Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 27
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ОглавлениеDie Zimmer, in denen die Armen wohnen, sind sich ähnlich, überall auf der Welt. Wo befindet sich dieses? Am Rande irgendeiner großen Stadt – läßt sich vermuten. Genaueres ist kaum festzustellen. Die Landschaft, auf die das Fenster den Blick gewährt, ist kahl und fast völlig trostlos. Auf den öden Feldern liegt Nebel. Im grauen Dunst stehen ein paar frierende Bäume neben Telegraphenstangen. Im Zimmer drinnen sieht es nicht heiterer aus.
Ist sie uns nicht vertraut, diese mönchische Zelle? Das Kruzifix an der grauen Wand, das schmale Bett, und auf dem Tisch die unberührten Speisen – zu solcher Kargheit zwingt sich Kikjou, den wir einstmals als den kleinen Abenteurer kannten, als den sündhaft Reizbegnadeten, den von Lastern und Visionen Verzückten, das suspekte Lieblingskind Gottes. Noch einmal begegnen wir ihm – hat er sich sehr verändert? Das perlmutterfarbene Affengesichtchen mit den vielfarbigen Augen ist ein wenig gealtert; härter, magerer und strenger geworden. Doch bleibt ihm noch der infantile Charme, der sinnliche Zauber des Blicks.
Wo hast du dich denn herumgetrieben, all die Zeit, petit frère de Marcel, Bruder des toten Helden? Magst du uns nichts verraten? – Du verrätst uns nichts. Du schweigst über die Arbeiten und Abenteuer, die Vergnügungen und Traurigkeiten, die Erfahrungen bitterer oder süßer Art, die hinter dir liegen. Du hast dich unter die Menschen gemischt, hast Anteil genommen, Leiden mitangesehen und selber Leiden getragen – soviel merkt man dir an. Wo du auch gewesen sein magst – du bist dem Leben nicht ausgewichen; du hast dem Befehl gehorcht, den das sinkende Haupt, das dornengeschmückte, mit trocken-rissigen Lippen dir zurief.
Zuweilen legst du Rechenschaft ab vor deinem Erlöser, der geduldig lauscht – unfaßbar milde und unfaßbar streng. Er will die detaillierte Konfession, die exakte Beichte. Er ist anspruchsvoll. Ausflüchte, pathetische Verallgemeinerungen läßt er nicht gelten: das weißt du nun schon und hast dich daran gewöhnt. Deine Gebete werden beinah trocken. Du berichtest deinem Erlöser: Ich habe eine kleine Aktion vor, lieber Herr. Hältst du meinen Plan für gescheit und dem Zwecke dienlich? – Des Menschen Sohn interessiert sich für die Affären der Menschen, so melancholisch und konfus sie auch meistens sind.
Heute ist ein wichtiges Datum in Kikjous Leben. Morgen soll er eine große Reise antreten – die Fahrt nach Hause, nach Südamerika, zu seinen Schwestern nach Rio. Sein Papa ist gestorben: keine verdrossenen Briefe, keine gereizten Mahnungen sind von ihm mehr zu gewärtigen. Er ist tot, es war ein Magenkrebs, die Schwestern haben es Kikjou telegraphiert, und hinzugefügt: »Komme bitte sofort! Brauchen dich zur Abwicklung der Geschäfte, da sonst ohne männlichen Schutz.« Unverhoffte, etwas peinliche Ehre für den kleinen Kikjou: plötzlich soll er Familienoberhaupt sein. Seine Schwestern rechnen auf ihn, ohne ihn wären sie ganz verloren – ernste junge Mädchen, leider sind sie nicht hübsch, deshalb finden sie keinen Bräutigam. Bruder Kikjou soll die Geschäfte ordnen; soll mit Anwälten – wahrscheinlich üblen Schwindlern – um grünbespannte Tische sitzen; wird vielleicht etwas Geld haben, vielleicht auch nicht: sehr wohl möglich, daß Papa nur Schulden hinterlassen hat, man muß auf dergleichen gefaßt sein. In diesem Falle säße Kikjou da, mit den unversorgten Jungfern – wie kann er sie alle ernähren?
