Menschen sind! Morgen wird der Manager sich bei Doktor Alberto erkundigen, ob ich wirklich bei ihm gewesen bin. Der ganze Schwindel kommt auf, und ich werde entlassen.«
Er blieb nur ein paar Minuten. Zum Abschied küßte er Marion mit einer Heftigkeit, in der noch der Zorn über das Renkontre auf der Treppe spürbar war. »Wir müssen uns ein Zimmer nehmen – ganz für uns!« flüsterte er. »Ich weiß ein kleines Hotel, in der Nähe der Pennsylvania Station. Es ist billig und ziemlich sauber …« Marion nickte, die Arme um seinen Hals. Dabei fiel ihr die Purpurfülle des Haars in die Stirn, wie ein Vorhang, der verbergen sollte, daß sie rot geworden war.
Übrigens geschah am nächsten Vormittag alles, wie der verzweifelte Tullio es vorausgesehen hatte. Doktor Müller, der sich an den Italiener mit dem verletzten Finger kaum erinnern konnte, leugnete empört, ihn nachts empfangen zu haben. Was also hatte Tullio im Hotel gesucht, zu so unpassender Stunde? Wahrscheinlich hatte er stehlen wollen; alles sprach dafür: dies war seine Absicht gewesen. – Tullio wurde entlassen. Er ließ es Marion auf einem Zettel wissen, den er durch die Türritze in ihr Zimmer schob. Sie erschrak: Was sollte nun werden? Aber schon gegen Abend rief der Junge sie an: Er hatte einen »Job« in einem anderen Hotel gefunden, nicht weit von hier. »Und es ist ein viel schöneres Hotel!« berichtete er stolz. »Viel größer und vornehmer als eures. – Tullio hat Glück! Tullio kennt das Leben!«
Marion hatte nur noch drei Wochen, ehe sie die Tournee antreten mußte. Die Zeit verging viel zu schnell. – Sie konnte Tullio immer erst abends treffen. Tagsüber hatte er seine Arbeit, und auch sie war beschäftigt. Aber die Abende waren lang – von sieben Uhr bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Mit Tullio zusammen lernte sie New York kennen; er kannte es gut, und überall hatte er Freunde. Sie unternahmen Entdeckungsfahrten in der Subway: nach Brooklyn oder in die Bronx, ins Chinesenviertel oder nach Harlem. Marion war begeistert von den Dancings, wo die Schwarzen, zugleich korrekt und verzückt, sich nach den fulminanten Rhythmen des Jazz bewegten. Tullio seinerseits tanzte ohne die brillante Technik, die für die Dunklen Selbstverständlichkeit war. Aber er führte mit festem, zuverlässigem Griff; sein Gang war beschwingt und elastisch, und seine Musikalität bewahrte ihn vor jedem falschen Schritt. Übrigens hielt er selber große Stücke auf seine Tanzkunst und rühmte sich kindlich: »Tullio knows how to dance! Tullio is clever, is smart!« – Sein Akzent war phantastisch. Mit einem Eigensinn, der nicht ohne Großartigkeit war, weigerte er sich zum Beispiel, das »th« so auszusprechen, wie es sich gehörte. Er deklarierte, wenn von weltanschaulichen Fragen die Rede war: »I know the whole trut!« – und Marion verstand erst nicht, was er meinte. Schließlich kam sie darauf, daß es das Wort »truth« war, das er so seltsam entstellte.
Es war schön in Harlem; es war schön am Times Square, wo die feurigen Räder der Lichtreklamen irrsinnig kreisten und vor schwarzem Hintergrund grelle Figuren oder Schriftzeichen ihren Tanz hatten. Nach dem Kino mußte Tullio in eine Cafeteria gehen, um ein großes Sandwich mit Salat und heißer Wurst zu essen. Er hatte fast immer Hunger. Für Marion war es ein Vergnügen, ihn essen zu sehen. Er bekam etwas Raubtierhaftes, wenn er gierig aß; seine Zähne, die beim Lachen verlockend schimmerten, wurden Mordwerkzeuge. Sie sah ihn Speisen verschlingen; Fleisch kauen, Gemüse verzehren, Suppe löffeln – in französischen Restaurants, schwedischen, ungarischen, chinesischen Restaurants. Am besten schmeckte es ihm in den italienischen. Er wußte ein kleines Lokal, wo es vorzügliche Ravioli und einen sehr guten Chianti gab. Dort war es, wo Tullio mit Marion seinen Geburtstag feierte. Es war ein schönes, ausführliches Fest. Er hatte schon am Nachmittag das Menü zusammengestellt. Es war fast wie in Bari. Sie schrieben eine Ansichtskarte an Tullios Familie: an den Vater, die Mama und den siebzehnjährigen Luigi. Später setzte Tullio, wieder einmal, seine Weltanschauung auseinander. »I know the whole trut!« behauptete er emphatisch. Diesmal stellte sich heraus: er war nicht nur gegen die organisierte Gewalt, den Staat; er war auch gegen den Verstand, gegen die Vernunft, den Kopf, das Denken. »Die Menschen denken zuviel«, erklärte Tullio, »deshalb können sie nicht glücklich sein.« Seine Theorie war: Alle Krankheiten kommen vom Gehirn; vor allem die Tuberkulose. Man bekämpfte dieses Übel am wirkungsvollsten, wenn man auf das leidige Nachdenken beinah ganz verzichtete. »Früher waren die Menschen gesund, weil sie weniger dachten und nicht soviel wußten. Ich weiß beinah gar nichts«, gab Tullio zu. »I am ignorant. – But I know the whole trut!« schloß er triumphierend und goß sich noch einmal Chianti ein.
Marion lauschte ihm amüsiert; machte sich dabei auch ihre eigenen Gedanken, obwohl ihr Freund doch gerade das Denken so dringend widerriet. Marion dachte: ›Auch sein kindlicher, ungeübter Verstand ist berührt und ergriffen von den Stimmungen, den gefährlich starken Tendenzen der Zeit. Marcel – erfahren und viel zu bewandert in allen intellektuellen Raffinements – hat die großen Worte verflucht und nach der Tat, dem Opfer verlangt. Dieser Überdruß an der Vernunft, dieser aggressive Zweifel an der intellektuellen Kritik scheint die Krankheit unserer Generation – oder ist es vielmehr ein Symptom der Gesundung? Sind alle diese jungen Menschen so müde der Gedanken und der Zweifel – weil sie glauben wollen? Woran glaubt Tullio? Was bedeutet sein »Anarchismus« und seine seltsame Theorie, daß die Tuberkulose vom Denken komme? Wohin will er? Wohin führt sein naiver Anspruch »Zurück zur Natur«? Ist die Barbarei das Ziel, die Auflösung der Zivilisation die Rettung? – Aber er haßt den Faschismus. Da er diese falsche Ordnung bekämpft, muß er eine andere Ordnung wollen: eine bessere, die sowohl freier als auch vernünftiger wäre. – Der Überdruß an der Vernunft und am Staat erklärt sich aus dem Mißbrauch, der mit der Vernunft getrieben wurde, aus der Schlechtigkeit der Staaten. Unsere Generation empfindet: Lieber das Chaos als die permanente Ungerechtigkeit. Hinter dem Chaos aber sieht sie – ohne es noch zu wissen oder sich zuzugeben – schon die neue Ordnung, der sie dienen will …‹
Marion liebte die Stadt New York. Alles auf den Straßen machte ihr Vergnügen. Es ergötzte und erfrischte sie, den gewaltig strömenden, exakt geregelten Verkehr der Wagen zu beobachten. Wenn das Lichtsignal ihnen zu stoppen gebot, war es gestattet, die Straße zu überkreuzen, an der Reihe der Wagen vorbei, wie an einem Wasserfall, der sich plötzlich nicht mehr ergießen durfte, sondern rauschend stillstand. Marion wurde eine kleine Angst nicht los. Sie sah aber lächelnd, wie Kinder und junge Mädchen den stehenden oder im dichten Verkehr ganz langsam fahrenden Wagen zutraulich auf die Kotflügel klopften, so wie man ein gezähmtes Ungeheuer lässig streichelt: der besondere Reiz so kecker Liebkosung ist es ja gerade, daß der Unhold einen zerreißen könnte, käme es ihm plötzlich in den unberechenbaren Sinn.