Es hat mancherlei zu besprechen und zu beraten gegeben mit dem strengen, milden Herrn, der geduldig lauscht. Zu allen übrigen Sorgen kam das Paßproblem: Kikjou, kleiner Kamerad der Heimatlosen, war nun seinerseits expatriiert. Solches geschah ihm zur Strafe, weil er in Spanien bei den Loyalisten gewesen war und sich so lange ferngehalten hatte von der Heimat. Sein Paß wurde nicht verlängert: Kikjou argwöhnte, daß sein eigener Vater die brasilianischen Konsulate in solchem Sinne beeinflußt hatte. Der grausame alte Herr – heftig deprimiert durch den Magenkrebs und die Ahnungen des nahen Endes – wollte den verlorenen Sohn durch so erpresserischen Trick zur Heimkehr zwingen. Nun mußte er wirklich nach Hause und fand sich in lästigen Komplikationen. ›Soll ich den gefälschten Paß benutzen? Es ist ja ein echter – nur ein paar kleine Ziffern hat man korrigiert … Was rätst du mir, lieber Herr?‹ – Die Emigrantenprobleme, die Sorgen der Vagabunden: Kikjou, der Wahlemigrant, der Vagabund aus Instinkt, erfuhr sie am eigenen Leibe.
›Nach Hause!‹ dachte er, ziemlich bitter. ›Nach Hause – wie seltsam es klingt! Was geht Rio de Janeiro mich an? Eine fremde Stadt. Was bedeuten mir meine Schwestern? Unbekannte Damen. Ich habe kein Zuhause. Zu lange habe ich mit denen gelebt, die heimatlos sind – ich gehöre zu ihnen, meine Brüder sind sie. Marcel, mon grand frère – hatte er eine Heimat? Il était sans patrie, ist unter fremden Himmeln gestorben. Martin, den ich geliebt habe, und seine Freunde und all die anderen, denen ich ein bißchen zu helfen versuchte – ach, mit was für matten, unzureichenden Kräften! – lauter Heimatlose … Was soll ich in Rio, bei den dummen Schwestern und den schlauen Anwälten? Aber es ist wohl meine Pflicht, ihnen zur Verfügung zu sein … Wie lange werde ich bleiben? Und was für Wanderschaften kommen dann?
In welchen Sprachen werde ich noch beten lernen? – Vorhin, als ich vor meinem Erlöser lag, habe ich ihn mit französischen, deutschen, englischen, spanischen und portugiesischen Vokabeln angerufen. Er hat sie alle verstanden. Des Menschen Sohn kennt die Sprachen der Menschen. Er ist kein Nationalist. Er hat keine Muttersprache, nur die Sprache des Vaters – die sich aus sehr mannigfachen Idiomen zusammensetzt. Unser internationales Kauderwelsch wird gnädig aufgenommen. Mein Gestammel könnte ein Gegenstand des Anstoßes und Skandals im Himmel sein; indessen herrscht dort größte Toleranz, was die Worte und Akzente betrifft. Die Taten und Gedanken aber werden streng gewogen.
Die stumme Toleranz der höchsten Sphäre ist tröstlich; jedoch würde man gern auch von den Lebenden etwas besser verstanden. Auf Erden nimmt die Unduldsamkeit gegenüber Ausländern erschreckend zu, überall ist sie im Steigen begriffen: Du weißt es, Menschensohn; mir liegt aber daran, es Dir wieder einmal recht nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen. Wir sind ziemlich einsam, lieber hoher Herr; in der Fremde weht kalte Luft, Freundschaften von Dauer gibt es kaum für die Unbehausten.