Es war gut, mit vielen Menschen zu reden; Tullio hatte schnell Kontakt mit mancherlei Leuten. Sie unterhielten sich mit den Negern, die in den Nebenstraßen des Broadway oder in Harlem ihre Künste zeigten; oder mit den Männern, die vor großen Geschäften ihre Schilder spazieren führten: »Kauft hier nichts! Boykottiert diesen Laden! Hier werden Gewerkschaftsmitglieder unfair behandelt! Helft uns in unserem Protest!« Mit diesen sprachen sie über soziale Fragen, über das Arbeitslosenproblem, über Roosevelts »New Deal« und seine Chancen. Mit den kleinen Negerjungen aber, die an den Straßenecken Schuhe putzten, sprachen sie über Baseball oder die Aussichten eines großen Boxkampfes, der angekündigt war. Die kleinen Negerjungens hatten zarte, etwas müde, dabei lustige und schlaue Affengesichter. Marion schaute gerne den flinken Händen bei der Arbeit zu. Die Dunkelheit ihrer Haut schien empfindlich und abgenutzt, an manchen Stellen fleckig, als trügen die Kinder sehr alte, strapazierte Handschuhe.
Einmal fuhren sie nach Yorkville, ins deutsche Viertel. Aber dort fühlte Marion sich gar nicht wohl. Sie ekelte sich vor den hakenkreuzgeschmückten Zeitungen, die überall aushingen. Die Gesichter vieler Menschen, denen sie hier begegnete, waren ihr unangenehm; es schienen böse und dumme Gesichter: Marion fürchtete sich. Tullio wollte einen deutschen Film sehen. Es gab ein Lustspiel; seltsamerweise zeigten die Figuren auf der Leinwand sich eher verdrossen, sie schrien sich an wie Unteroffiziere. Wenn sie lustig sein wollten, wurden sie roh. Die jungen Männer – hünenhaft gebaut, mit fast idiotischen Mienen – schlugen ihren Mädchen tüchtig auf den Hintern, ehe es zur Umarmung kam, die ihrerseits barbarischen Charakter hatte. Marion dachte: ›Ist dies deutscher Humor?‹ Den Ton der Stimmen konnte sie kaum ertragen; auf eine herausfordernde Art war er zugleich forsch und sentimental, aggressiv und wehleidig. ›Wie fremd die deutschen Stimmen mir geworden sind!‹ empfand Marion. Nach einer Viertelstunde gingen sie. Der Platzanweiser – ein Deutscher – erkundigte sich, ob ihnen der Film nicht gefallen habe. »Es ist ein abscheulicher Film«, sagte Marion.
Der Platzanweiser war ein großer, blonder Bursche mit langem, hagerem, recht gut geschnittenem Pferdegesicht. »Alle deutschen Filme sind Dreck«, sagte er, und sein Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck von Haß. Marion unterhielt sich noch etwas mit ihm. Der Bursche ließ durchblicken, daß er ein politischer Flüchtling war. Er wagte es nur zu flüstern: »denn wenn sie es hier rausbekommen, verliere ich meinen Job. Das sind hier alles Nazis – die ganze Bande!« – Leute kamen; er mußte ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg zu ihren Sitzen durchs dunkle Parkett zeigen. Ehe er sich von Marion trennte, hob er die Faust, zur Geste des antifaschistischen Grußes. Sein Gesicht, das im Halbdunkel des Theaters verschwand, sah sehr hart und zornig aus.
Wie rasch vergingen die Tage, und auch die Wochen waren geschwind vorbei. Marion lud ihren Tullio in die Oper ein; sie hörten »Aida«, Tullio war nur mit Mühe davon abzuhalten, die geliebten und vertrauten Melodien schallend mitzusingen.
Sie fuhren zur Washington Bridge und zur Brooklyn Bridge; sie genossen die Aussicht von den höchsten Wolkenkratzern, und sie spazierten im Central Park. Sie besuchten den Zoologischen Garten, die Öffentliche Bibliothek, die Museen, die Warenhäuser und die Empfangsräume der großen Hotels. Sie wollten alles sehen. Beide waren neugierig und enthusiastisch. Am meisten liebte Marion die Stadt zu einer gewissen Stunde am späten Nachmittag. Dann wurde das Licht durchsichtig und bekam einen besonderen, strengen Reiz. Hinter den Wolkenkratzern standen die schmalen Streifen des Himmels in einer blassen, stählernen Bläue. Irgendwo mußte noch die Sonne sein; aber man sah sie nicht mehr. Die hohen Stockwerke der Hausgiganten waren von einem kalten, süßen, etwas giftigen Rosa beschienen wie die Gipfel des Hochgebirges vom Sonnenuntergang – während die Straßen sich schon, gleich Schluchten, mit Schatten füllten. Dann wurde es plötzlich sehr kalt. Marion drängte sich enger an Tullio.
Wo war sie, und wer schritt da an ihrer Seite? War dies nicht die furchtbare, überirdisch schöne Landschaft des Engadins, und blies nicht der Maloja-Wind sie gewaltig an, um diese Straßenecke? – Sie zog den Jungen an sich, damit sie ihn wiedererkenne, ihn nicht verwechsle. Wir verwechseln die miteinander, die wir lieben müssen. Es ist immer dasselbe Antlitz, dem wir verfallen. – ›O Marcel, ich bin deine Witwe. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke.‹
Auch Tullio schien betrübt geworden, als teilte er Marions Erinnerungen, samt der nie zu stillenden Trauer um einen Toten. – Seine Stimmungen änderten sich rapid. Er war reizbar und stolz, kindisch und leicht gekränkt, zärtlich und naiv, roh und sanft. Er war stets überraschend. Manchmal glaubte Marion: Er ist schön, aber einfach dumm; dann wieder: Er ist begabt, aber er muß wahnsinnig werden. Und wieder ein anderes Mal: Er ist stark und gut, der Haß gibt ihm Kraft und Feuer, er kann etwas Tüchtiges leisten, er wird sein Leben sinnvoll machen, er kann arbeiten, er geht nicht zugrunde. Wenn er ausrief: »I know the whole trut!« und: »Alles Übel kommt von den Gedanken!« – erschrak Marion, und ihr Gelächter, das ihm antwortete, klang nicht munter. Wenn er aber seine Ausbrüche gegen »fascismo« hatte, der ihm die Heimat verdarb, beobachtete sie mit Entzücken sein bewegtes Gesicht. Schatten flogen über die blanke Stirn, in seinen Augen war das Wetterleuchten, und sogar das Funkeln der raubtierhaften Zähne ward drohend.
Manchmal machte er sich auch Sorgen wegen des sozialen Unterschiedes, der zwischen ihnen bestand. »Wir sind aus verschiedenen Welten. Was hast du eigentlich an mir?« konnte er fragen. »Ich bin doch nur ein einfacher, dummer Kerl – habe nichts gelernt.« Marion lächelte stumm. Mit ihren Lippen berührte sie seine grobe, abgearbeitete Hand. »Bist du glücklich?« wollte er wissen. »Kann ich dich glücklich machen?« – Sie antwortete nicht.