Einstmals ward ich hohen, sonderbaren Umgangs gewürdigt; das ist lange her. Deine Boten traten flügelrauschend ein. Seither ist es still um mich geworden; auch der Geruch von Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ward mir nicht mehr gegönnt. Ich konstatiere es, ohne mich zu beklagen. Habe ich etwa Anspruch auf den Verkehr mit Engeln? Keineswegs. Um es nur zu gestehen: sie fehlen mir nicht einmal. Die Beziehungen zu sterblichen Menschen sind abwechslungsreich und erregend genug. Auch habe ich ja reichlich zu tun. Als ich noch faul und ohne Pflichten war, eignete ich mich wohl besser zum Spiel- und Reisegefährten für die Himmlischen. Ich lechzte nach dem Wunder, weil ich sonst beinah sorgenlos war. Heute verhält sich das anders. Die Affäre, zum Beispiel, mit meinem Paß und die finanzielle Situation meiner Schwestern …‹
Auf welche Beschwörungsformel reagieren die Gottesboten? Auf welches Stichwort hin treten sie ein? Kikjou hatte kalte, nüchterne Gedanken gedacht; sein Interesse war aufs Nahe, Irdische konzentriert, und seine Feststellung, daß ihm die Engel kaum fehlten, war nicht schmeichelhaft gewesen für so stolze und empfindliche Kreaturen. ›Der Paß‹, dachte er. ›Das väterliche Erbe …‹
Da geschah es. Da vollzog es sich noch einmal.
Kikjou war kaum erschrocken; sogar das Erstaunen verbarg er – wenn er es empfand. Es war doch schon lange her, seit der Stürmisch-Geschwinde ihn heimgesucht und abgeholt hatte. Genügt eine einzige Begegnung mit den Himmlischen, um uns an den hohen, schauerlichen Umgang dergestalt zu gewöhnen, daß wir ihn wie das Selbstverständliche hinnehmen, wenn er sich wiederholt?
Kein Erschrecken, kein Aufschrei des Sterblichen: Kikjou reagierte so matt, daß es kränkend wirkte. Die Gefiederten sind es gewohnt, Sensation zu machen, wenn sie sichtbar zu werden geruhen. Sie erwarten, sehr mit Recht, den halb entzückten, halb entsetzten Empfang. Maria, die Unberührte, entsetzte und entzückte sich bis zu Tränen und zu krampfhaften Gelächtern über des Engels Besuch. Ihre Erregung überschritt jedes Maß und drohte, in Raserei auszuarten, als die große Meldung ausgerichtet wurde: Du bist auserkoren! Unter allen du! Du hast empfangen, bist gesegnet, und die Frucht wird ohnegleichen sein! – Wie jubelte und tobte, wie wimmerte und frohlockte da die erwählte Magd. – Dieser Knabe indessen – Kikjou, ein Verwöhnter, dem gar nichts mehr imponierte – er hob nur den Kopf, schaute hin, lächelte: Ach, da bist du wieder … als wäre es eine Selbstverständlichkeit. – Freilich: welch ein Lächeln! Wie schüchtern, bei aller Vertrautheit mit dem Phänomen! Wie innig werbend – wenngleich ein wenig blasiert. Bei aller Gefallsucht, aller Lässigkeit – wie erschüttert! Wie dankbar! – Er hatte ja gestanden: Ich bin recht allein. Gleich war die überirdische Visite da, von sanftem Licht umflossen, höchst freundlich.
Kikjou freute sich sehr; wollte es aber nicht zugeben, sondern erkundigte sich, beinah mißtrauisch: »Bist du der, den ich kenne? Warst du schon bei mir? Hast du mich schon mal entführt?«
Der Gesandte versetzte: »Ich entführe niemanden. Im Gegenteil: meines Amtes ist es, solche zu begleiten, die sich ohnedies schon rastlos unterwegs befinden. – Ich bin der Engel der Heimatlosen.« Dies erklärte er mit einer gewissen Strenge, als nähme er es Kikjou übel, daß er es nicht gleich erraten hatte.
»Du siehst aber deinem Bruder, dem Geschwinden, sehr ähnlich.« Kikjou bestand darauf. Er fügte, leicht verächtlich, hinzu: »Nur bist du weniger stattlich. Wahrscheinlich auch weniger schnell.«
»Schnell genug«, sagte der Engel; aber seine Stimme klang müde. Er sah mitgenommen aus, beinah schäbig. Sein langer schwarzer Mantel war ramponiert und stellenweise zerrissen. Selbst die Flügel – kurze harte Federngewächse, die ihm ziemlich tief am Rücken saßen – wirkten zerzaust. Auf dem Kopfe saß ihm ein bestaubter kleiner Hut, eine sogenannte Melone, wie viele Herren sie zum Straßenanzug tragen. Unter dem Hutrand strahlten überirdisch die Augen.