Doch wiederholte sie in ihrem Herzen die Frage: ›Bin ich glücklich? Liebe ich ihn genug? Gibt es zwischen ihm und mir nicht zuviel Trennendes? Ich bin mehrere Jahre älter als er. Ich bin erzogener als er, und ich habe eine andere Art zu denken. Habe ich nicht auch eine andere Art zu empfinden als Tullio? All seine Reaktionen sind mir fremd und erstaunlich. Vielleicht liebe ich ihn gerade deshalb so sehr. Denn ich liebe ihn sehr‹ – empfand Marion mit ihrem ganzen Herzen.
War sie glücklich, nachts, während der Stunden, die sie in dem verdächtigen kleinen Absteigehotel, nahe der Pennsylvania Station, verbrachten?
Marion hatte sich nie mit solcher Heftigkeit lieben lassen. Er war unersättlich. Sein Ernst in der Umarmung, seine beinah wütende Sachlichkeit bei den Liebkosungen waren erschreckend. Er warf sich über sie wie ein Ringkämpfer auf seinen Gegner. Er war geschwind befriedigt, und dann rief er: »Noch einmal!« – es klang wie ein Schlachtruf. Auch sein erhitztes, schweißbedecktes Gesicht sah wie das eines erschöpften Kriegers aus, mit durstig trockenen Lippen, dem feucht verklebten Haar, den gierig weit geöffneten Augen. Seine Zärtlichkeit war vehement wie eine Naturkatastrophe. Sein Körper bäumte sich wie in Qualen. Auch sein Stöhnen klang, als ob es von einem Gefolterten käme. »Tue ich dir weh?« fragte er sie – selber leidend an seiner Lust. Als Marion den Kopf im Kissen schüttelte: »Aber ich will dir weh tun! Sonst liebst du mich nicht!«
Manchmal grübelte Marion, über sein Gesicht gebeugt, an dem sie sich nicht satt sehen konnte: »Liebst du mich wirklich? – Ach, du liebst mich nicht!« Sie hatte es auf deutsch gesagt, er verstand sie nicht. »Was hast du eben gemurmelt?« wollte er mißtrauisch wissen. Da sie nur ein girrendes kleines Lachen als Antwort hatte, verfinsterten sich gleich sein Blick und seine Stirn. »Du ärgerst mich mit deinen Geheimnissen, mit deiner fremden Sprache. Ich weiß nichts von dir!« Er griff nach ihrem Kopf mit seinen großen, harten Händen, als ob er die Gedanken aus ihm herauszerren könnte. »Wenn ich nur wüßte, was vorgeht hinter dieser Stirn!« – Sie blieb stumm; da stürzte er sich wieder in die Umarmung wie in den Kampf. Noch einmal – der in Lust und Qualen gebäumte Leib; noch einmal die irrenden, rasenden Blicke; das Brummen und Stöhnen, der bedrohliche Schlachtgesang seiner Liebe: noch einmal.
Schwankte unter ihnen nicht das Zimmer – diese nicht besonders saubere Hotelstube, nahe Pennsylvania Station – wie einst ein anderes Zimmer geschwankt hatte, an einer französischen Küste? Es schien ein Schiff auf hoher See zu sein – oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewässer, die sich unermeßlich breiteten? Und wenn es Ufer gab – hatte man Kraft genug, sie zu erreichen?
Gefahren – Gefahren überall … Oh, wir sind schon verloren …! Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daß man uns zu solcher Strafe verdammt …? Marion und Tullio hatten den entsetzten Blick, als wäre ein Abgrund jäh vor ihnen aufgesprungen.
Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrände, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden emporgeschleudert. Es war der Krater eines Vulkans.
Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nähe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaßt, bist du verloren! Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daß du am Qualm elend ersticken mußt. Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt keine Gnade. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht? Oder wollt ihr verbrennen? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern? – Aber ihr habt nur diese! Hütet sie wohl! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet – niemand würde sich um euch kümmern, niemand dankte es euch, keine Träne fiele über euren Untergang. Ruhmlos – ruhmlos würdet ihr untergehen!
Da sprach Tullio die Worte, auf die Marion längst mit tausend Ängsten gewartet hatte. »Ich kann nicht bei dir bleiben, meine Geliebte.« – Sie fragte: »Warum nicht?« – so ruhig, als hätte er ihr mitgeteilt, daß er heute lieber ins Kino statt ins Museum wollte. Er redete pathetisch, den schönen dunklen Kopf in die starke Hand gestützt: »Weil mein Leben mich hier nicht befriedigt. Fenster putzen können auch andere. Ich habe Aufgaben, habe Pflichten! I know the whole trut! – Ich muß nach Europa, gegen fascismo arbeiten: in Italien, vielleicht auch in Deutschland. Ich muß kämpfen! Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und, die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht, brachte er noch hervor: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«
Wie kannte Marion diese Worte! Wie vertraut waren ihr diese Blicke, diese stolzen und verzweifelten Gesten! Der italienische Proletarier schien den Pariser Intellektuellen zu kopieren – und meinte es ernst und ehrlich wie dieser. ›Es wird das Opfer verlangt …‹ Dies ist nicht die Stunde des kleinen Glückes, und auch das große wird uns kaum gewährt. Die Welt will anders werden, sie windet sich in Krämpfen, das Böse hebt scheußlich mächtig das Haupt, wir werfen uns ihm entgegen, und wenn wir verbluten sollen an seinem Biß: Es wird das Opfer verlangt. Menschliche Bindungen, zarte Rücksicht auf die Geliebte kommen kaum in Frage: die Zeiten sind nicht danach. Wir umarmen uns, und das Glück ist heftig, weil es flüchtig bleibt. Leb wohl, und vergiß mich nicht! Wir sind Emigranten, du und ich, das Böse hat uns die Heimat gestohlen, die Heimatlosen kennen keine Treue. En somme, Madame, vous êtes sans patrie. Hatten Sie sich denn ein stilles Eheglück mit mir erwartet, chère Madame? Ich bin ein anarchistischer Fensterputzer. – Sie wußten doch, wem Sie sich hingaben, in diesem Hotelzimmer, wo es etwas übel riecht. Adieu, adieu: dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens.
Marion – an gewissen praktischen Details trotz allem interessiert – erkundigte sich: »Wann dachtest du denn zu reisen?« Seine Antwort war finster und allgemein gehalten. »Ich weiß noch nicht … Bald – nur zu bald … Vielleicht treffe ich meinen kleinen Bruder Luigi in Paris … Ich erwarte ein Telegramm … Ich muß auf einem Dampfer arbeiten, um nach Europa zu kommen – als Heizer oder als Kellner … Es kann bald sein – sehr bald …«
Zunächst aber war es Marion, die reiste. Ihre Tournee begann. Sie mußte für einen Damenklub in Philadelphia sprechen; den nächsten Tag für einen anderen in Baltimore; dann in Washington, Rochester, Buffalo, Detroit, Kansas City. Tullio begleitete sie zur Pennsylvania Station; sie kamen an dem Hotel vorbei, wo sie sich geliebt hatten, er hatte die Augen voll Tränen. Er verlangte: »Du mußt mir jeden Tag schreiben! Jeden Tag – nicht seltener – versprich mir das!« Er hob, mit mühsamer Schalkhaftigkeit, mahnend den Zeigefinger. »Ich muß doch immer wissen, was los mit dir ist!« sagte er noch. Seine eigenen Reisepläne erwähnte er nicht; nur vor der Trennung, die durch Marions Tournee verursacht wurde, schien er Angst zu haben. Eifrig wie ein Schulbub notierte er sich ihre Adressen; sie wechselten jeden Tag. Er sah rührend aus in seinem bescheidenen grauen Paletot, das mißfarbene, verwitterte runde Hütchen auf dem Kopf.
Er sah schön aus, sein Gesicht war schön gebildet, Marion liebte es, sein starkes, beinah wildes Gesicht, Marion schaute es an. Er schleppte den Koffer; sie hatte keinen Träger nehmen dürfen. Der Koffer war ziemlich schwer; Tullio keuchte. Sie schaute ihn an. »Adieu, Tullio! Mach’s gut!«
Sie ließ vor Nervosität ihr Täschchen fallen, es ging auf, Toilettegegenstände und Börse lagen auf dem Pflaster des Bahnsteiges. »Ich bin immer so ungeschickt!« Sie rang verzweifelt die Hände; ließ die Gelenke knacken. Da stand sie, eine lange, dünne, nervöse Dame in ihrem schwarzen Mantel; den kleinen Hut etwas unordentlich aufgesetzt; darunter kam das Purpurhaar hervor. Sie war nicht mehr völlig jung – nicht mehr neunzehnjährig war Marion, auch die Fünfundzwanzig hatte sie schon überschritten, und der dreißigste Geburtstag lag hinter ihr. Seht – um den leuchtenden, verführerischen Mund gab es schon scharfe Falten; auch um die schiefgestellten Katzenaugen ward dergleichen bemerkbar. Marion von Kammer – die Tochter der geborenen von Seydewitz; die Schwester Tillys, einer kleinen Selbstmörderin; die Witwe Marcels, eines Dichters und Soldaten; die Geliebte eines Fensterputzers: da stand sie, mit langen Beinen, zwischen den Augenbrauen einen angestrengten und gequälten Zug, im Mund die Lucky-Strike-Zigarette; schlenkerte mit ihren Handschuhen; wußte nicht, wohin mit ihren Händen – und sprach: »Adieu, Tullio! Vergiß mich nicht! Und leb wohl!«
Marion – wieder auf Tour: sie empfand es wie eine Heimkehr. Die Ruhelosigkeit war der vertraute Zustand und hatte fast beruhigende Wirkung. Wir sind Vagabunden, Zigeuner, total entwurzelt, heimatlos, sans patrie. ›Wo bin ich gerade jetzt?‹ dachte sie wieder wie damals, im Haag oder in Bratislava. ›Wo habe ich übernachtet? In einer Stadt namens Memphis oder in Chicago? Oder bin ich in einem Pullman car?‹
An die Pullman cars war sie bald gewöhnt. Erst hatte sie es beschwerlich gefunden, sich in den verhängten Betten, halb liegend, halb sitzend, an- und auszuziehen – man stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, es war unbequem, und ein eigenes Compartment konnte sie sich nicht leisten. Aber sie bekam schnell Routine. Nach einigen Reisetagen schienen ihr die amerikanischen Züge komfortabler als die europäischen. »Pullman Miles – Happy Miles!« – las sie auf den bunten Plakaten, die vor der Damentoilette hingen. Sie gab dem Reklametext beinah recht. Unterwegs fühlte sie sich am wohlsten.
Denn die Aufenthalte waren strapaziös. Anstrengender als die Vortragsabende waren die Interviews und die Geselligkeiten. Mit vielen Menschen mußte Marion plaudern, und sie hatte immer gut in Form zu sein. Die Klubdamen, die Journalisten, die Professoren, Studenten, jungen Mädchen – alle baten: »Tell us something about Germany! How is it possible …?« – Und dann half ihr kein Gott: erzählt sollte werden … Es war Teil ihrer Arbeit, es gehörte zu ihren Pflichten.
Übrigens sprach und berichtete sie nicht ohne Vergnügen. Der Wille aller dieser Menschen, sich zu unterrichten, war mehr als träge Neugier; er war rührend und beinah tröstlich. Die Fragen selber wirkten oft naiv und ahnungslos: »Warum mag Herr Hitler die Juden nicht? – Wieso findet sich niemand, der Herrn Hitler tötet?« Aber die Sorge, die Bestürztheit, die Anteilnahme waren stark und echt. Viele, die sich jetzt vor den Nazigreueln entsetzten, hatten Deutschland – »the country of Goethe and Beethoven« – einst geliebt und bewundert. Umso heftiger war nun ihre Enttäuschung – die übrigens nicht nur diesem einen Lande galt, sondern dem Erdteil. Warum duldeten Frankreich und England solche Barbarei, inmitten des Kontinents? Hatten sie nicht die Macht, den deutschen Diktator zu erledigen, ohne Krieg, nur durch die Kraft des moralischen, kulturellen, ökonomischen Boykotts? – So fragten die Klubdamen, Professoren und jungen Leute. Marion aber mußte Rede und Antwort stehen.
Sie gefiel den Amerikanern. »I think we do like you!« sprach herzlich die Dame vom Klubvorstand, und die anderen nickten. »It was wonderful to have you here! The whole crowd was just crazy about you! Couldn’t you have dinner with us tonight?«
Marion machte Eindruck, weil sie aufrichtig war. Sie überzeugte, weil sie ihrerseits starken Glauben hatte, weil die Flamme in ihrem Blick nicht künstlich sein konnte, der Schrei, das Schluchzen in ihrer Stimme nicht affektiert. Ihre Persönlichkeit imponierte, man war beeindruckt durch ihren Mut. »Such a brave little thing!« sagten die Damen, und die jungen Leute – wie auch die bejahrten Professoren – zeigten sich empfänglich für den fremdartigen Charme ihrer Erscheinung: die lockige Purpurmähne über dem kurzen, ausdrucksstarken Gesicht; der leuchtende, feuchte Mund, die schräggestellten, leidenschaftlichen Augen; die Magerkeit der gestrafften Glieder, der schönen, nervösen Hände. »Sie ist etwas ganz Besonderes!« sagten die Professoren, Studenten und sogar die abgebrühten Journalisten. »Very different – in a charming manner: that’s what she really is! – And very continental, too!« fügten sie anerkennend hinzu.
Man applaudierte ihrem Vortrag sogar dann, wenn man seinem Inhalt kaum hatte folgen können – nur der reizenden Erscheinung wegen; weil die Augen dieses Mädchens gewannen, und weil ihre Stimme entzücken, rühren und erregen konnte. – Tatsächlich war die Darbietung, mit der sie zu den Klubs und Universitäten kam, für das Publikum etwas Neues und wäre von einer weniger attraktiven Person wahrscheinlich nicht akzeptiert worden. Damen, die Vorträge hielten – das kam tausendmal vor; Schauspielerinnen sah man sich auf dem Theater an; lieber noch auf der Filmleinwand. Aber ein Mädchen, das Gedichte sprach, noch dazu teilweise in fremder Zunge? Es war gar zu »continental« und hätte leicht verwunderlich, selbst komisch wirken können. – Der Agent indessen, der in Marions Tournee Geld und Kraft investiert hatte, war sich seiner Sache beinah sicher gewesen, und sein geübter Instinkt behielt recht: Die Leute in Detroit, Kansas City und Baltimore fanden das Experiment nicht langweilig, sondern faszinierend. Noch während Marion unterwegs war, kamen neue Angebote, neue Engagements. Ihre Rückreise nach New York verzögerte sich.