Ein unscheinbarer Engel – Kikjou stellte es nicht ohne Enttäuschung fest. Trotzdem war die Ähnlichkeit mit jenem anderen, der ihn vor langer Zeit in Schnee und Sturm gerissen hatte, auf geheimnisvolle Art frappant. Kikjou ward den Verdacht nicht los, daß es sich – wenngleich auf etwas verwirrende Art – um den gleichen Engel handelte. Aus irgendwelchen mysteriösen Gründen leugnete der neue Besucher seine Identität mit dem vorigen. Wer aber kannte sich aus mit den Identitäten der Engel?
»Der Engel der Heimatlosen – das bin ich!« rief der ramponierte Sohn des Paradieses noch einmal – diesmal stolz, beinah heftig. Die metallisch klirrende Stimme, die königliche Ungeduld des Blickes ließen den ruhenden Knaben denn doch auffahren und eine höflichere Haltung annehmen.
»Obwohl ich eigentlich nicht ganz zu den Emigranten gehöre, empfinde ich mich doch durchaus als einen aus ihrem Kreise.« Es klang etwas heuchlerisch; die Absicht, sich einzuschmeicheln, war deutlich. Der Engel, ganz entschieden verstimmt, hielt sich starr. Kikjou versöhnte und gewann ihn nicht mit Worten, sondern durch seine hilflosen kleinen Gesten, durch das Lächeln, welches rührend um Verzeihung bat.
Die Himmelsblicke unter dem bestaubten Hutrand – eben noch furchtbar lodernd – wurden mild. Trost strömte aus ihnen, wie Wasser aus einer Quelle. Auch die Stimme bekam sanfteste Melodie.
»Du bist einer von ihnen, ich weiß es – deshalb bin ich hier. Auch bei deinen Brüdern bin ich gewesen, zum Beispiel bei Martin, als er den Tod empfing wie eine Krone. Ich war immer dabei. Es hat mich keiner gesehen.«
Da wagte Kikjou die Frage: »Wenn du so genau Bescheid weißt, soviel Elend kennst und immer neues mitansiehst – warum hilfst du nicht, Engel? Warum hilfst du nicht?«
Der Von-oben-Gesandte – mit der hochmütigen, sogar etwas unvernünftigen Manier der Himmlischen – blieb die Antwort schuldig, so wie viele Frauen verstummen oder das Thema wechseln, wenn man sie mit lästigen Fragen behelligt. Statt zu antworten, rief er mit herrlich singender Stimme, trostlos und begeistert zugleich:
»Unter fremden Himmeln werden die Schicksale durchlitten, die ich begleite. Auf vielen Wegen lag der sanfte Schatten meines Kleides.« Er raffte den Mantel mit schöner Geste – siehe, er war nicht mehr abgenutzt, schadhaft und dünn; sein Stoff schien sowohl weicher als auch stärker geworden, und übrigens hatte er die Farbe gewechselt. Nun leuchtete er in köstlich sattem Blau – ein ritterlicher Mantel, ein fürstlich-feines Kostüm; auch der garstige Herrenhut hatte sich zauberisch verschönt. – Mit einem düsteren Frohlocken und tragischem Übermut fuhr der Strahlende fort:
»Überall – wahrlich, an allen Orten – bin ich gewesen! In engen Hotelzimmern, Schiffskabinen Dritter Klasse, in den Warteräumen der Konsulate, den Vorzimmern der Comités, in billigen möblierten Stuben, in Hospitälern, in den Friedhöfen vieler Städte, in Eisenbahncoupés ohne Zahl, auf Schlachtfeldern, auf Bahnsteigen, in vegetarischen Restaurants, in Redaktionsstuben, billigen Kaffeehäusern, in obskuren Klubs, in Lagern, wo sie leben müssen – zusammengepfercht wie das Vieh – überall mein Blick, mein Lächeln, mein stummer Trost …«
»Warum hast du nicht geholfen?« – Diesmal war Kikjous Frage mit zuviel Nachdruck gestellt, es gab kein Ausweichen mehr, der Engel mußte gestehen: »Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Und ich wollte nicht. Die Pläne meines Gebieters sind dunkel. – Dunkel – dunkel – dunkel …« wiederholte er schaurig. Sein Gewand war wieder schwarz geworden, auf dem Hute lag wieder Staub. Wie kurz, wie trügerisch war der Glanz dieses Engels gewesen!