Überraschender- und – wie Marion schien – paradoxerweise gingen diese Einladungen beinah sämtlich von amerikanischen Organisationen aus; die deutschen Gruppen hielten sich zurück. Hatte es nur politische Gründe? Lehnten die deutschen Vereine es ab, die Ausgebürgerte, die Emigrantin bei sich zu empfangen? – Marion dachte darüber nach, nicht ohne gekränktes Erstaunen. ›Werden meine Landsleute sogar hier von Hitler regiert?‹
Da sie sich fast immer an Amerikaner wendete, schien es ihr ratsam, die Rezitationen deutscher Verse einzuschränken, und die begleitende, erläuternde Rede ausführlicher zu machen. Ihr Englisch wurde fließend; ihr Akzent war gut. Sie erzählte, auf dem Podium stehend, vom »anderen, besseren Deutschland«, vom »guten alten Europa« und seinem Ruhm – fast mit der gleichen Nonchalance und improvisierten Leichtigkeit, die sie beim Diner mit den Klubdamen hatte. Sie verstand es, zu amüsieren. Die Anspielungen aufs Aktuelle, auf Personen und Probleme des Tages, wurden dankbar belacht. Sie berichtete von Heines Leben in Paris, von Lessings Polemiken, Goethes fürstlich erhöhter, einsamer Existenz, von den Tragödien Hölderlins, Kleists und Nietzsches – ehe sie die Verse oder Prosastücke sprach. Auch von den Lebenden, den Emigranten wußte sie Geschichten, die rührten und unterhielten. Es folgten die Dichtungen, oft in englischer Übersetzung. Die Rezitation bekam mehr und mehr den Charakter von sparsam verwendeter Illustration. Die Einführung, Deutung, politisch-moralische Schlußfolgerung ward das Wesentliche, Zentrale. Nach dem Vortrag stürmten alte Damen auf Marion zu, um ihr zu versichern, wie beglückend und belehrend alles für sie gewesen war. »Vor fünfunddreißig Jahren habe ich in Leipzig gelebt!« Die Weißhaarige sagte es deutsch – es war mühsam für sie, aber sie wollte beweisen, daß sie es noch nicht ganz vergessen hatte. »Damals war Deutschland schön! – ein so feines Land! Jetzt ist es wohl total – verrückt geworden? Isn’t it too bad? – Aber seitdem ich Sie gesehen habe, liebes Kind, bin ich wieder stolz darauf, daß meine Großmutter aus Hannover stammt. – Ich war nämlich schon nah dran, mich meiner armen Großmutter zu schämen«, flüsterte die Alte, hinter vorgehaltener Hand. »So wie man sich in Deutschland jetzt wohl einer jüdischen Großmutter schämt …« fügte sie kichernd hinzu.
Eine andere Frau sagte zu Marion: »Die Deutschen sind nicht zu entschuldigen. Gerade wenn man ihre großen Eigenschaften bedenkt, wächst die Empörung über ihre Entartung. – Ich war von Ihrem Vortrag begeistert. Sie wollten uns ein ›anderes Deutschland‹ zeigen – und, wahrhaftig: Sie haben es lebendig gemacht! Aber hat es, als Nation, als Realität, jemals existiert – dieses ›andere Deutschland‹, auf das Sie sich berufen? Es hat deutsche Genies gegeben, und es hat immer ein paar tausend Deutsche gegeben – wie Sie; ich habe Freunde unter ihnen gehabt. Aber der Rest? Das Ganze? – Während des Krieges hat man uns versichert: Es ist nicht das deutsche Volk, gegen das man kämpfen soll; es sind nur seine Tyrannen. Damit war euer lächerlicher Kaiser gemeint. Nun – der ist unschädlich gemacht worden. Und nach fünfzehn Jahren war ein neuer deutscher Tyrann da: nicht weniger grotesk, aber viel gefährlicher als Wilhelm. Nun sollen wir noch einmal zwischen diesem Volk und seinen schlimmen Führern den fundamentalen Unterschied machen?« Die Dame, die selbständig nachdachte und sich nichts einreden ließ, fragte es beinah drohend. »Mir scheint doch leider«, fügte sie mit Nachdruck hinzu, »das deutsche Volk hat die Führer, die ihm gefallen und die zu ihm passen.«
Marion nannte ihr Programm, das bis dahin unter dem Titel »Das andere Deutschland« angekündigt worden war, nach diesem Gespräch – das nicht das erste seiner Art gewesen war: »Deutschland von gestern – und morgen«.
Es kamen Tage, da meinte sie: Ich kann nicht mehr. Abends, auf dem Podium oder am geselligen Tisch, versagte sie niemals; ihre Energie überwand jede Müdigkeit: sie strahlte und ließ noch den Schlauesten nicht merken, wie elend ihr ein paar Stunden früher gewesen war. Während der langen Eisenbahnfahrten wurde ihr oft schwindlig; sie mußte sich übergeben. Solche Art von jähen Übelkeiten hatte sie nie gekannt. ›Was ist mit mir?‹ – Sie machte sich ernsthaft Sorgen und war doch sonst nicht hypochondrisch gewesen.
Die Landschaft ward immer öder; immer melancholischer der Blick in die kleinen Ortschaften, an denen der Zug stoppte oder langsam vorbeifuhr. Das kahle Backsteingebäude des Bahnhofs; dahinter die Perspektive der »Main Street«; ein paar Dutzend Ford-Wagen; ein paar große Plakate von Camel-Zigaretten und Coca-Cola; ein paar schmutzige Kinder, weiße oder schwarze; zwei oder drei Drugstores, ein Kino. Darüber der trüb bedeckte winterliche Himmel … Pullman Miles – Happy Miles … Winter im Mittelwesten.
An irgendeiner dieser Stationen stieg Marion aus – jeden Tag an einer anderen, und es schien immer dieselbe. Die Damen vom Klubvorstand oder die Herren von der Universität holten sie in einem Ford- oder Buick-Wagen ab. In der Hotelhalle erwarteten sie zwei Interviewer, vom »Chronicle« und von den »Daily News«. Sie saßen in Schaukelstühlen und rauchten dicke Zigarren. Marion erkundigte sich beim Portier, ob Post für sie da sei. Ja, es waren Briefe für Miss von Kammer gekommen. Sie sagte: »Thanks« und steckte sie zu sich. Erst mußte sie mit den Journalisten sprechen. Während sie, präzis und munter, Auskünfte gab, schielte sie auf die Couverts. Sie erkannte verschiedene europäische Marken. Aber erst ein paar Minuten später, im Lift, entdeckte sie, daß sie auch von Tullio eine Nachricht hatte. Dies war seine ungelenke, dabei stolz geschwungene, kindliche Schrift. Seit zehn oder zwölf Tagen war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Während der ersten Wochen ihrer Tournee hatte Marion fast an jeder Station einen Brief, mindestens ein Telegramm oder eine Karte von ihm gefunden. Meistens freilich waren es nur kurze, rhetorisch flüchtige Grüße und Beteuerungen gewesen: »Ich denke an Dich, meine Liebste! Wann kommst Du wieder? Seit vorgestern arbeite ich in einem anderen Hotel. Hast Du Erfolg? Vergiß Deinen Tullio nicht!!!«
Dann war er plötzlich verstummt; auch Depeschen mit bezahlter Rückantwort, die Marion schickte, hatten keine Silbe mehr aus ihm herausgelockt. Er schien alle Kräfte seiner Beredsamkeit aufgespart und gesammelt zu haben, für die umfangreiche Epistel, die nun eingetroffen war. Marion wußte schon, was er ihr mitzuteilen hatte. »Alles ist aus, ich reise, Du wirst mich nie wiedersehen.«
Dies schrieb er, in umständlicher und pathetischer Form. Er betonte: »Ich werde Dich immer lieben!« Vergaß indessen nicht, grausam hinzuzufügen: »Du verlierst mich, ich verschwinde aus Deinem Leben, zwischen uns ist es aus.« In hochtrabenden und konfusen Worten ließ er wissen, daß er nach Europa fahre, nächster Tage schon. »Ich arbeite als Kellner auf einem Schiff. In Europa aber will ich kämpfen.« Wo kämpfen? Gegen wen kämpfen? Er erklärte es nicht. Aber Marion wußte es ja. Sie hatte noch seine Worte im Ohr: »Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und weiter – die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«
Oh, diese Knaben, diese Soldaten, diese grausamen Märtyrer! – kindlich gierig alle nach dem Opfertod, und so schnell bereit, ihm alles zu opfern: das eigene Leben, samt dem Leben der anderen. – Marion, die Witwe Marcels – noch einmal verlassen, von ihrem italienischen Fensterputzer; Witwe zum zweiten Mal, alte Kriegerwitwe, erfahren in Abschiedsschmerzen, geübt im großen Adieu; Marion, unermüdliche Jungfrau von Orléans am Vortragspult; siegesgewisse Kämpferin; bewährte Trösterin; ermunterndes Beispiel für viele – seht, sie weint! Schaut hin: sie vergießt nochmals Tränen; in einem Schaukelstuhl sitzend, den sie von der heißen Zentralheizung weggerückt hat; an einem Schreibtisch, auf dem die Bibel und das Telefonbuch liegen; im Reisemantel, kleinen schwarzen Hut auf der Purpurmähne; irgendwo im Mittelwesten der USA – sie weiß kaum, in welcher Stadt – so kauert sie, die Knie hochgezogen, das Gesicht in die mageren Hände geworfen, und gönnt sich ein kleines Schluchzen. Die Koffer liegen noch auf dem Bett. Sie sollte auspacken; muß das Abendkleid bügeln lassen. In zwei Stunden wird das Telefon läuten: »Mrs. Piggins is in the lobby …« Mrs. Piggins ist der Klubvorstand, sie wird die Künstlerin zum Vortrag abholen; Marion muß baden, sich erfrischen, das Gesicht zurechtmachen, reichlich Rouge auflegen, sie sieht scheußlich aus – blaß und mager, und dazu die verheulten Augen.