»Soll es noch lange dauern?!« – Kikjou hatte diesen Aufschrei nicht unterdrücken können. Der Engel aber machte Schritte, die sowohl schwebend als auch schleppend waren, auf und ab, durchs Zimmer. Dabei berichtete er, nicht ohne Wohlgefallen:
»Viele Tränen habe ich fließen sehen – und manche, die ich beobachten mußte, konnten nicht einmal weinen. Ich habe den Gestank der Armut gerochen, und in den Ohren das gellende Gelächter jener gehabt, die in den Wahnsinn fliehen. Das Exil kreiert neue Krankheiten; nicht nur das Herz – auch der Verstand der Heimatlosen ist erheblich gefährdet! – Ich bin der Engel der Entwurzelungsneurose!« Dies konstatierte er – als wäre es ihm besonders wichtig – mit Triumph und Traurigkeit ohnegleichen; wallte dabei durchs Zimmer, rauschend, sich düster spreizend, unermüdlich, immer auf und ab – zu schrecklichen Märschen verflucht; zum Gehen, Schweben, Steigen verurteilt durch unbarmherzigen Spruch. Seine Rhapsodie hallte weiter: »Ich sehe den Kampf – er geht um Leben und Tod, keiner meiner Schützlinge darf ihm ausweichen. Ich sehe den Selbstmord, den Ruin, das Laster, die Niedertracht als Konsequenz des Elends; ich sehe die Häßlichkeit in tausend Formen und die blühende Unschuld, die erst allmählich entstellt wird vom Leid; das kurze Glück – seinen zögernden Anfang, sein rapides Ende – die Bemühungen, die Enttäuschungen, die Entbehrungen ohne Ende – ich sehe, ich sehe! Was habe ich nicht alles gesehen! Meine Augen sind nur noch Schmerz, soviel Schmerzen haben sie angeschaut …«
Er berührte seine Augen mit den Fingerspitzen: da wurden sie blind. Gerade hatten sie noch geleuchtet, jetzt waren sie leere Höhlen, schwarz und tot – ach, wohin der Schimmer? Die himmlischen Lichter – wohin?
»Elend – Elend, über alles Maß …« War dies Jammerruf oder Lobgesang? – Der Knabe auf seinem Lager begriff: Die Engel – Teil von Gottes Substanz – huldigen dem Herrn, auch wenn sie klagen. Dies faßt kein Sterblicher. Kikjou keuchte:
»Wie lange noch? Und was ist der Sinn?«
Der Engel – das Gesicht mit den toten Augen zur Maske erstarrt und verzerrt – schwebte und tänzelte vor dem Bett. »Frage nur! Frage!« Es klang höhnisch. »Aber wünsche dir keine Antwort – die dich zermalmen müßte. Zerschmettert wärest du, wenn die Antwort käme! Du Narr! Du Sterblicher! Du Ahnungsloser!« Dazu ein Lachen – wie aus Höllenschlünden.
Kikjou – außer sich; alle Vorsicht vergessend; aus dem Bette springend – schrie ihn an: »Verfluchter!!« – und war auf das Schlimmste gefaßt. Ein Engel, der so infernalisch gemeckert hatte, konnte auch Feuer speien, ihm war schlechthin alles zuzutrauen.
Der Bote, statt zu toben, reagierte sanft. Er bekam wieder lebendige Augen – menschlich-übermenschliche Sterne – und sie glänzten feucht. Tränen hingen an den schön gebogenen Wimpern. Aus dem Dunkel des Mantels traten, blaß und schmal, die Hände hervor. Ihre Gesten flehten um Verzeihung, wie die sanften Blicke.
»Nenn mich nicht so!« bat er innig, die beseelten Augen rührend aufgeschlagen. »Ich begreife, daß du dich fürchtest vor mir und sogar etwas ekelst. War ich vorhin sehr häßlich und abscheulich? Das passiert mir manchmal. Ich komme zu oft und nah an Widriges heran: es wirkt ansteckend. Manchmal packt es mich, und ich muß selber gräßlich werden – es ist wie ein Anfall – sehr quälend; dauert aber nicht lang. Gerade dir gegenüber ist es mir unangenehm.« Der Engel machte eine wirkungsvolle Pause, ehe er mit feierlichem Nachdruck sagte: »Nicht um dich zu verfluchen, bin ich zu dir gekommen.«
»Warum bist du hier?« wollte Kikjou wissen. Er stand mit bloßen Füßen auf dem Steinboden. Er fror.
»Um dich zu küssen. Um dich zu segnen.« – Dies war nicht die Stimme eines einzelnen mehr; wie Chorgesang hallte es durch den Raum. Sehr viele Engel – die Heerscharen allesamt – schienen ihrem ramponierten Bruder Gewalt und Süßigkeit ihrer Kehlen zu leihen: das wundersam geübte Ensemble der Cherubim ließ sich hören.
Der Knabe schluchzte. Da er außerdem fror, wurde er besonders heftig geschüttelt. »Warum gerade mich?« fragte er, bitterlich weinend. »Warum sind Kuß und Segen mir zugedacht – unter allen Brüdern und Kameraden gerade mir?« – Er hatte Angst vor der hohen Gunstbezeugung. Er fürchtete sich. Er war schwach. Dies verriet er, da er sich nun in einen Winkel zurückzog und flehte: »Bitte nicht …!«
Der Engel, unbarmherzig und hold, folgte ihm, schwebenden, schleppenden Ganges. Er hatte sich schon wieder verändert – er war ein Verwandlungskünstler; liebte die überraschenden Tricks. Sein Reisekostüm leuchtete silbrig-weiß, die Flügel waren länger geworden, sie strahlten, sogar der runde Hut hatte Glanz: er löste sich in hellen Nebel auf, ohne dabei völlig die Façon zu verlieren. – »Fürchte dich nicht!« verlangte der Leuchtende. – Er hatte Kikjou gänzlich in die Ecke gedrängt. Der Weg war dem Kleinen verstellt. Vor dieser Umarmung gab es kein Entweichen.
Lieblich und majestätisch stand der Himmlische aufgerichtet, das Gesicht beinah nur noch Glanz: Glanz das Haar, das unter dem Nebelhute sichtbar ward; Glanz – der Mund, die Stirn, die tänzelnden Füße, die bewegten Hände. Die Augen – sie allein – blieben fest umrissen, bei all der strahlenden Auflösung. Aus ihnen floß Mitleid, ungeheuer stark; Erbarmen, mächtig wie eine Flamme; Trost, der nicht nur lindert, sondern auch fordert und alarmiert.
Die Augen des Engels verlangten viel von diesem Sterblichen. Der senkte das Haupt. Er empfing den Blick – höchste Gunst; strengstes Urteil. – »Fürchte dich nicht!« rief die Stimme, die von oben kam – und doch stand der Bote noch auf unserer Erde.
Er bückte sich ein wenig; denn er war viel größer als der Mensch, den er küssen wollte. Der Kuß war eisig – Hauch aus Sphären, die kein Strahl erwärmt. Kikjou zitterte stärker, hielt sich indessen aufrecht, in lobenswert tapferer Haltung. Er hatte den Blick ausgehalten; so mußte auch der Kuß sich ertragen lassen. Nur schien es ihm ratsam, seinerseits die Augen zu schließen, damit er das eisige und feurige, zugleich zerfließende und steinern geprägte Gesicht nicht gar zu sehr aus der Nähe sähe.
Es verging eine kleine Weile, vielleicht war es auch eine lange Zeit, Kikjou stand wie im Schlaf, er machte die Augen nicht auf. Endlich sagte er – fast zu seiner eigenen Überraschung: »Jetzt werde ich es vielleicht schaffen.«
»Was?« fragte der Engel. Er hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; die Stimme kam nicht mehr aus so drohend-zärtlicher Nähe.