›O Tullio – Tullio: warum? Wozu dieses Pathos, diese leeren Schwüre, aufgeregten Gesten? Wir hätten miteinander leben sollen. Ach, ihr scheut alle die unsägliche, lange, süße Mühe des Lebens! Der eigentlichen Verpflichtung weicht ihr alle aus! Ihr großen Helden, meine armen Brüder – warum bevorzugt ihr die leichten, schnellen, tödlichen Triumphe …? Mir ist übel. Wovon ist mir übel? Die ganzen letzten Tage ist mir nicht gut gewesen. Was ist mit mir?
Was ist mit mir, Tullio?‹
Tullio – stürmischer Liebhaber; Anarchist und verkanntes Genie; jetzt wohl schon als Steward auf hoher See amtierend – Tullio, der Überschwengliche und Ungetreue, hörte die Frage nicht. Marion zog es vor, sich selbst die Antwort heute noch zu ersparen; sie hinauszuschieben, noch ein wenig offenzulassen. – Um sich auf andere Gedanken zu bringen, las sie, mit feuchten Augen, ihre europäische Post.
Frau von Kammer, die geborene von Seydewitz, hatte geschrieben. Früher waren Mamas floskelhaft kühle Briefe für Marion eine Peinlichkeit gewesen; jetzt bedeuteten sie große Freude. Die Mutter schrieb gescheit und herzlich; nicht ohne Humor, trotz einem gewissen Unterton von Schwermut. Auch hatte sie viel zu erzählen. Die kleine Susanne hatte sich verlobt – berichtete Frau von Kammer. »Sie scheint glücklich zu sein; das ist natürlich die Hauptsache. Unter uns gesagt: ich finde den Kerl ziemlich unausstehlich. Er ist aus einer guten preußischen Familie; sein Großvater war mit meinem armen Papa befreundet. Wahrscheinlich ist es eine Art Gnade von ihm, daß er ein Mädchen ohne Geld und mit nicht rein arischem Blut zur Frau nimmt. Susanne will mit ihm nach Berlin ziehen. Dort soll auch die Hochzeit sein. Du kannst Dir vorstellen, liebe Marion, daß ich nicht gerade sehr entzückt von all dem bin … In ungefähr vier Wochen wird Susanne also Frau von Mackensen heißen.«
Die zweite Neuigkeit war noch wesentlich interessanter. Marie-Luise hatte sich dazu entschlossen, eine Pension zu eröffnen: »mit meiner Freundin Tilly zusammen!« – Frau Tibori hatte etwas Geld aus Hollywood mitgebracht. Für den Anfang war es reichlich genug. Die beiden Damen hatten eine große, hübsche Villa am Zürichberg gefunden: relativ billig und wie gemacht für eine nette Familienpension. »Den guten Ottingers – Du weißt: Tillys prachtvollen alten Freunden – habe ich eigentlich alles zu danken. Ohne deren Einfluß, den sie so lieb für mich verwendet haben, hätte ich die Erlaubnis nie bekommen können. Am 1. Januar machen wir auf. Du kannst Dir vorstellen: ich habe alle Hände voll zu tun und bin mächtig aufgeregt. Es haben sich ziemlich viel Gäste angemeldet; Schweizer und Emigranten. Man soll es gut bei uns haben, unsere Köchin ist ausgezeichnet, und ich will versuchen, die Preise möglichst niedrig zu halten. So viele Menschen, die jetzt aus Deutschland kommen, haben doch gar kein Heim und wissen überhaupt nicht, wohin mit sich. Ich habe wirklich den Ehrgeiz, ihnen etwas zu bieten, was mit der Zeit beinah ein Ersatz für das Verlorene werden könnte …«
Wer hätte dergleichen von Mama erwartet? Sie war starr gewesen – nicht eigentlich lieblos, vielleicht aber doch unfähig, Gefühle mitzuteilen und zu aktivieren. Mit ihren Töchtern hatte sie wie eine distinguierte Fremde verkehrt. Eine von ihnen war in den Tod gegangen – die süße Tilly hatte sich auf und davon gemacht, war eingeschrumpft, sehr hold und klein geworden; entrückt, entschwunden … Ein plumper Unglücksbote hatte der Mutter den Abschiedsbrief überreicht: da war, durch die Kraft der Tränen, eine Rinde um ihr Herz geschmolzen.
Nun wollte sie also eine Pension eröffnen, mit ihrer Freundin Tilla zusammen. ›Gute Mama!‹ dachte Marion gerührt. ›Der erste Januar – das ist ja schon in neun Tagen. Der erste Januar 1938 …‹
Dann las sie die anderen Briefe.
Eine Nachricht von Madame Rubinstein aus Paris – dies war überraschend; denn die Beziehungen zwischen Marion und Anna Nikolajewna hatten sich, während der letzten Jahre, eher abgekühlt. Nun ließ die russische Freundin wieder einmal von sich hören, weil sie unglücklich und sehr einsam war. Ihr Gatte, Monsieur Rubinstein, war gestorben. »Mon pauvre Léon est mort«, berichtete sie in ihrer altmodisch feinen und genauen Schrift. »Für ihn bedeutet es wohl eine Erlösung; er war immer melancholischer geworden, das Heimweh machte ihn krank, ganz abgesehen von seinem quälenden Nierenleiden.«
Marion erinnerte sich des aufgeschwemmten, grauen und porösen Gesichtes – des irdischen Antlitzes des Herrn Léon Rubinstein. Nun war es also zerfallen. Die Verwesung hatte leichte Arbeit mit ihm gehabt; es hatte stets etwas verwest gewirkt … »Während seiner letzten Stunden hat er nur von Mütterchen Rußland gesprochen«, schrieb Anna Nikolajewna. »›Jetzt darf ich endlich heimkehren‹ – hat er immer wieder gesagt.«
»Man soll die Heimat nicht aufgeben, sie ist unersetzlich.« – Marion hörte wieder die Stimme ihrer alten Freundin. Sie sah das enge, überfüllte Zimmer – den Samowar, die Nippes-Sachen, die Souvenirs, die ausgestopften Tiere. – »Man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan.« Dies waren die furchtbaren Worte Anna Nikolajewnas gewesen.