»Nicht heute oder morgen …« Kikjou redete wie zu sich selber, als wäre kein Engel da. »Aber irgendwann. Mit der Zeit. Ich werde es sicher schaffen.«
»Sprichst du von deinem Buch?« Der Engel wußte Bescheid; seine Frage vorhin war rein rhetorisch gewesen.
»Ursprünglich ist es Martins Buch gewesen«, erläuterte Kikjou. »Aber er hat es nur bis zum Vorwort gebracht, und ein paar Notizen sind da, ich habe alles bewahrt. Auch Marcel hat es schreiben wollen oder hat es zu Teilen geschrieben. Alles, was er hinterlassen hat, sind Bruchstücke unseres Buches. – Darf ich es vollenden?« Die Frage war dringlich; umso enttäuschender die etwas spöttische Gegenfrage des Engels: »In welcher Sprache willst du es denn schreiben?«
Kikjou war ein bißchen beleidigt. »Darauf kommt es doch gar nicht an. Ich kann alle Sprachen. Aber es ist so schwer, die Wahrheit festzuhalten – in welcher Sprache auch immer. Die Wahrheit ist so ungeheuer kompliziert, so traurig und so schockierend. Ich fürchte mich vor der großen Arbeit …«
»Fürchte dich nicht!« Die Stimme kam nicht mehr von oben und hatte menschliches Maß. Gerade deshalb wirkte sie tröstlich – Zuruf eines guten Kameraden.
Kikjou gestand: »Ich wundere mich selber über meine Courage. Du mußt mich für sehr ehrgeizig und eitel halten. Habe ich überhaupt Talent? Das ist noch lang nicht bewiesen; die paar Schreibübungen während der letzten Jahre rechnen kaum. Und nun will ich mich an eine so große Sache wagen …«
»Es soll ein Roman werden?« Der Engel erkundigte sich mißtrauisch, wie ein Verleger, dem ein unberühmter junger Autor Vorschläge macht.
»Eine Chronik«, versetzte Kikjou, schüchtern und stolz. »Die genaue Chronik unserer Verwirrungen, Leiden, auch der Hoffnungen. Ich habe viel Material«, behauptete er hoffnungsvoll. »Es müßte ein ziemlich langes Buch werden, vieles ist einzubeziehen, eine Menge von Themen machen die Symphonie. Ich darf nichts vereinfachen, auch nichts weglassen; umständlich und aufrichtig muß ich sein. – Wenn es aber langweilig würde? Das wäre grauenhaft! Vielleicht sind Bücher nicht mehr zeitgemäß? In den meisten Ländern werden sie verboten – und wo sie noch erlaubt sind, machen sie kein besonderes Aufsehen. Die Leute gehen lieber ins Kino. – Mein Gott!« Kikjou war tief erschrocken. »Sind alle Bücher langweilig?«
»Es gibt immerhin Unterschiede!« bemerkte der Engel, mit mattem Trost.
Kikjou war gleich wieder zuversichtlich, wenngleich immer noch von Zweifeln geplagt. »Mein Roman muß aber doch zu den interessanteren gehören!« rief er flehend. »Bei all dem Material, das ich habe …«
Der Engel, mit einem Achselzucken: »Es wird eben ein Roman – gesetzt, du hast überhaupt die Kraft, ihn zu schreiben. Die Welt wirst du nicht mit ihm auf den Kopf stellen.«
»Aber es muß doch alles festgehalten werden! Man vergißt doch so schrecklich schnell!« Nun lief Kikjou durchs Zimmer, aufgeregt wie alle Autoren, wenn von ihren literarischen Projekten die Rede ist. »Sogar wenn heute wenig Interesse da sein sollte – die Nachwelt will doch Dokumente, Rechenschaft. Sie verlangt unsere Beichte …«
»Eure Beichte!« Der Engel lachte; wurde dann umso ernster. »Die ist an anderer Stelle verwahrt.«
Nun war Kikjou wirklich sehr verletzt, er schmollte. »Du bist der erste, dem ich von meinem Vorhaben rede – bis jetzt habe ich mir’s ja selber kaum eingestanden. Nicht einmal dem Erlöser, der von mir alles weiß, habe ich Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Dir eröffne ich alles – und du weißt dir nichts Besseres, als mich mutlos zu machen.«
»Dich mutlos machen?« Der Engel wiederholte es mit sanftem Vorwurf. »Wer hat dir denn den Mut zu deinem Plan gegeben? Seit wann hast du ihn denn?«
Kikjou mußte gestehen: »In etwas präziserer Form – erst seit einer halben Stunde.«
»Erst seitdem ich dich geküßt habe«, stellte der Engel fest.