Die kleine Germaine aber – das trotzig-ernsthafte Kind – war zurückgekehrt: auch dies erfuhr Marion, und Madame Rubinstein klagte: »Ich habe also keinen Menschen mehr!« Ihr Töchterchen hatte sich in Moskau niedergelassen und Arbeit in einem Modesalon gefunden. »Erstaunlich genug« – wie die verlassene Mutter bemerkte – »man scheint sich in Sowjetrußland neuerdings für elegante Damenkleidung zu interessieren. Germaine schreibt mir, daß die Frauen in Moskau sich schminken wie die Pariserinnen – wenn auch weniger geschickt. Das Kind scheint sich wohl zu fühlen. Zu Anfang kam ihr wohl alles in der fremden Heimat etwas seltsam vor; aber allmählich gewöhnt sie sich. Neuerdings ist ein Flirt zwischen ihr und einem jungen Ingenieur aus Kiew im Gange. Nun, man wird sehen, ob sich etwas Ernsthaftes daraus entwickelt … Wenn Germaine in Rußland heiraten sollte, werde ich sie für immer verlieren. Ich kann nicht dorthin zurück. Ich werde in Paris sterben, wie mon pauvre Léon.«
Marion dachte: ›Viel Schicksal ist diesen Briefen anvertraut worden, die auf der »Normandie« oder der »Queen Mary« eilig über den Ozean geschwommen sind. – Was für Neuigkeiten weiß Theo Hummler? Laß sehen!‹
Hummlers Epistel hatte trocken informativen Charakter. Sie enthielt Mitteilungen über den Fortgang der politischen Arbeit, der illegalen Aktionen in Deutschland. »Einer unserer Verbindungsleute in Berlin ist verhaftet worden. Das Wunder ist, daß – trotz allem! – für jeden Verlorenen ein Ersatzmann sich meldet. Es gibt viele Helden in Deutschland.« – Er erwähnte, daß in letzter Zeit der kleine Kikjou wertvolle politische Dienste geleistet habe. »Er ist tapfer und geschickt, außerdem kommen ihm seine Sprachkenntnisse und seine gesellschaftlichen Verbindungen zugute. Wir konnten ihn unlängst in einer besonders heiklen Mission ins Reich schicken. Die Aufgabe war schwierig und ist gut von ihm gelöst worden.«
Hierüber freute sich Marion; war übrigens kaum überrascht. Aus dem kleinen Kikjou war ein Mann geworden: sie hatte es in dem Pariser Versammlungssaal, und besonders bei der flüchtigen Begegnung im Treppenhaus konstatieren können – damals nicht ohne Erstaunen. Nun bewährte er sich: mit Befriedigung nahm es Marion zur Kenntnis, als hätte ein Sohn oder ein Bruder etwas Braves geleistet.
Die Schwalbe war nach Spanien abgereist – wußte Hummler noch. Ihr Pariser Lokal hatte sie für eine Weile geschlossen und sich, mit Dr. Mathes und Meisje zusammen, dem Sanitätsdienst der loyalistischen Armee zur Verfügung gestellt. Zur Zeit befanden sich alle drei – Mathes, sein Meisje und die Schwalben-Mutter – mit ihrer Ambulanz an einem Frontabschnitt bei Valencia. »Von unserem kleinen Kreis hier ist also nicht mehr viel übrig«, vermerkte Hummler – und Marion empfand: ›Wie einsam er geworden sein muß!‹ – »Helmut Kündinger ist in China, eine große Pariser Zeitung hat ihn als Korrespondenten geschickt. Der Junge hat sich prachtvoll entwickelt, ist ein prima Journalist geworden, auch für unsere Zwecke oft sehr gut zu verwenden.« – Immer wieder kam er auf »unsere Zwecke« zurück: auf den zäh und unermüdlich geführten Kampf. Das Private war Nebensache. Trotzdem gestand er zum Schluß: »Ich wünsche oft, Du wärst hier, Marion! Du warst doch die Beste. Ich muß viel an Dich denken. Du fehlst mir.«
›Ich fehle ihm also …‹ Marion wußte selber nicht, warum es sie bewegte und etwas traurig machte. ›Mir fehlt auch dies und das. Jedem fehlt dies und das … Jetzt muß ich mich aber schleunigst zurechtmachen: Mrs. Piggins wird ja gleich hier sein. Die Dame, die mich abzuholen kommt, heißt doch wohl Mrs. Piggins? Oder war das der Name des Klubvorstandes in der vorigen Stadt? Wäre peinlich, wenn ich’s durcheinanderbrächte … Wo spreche ich eigentlich heute? In der Universität …?‹
Der Vortrag »Germany Yesterday – Germany Tomorrow« fand in der Aula des kleinen »College« statt und wurde mit interessiertem Beifall aufgenommen. Ein Publikum, das zur Mehrzahl aus jungen Leuten bestand, war Marion stets das liebste: Zwanzigjährige sind die besten Zuhörer – wenn sie nicht durch Schlagworte verdorben und stumpfsinnig gemacht worden sind. – Nach der »lecture« gab es eine »Diskussion«; aus dem Publikum wurden Fragen gestellt, und Marion – eine fragile Pythia auf dem Podium – mußte orakelhaft die Antwort improvisieren. »Wer wird in Deutschland nach Hitlers Sturz regieren?« – »Was halten Sie von den United States of Europe?« – »Wird der Führer die Tschechoslowakei angreifen?« – Das Orakel mußte Bescheid über alles wissen – auch über die Frage: »Wie alt wird Herr Hitler werden?«
Ein junger Mann meldete sich zum Wort. Er war von angenehmem Äußeren: das blonde Haar akkurat gescheitelt, darunter ein rosiges Gesicht mit langer Nase. Seine Stimme freilich enttäuschte: sie klang scharf und sprach das Englische mit einem harten, fremden Akzent. Marion wußte gleich: Der führte Böses im Schilde; er wollte sie hereinlegen, aufs Glatteis locken. Zunächst blieb er äußerst höflich. »Fräulein von Kammer ist eine Künstlerin«, stellte er artig fest. »Sie kennt und liebt die große deutsche Kultur – ich habe ihren Vortrag sehr genossen. Eine Patriotin – und sicherlich ist Fräulein von Kammers vaterländisches Empfinden stark und ehrlich – kann nicht die Absicht haben, Propaganda gegen ihr eigenes Land zu machen.« Mit einem überlegenen Lächeln fuhr er fort: »Wenn ich die Rednerin recht verstanden habe, so verdammt sie das Dritte Reich vor allem aus humanitären und kulturellen Gründen. Sie stellt die Behauptung auf: Deutschlands beste Geister – die man nach ihrer Ansicht nicht mehr fragen kann, da die betreffenden Herren längst nicht mehr unter den Lebenden weilen – würden heute gegen Hitlers Staat sein, weil sie sich über gewisse Härten der totalitären Regierungsführung und über die Einschränkung der Pressefreiheit empören müßten.« Er machte eine Pause; sein Lächeln drückte Skepsis und Mitleid aus. Dann aber wurde es lauernd. Den Oberkörper vorgeneigt, das Gesicht stärker gerötet, bemerkte er:
»Nur eines erstaunt mich bei den Fanatikern des Antifaschismus – bei unserer begabten Rednerin wie bei vielen anderen. Warum finden sie Vorgänge und Institutionen in Sowjetrußland verzeihlich, die ihnen im Deutschen Reich so sehr mißfallen? Nehmen wir sogar an, in Deutschland seien Grausamkeiten begangen worden, wie in jedem jungen, revolutionären Staat – ich will sie gewiß nicht entschuldigen. Aber ich muß doch fragen: Hat die bolschewistische Diktatur sich nicht unvergleichlich mehr, nicht sehr viel Schlimmeres zuschulden kommen lassen? – ›Diktatur‹: da haben wir ja das Wort. Immer wieder müssen wir uns die Greuelberichte über die Schandtaten der nationalen, aufbauenden, erhaltenden Diktaturen anhören; für die Exzesse des absolutistischen Bolschewismus scheinen unsere Antifaschisten sich viel weniger zu interessieren. Gibt es in Sowjetrußland eine Pressefreiheit – ja oder nein? Ist in Sowjetrußland gemordet worden? Wird dort weiter gemordet? Ja – oder nein?« Er brüllte, seine Miene war purpurn, den Oberkörper hielt er immer noch vorgereckt. »Ich bin gewiß kein Faschist« – dabei schnaufte er heftig – »meine Freunde hier wissen das. Aber ich finde, wir sollten nicht unfair sein. Beschönigen oder verschweigen, wenn es sich um Rußland handelt; übertreiben und hetzen, wenn Deutschland zur Diskussion steht – das geht nicht! Das ist gegen die guten Sitten!«
Seine Rede hatte einen gewissen Eindruck gemacht. Der junge Mann hatte fließend, dabei temperamentvoll gesprochen. Erst zum Schluß war er etwas aus der Form geraten. Durch seine Unhöflichkeit gegen Marion hatte er Sympathien verloren. – Mrs. Piggins, die Diskussionsleiterin, war nervös geworden. Sie flüsterte Marion zu: »Furchtbar unangenehm! Herr Fröhlich ist ein deutscher Austauschstudent – ein begabter Junge, recht beliebt im College. Er hat niemals Sympathien für die Nazis offen zugegeben; war immer sehr zurückhaltend, durchaus objektiv. Was ist nur in ihn gefahren? Wie peinlich! Ich hätte ihn nicht sprechen lassen sollen! Nun müssen Sie ihm erwidern, Fräulein von Kammer!«
Marion war im Begriff, sich ihre Antwort zurechtzulegen. Diesen Burschen mußte man abfahren lassen! Welch gemeiner Demagogentrick: in die Diskussion ein Thema zu zerren, das abseits lag und nur Verwirrung stiften konnte! – Sie öffnete schon den Mund, um ihre Replik zu beginnen; da wurde ihr schwindlig, sie taumelte, griff hinter sich, ihr Gesicht war weiß. Sie spürte: ›Gleich werde ich stürzen … Was ist mit mir? Ist es dieser aggressive Deutsche, der mich so aufgeregt hat? Was sonst kann es sein? Um Gottes willen; was sonst kann es sein …?‹ Mühsam hielt sie sich aufrecht.
Erlösende Überraschung! Von unten, aus dem Publikum, hörte sie eine tiefe, beruhigende Stimme. Ein Mann sprach; Mrs. Piggins mußte ihm das Wort erteilt haben, ohne daß Marion es bemerkt hatte.
Der Mann sagte: »Mir scheint, zuerst und vor allem ist es meine Pflicht, Fräulein von Kammer im Namen unseres Colleges um Entschuldigung zu bitten.« Auch er hatte den unverkennbar deutschen Akzent. Er redete langsam, mit einer seltsam gepreßten, zurückgehaltenen Intensität. Er schaute Marion an, während er redete. Vor ihren Augen war es eben noch beinah schwarz gewesen. Nun konnte sie wieder sehen. Die Gestalt des Mannes, der sich als ihr Ritter und Verteidiger vom Platz erhoben hatte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. – Marion bemerkte, daß alle Gesichter im Saal ihm vertrauensvoll zugewendet waren. Kein Zweifel: er genoß die respektvolle Sympathie der Versammlung. Man war erleichtert, daß er den wortgewandten Angreifer zurechtweisen und widerlegen wollte; man atmete auf, Mrs. Piggins strahlte.
Der Mann, auf den alle Aufmerksamkeit sich nun konzentrierte, schien indessen seinerseits kaum noch zu wissen, daß er inmitten der erwartungsvollen Menge stand. Es war nur noch Marion, die seine grüblerischen und gefühlvollen Augen sahen. Sie spürte seinen Blick auf der Haut wie etwas Körperliches.
»Leider ist festzustellen«, sagte er langsam, »daß mein Vorredner unritterlich gegen eine Dame war – unritterlich in der Form wie durch die Argumente, die er gegen sie benutzte. Sicherlich wird Fräulein von Kammer selbst die beste Antwort für Herrn Fröhlich wissen – es sei denn, sie zieht es vor, ihn einer Erwiderung gar nicht zu würdigen. Jedenfalls möchte ich es nicht einem der amerikanischen Freunde überlassen, meinen Landsmann, Herrn Fröhlich, auf seine Entgleisung aufmerksam zu machen – zumal er sie sich einer Kompatriotin gegenüber hat zuschulden kommen lassen. – Herr Fröhlich hat vorhin den Begriff ›unfair‹ gebraucht. Es erstaunt mich, daß für einen Anhänger Hitlers dieses Wort überhaupt Sinn und Inhalt hat. Für uns andere freilich bleibt es bedeutungsvoll. Gerade deshalb hat die rhetorische Exkursion des Herrn Fröhlich uns so tief schockiert. Ich fürchte, es war seine Absicht, Fräulein von Kammers moralische Integrität zu verdächtigen. Das ist unerträglich!« rief der untersetzte Mann, plötzlich wütend, wie in einem Anfall von Jähzorn; er stampfte kurz mit dem Fuß, sein rundliches Gesicht verfärbte sich dunkel. »Jeder im Saal ist von ihrem Vortrag bewegt worden. Wenn irgend jemand, so hat sie das Recht, die Entartung, den geistig-politischen Absturz Deutschlands zu rügen und zu beklagen, da sie selber bestes Deutschland ist. Und nun kommt dieser junge Herr aus Berlin, um uns boshaft zu examinieren: Ist es in Rußland besser? – Lassen wir die Frage offen, ob es in Rußland besser oder schlechter ist; ob die Sowjetunion alle Welt durch ihre Aggressivität, ihr Expansionsbedürfnis, ihre internationalen Intrigen bedroht und zur Aufrüstung zwingt – oder ob nicht vielmehr das Dritte Reich es ist, von dem solche Bedrohung ausgeht, während die Außenpolitik Moskaus niemanden beunruhigen kann. Lassen wir sogar dahingestellt, ob die Verhältnisse in Rußland und in Deutschland überhaupt irgendwie zu vergleichen sind. Das alles steht nicht zur Debatte.
Was ich Sie fragen will und muß, meine Damen und Herren, ist nur dies: Hatte der Vortrag, den Fräulein von Kammer uns geboten hat, irgend etwas, auch nur das allermindeste mit Rußland zu tun? Ist dieses komplexe und schwierige Problem nicht an den Haaren herbeigezogen worden? – Fräulein von Kammer hat uns gezeigt, was Deutschland war, und was es wieder werden könnte. Sie mußte das gegenwärtige Deutschland anklagen, da sie das Deutschland einer großen geistigen Vergangenheit und einer großen geistigen wie realen Zukunft feiern wollte.
Die Rednerin hat keinen Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß sie mit irgendeiner Diktatur sympathisiere. Welche aber wird sie am stärksten hassen? Diejenige, natürlich, die sie am besten kennt – und die ihr eigenes Volk, ihre Heimat erniedrigt. Es ist die Tyrannis im Herzen Europas – die Gefahr und die Schande der Welt; es ist der Nationalsozialismus!«
Nun war er es, der heftig atmete und die tief gerötete Stirne zeigte, wie vorhin der Jüngling mit dem adretten Scheitel. Der saß jetzt ziemlich kläglich in sich zusammengesunken.
Mrs. Piggins, auf dem Podium, raunte Marion ins Ohr:
»Einen besseren Advokaten hätten Sie gar nicht finden können! Professor Abel genießt hier das größte Ansehen. Sicher haben Sie schon von ihm gehört – Professor Benjamin Abel, aus Bonn …«