»So willst du, daß ich das lange Buch schreibe?« Kikjou war wieder froh; wollte aber noch wissen: »Warum tust du dann so skeptische Äußerungen?«
»Weil du ehrgeizig und eitel bist«, sprach der Engel.
Der Junge verstummte erschreckt. Dann suchte er sich zu verteidigen. »Aber nein! Glaube das bitte nicht! Ich gebe mir doch alle Mühe, bescheiden zu sein … Ein bißchen eitel ist wohl jeder Mensch. Und wie sollte man ohne Ehrgeiz etwas Großes beginnen …? Meine Stimme soll die Stimme meiner Brüder sein – der lebenden wie der toten – nach Diktat will ich sprechen. Martin und Marcel sind verstummt, unter fremden Himmeln. Sie hätten soviel zu sagen gehabt, alle zwei – du hast sie ja gekannt – aber gerade den Besten verschlägt es heute die Sprache, mit Entsetzen schließen sie den Mund. Manche Ereignisse und Zustände sind von solcher Art, daß die Worte fehlen, um sie zu bezeichnen.« Hier nickte der Engel, der Erfahrung hatte, was die unbenennbaren Ereignisse und Zustände betraf. Kikjou wurde lebhafter, ermutigt durch die freundliche kleine Geste.
»Die Ereignisse und Zustände sollen verändert werden; darauf kommt alles an.« Er wartete auf ein neues Zeichen der Bestätigung; der Engel lauschte und schwieg. »Wie soll man sie verändern«, fuhr Kikjou fort, »wenn man nicht einmal wagt, sie zu benennen? – Ich wage es!« rief er ungestüm und warf kühne Blicke. »Das Verwirrte übersichtlich zu machen; den Schmerz zu lindern, indem man ihn analysiert – welche Aufgabe! Welches Abenteuer! Viel schwieriger und viel schöner, als einen neuen Apparat zu konstruieren, einen Ozean zu überfliegen, eine Schlacht zu gewinnen!«
»Du sollst eine Schlacht gewinnen!« Der Engel, der solches verlangte, sah seinerseits kriegerisch aus. Er gönnte sich noch eine Verwandlung – gewissen Monarchen oder hohen Würdenträgern ähnlich, die zu jeder repräsentativen Gelegenheit das passende und pittoreske Kostüm wählen. Diesmal stilisierte er seine Erscheinung ins Militärische. Aus dem runden Hut ward ein Helm, das weite Reisekleid bekam straffe Linien – es glich nicht einer modernen Uniform, eher dem Gewand eines antiken Soldaten; selbst die Flügel sahen jetzt wie Waffen aus, mit feurigen, harten Rändern, die an den Spitzen gefährliche kleine Dolche zu formen schienen. Auch das Antlitz hatte militante Züge, und der Ruf kam knapp und hart wie ein Befehl.
»Das Wort ist, immer noch, eine gute Waffe! Es muß gar nicht langweilig sein, wenn es trifft und sitzt. Übe dich! Lerne fechten! Wir lieben die guten Fechter!«
Es war ein Kommando, scharf, aber enthusiastisch. Kikjou versprach begeistert: »Ich werde mir Mühe geben – du kannst dich darauf verlassen! Natürlich darf ich nichts überstürzen; es gibt noch eine Menge vorbereitender Arbeit zu tun. Wieviel Studien sind nötig! Wieviel Notizen, wieviel Material! Ich werde beobachten, sammeln, eins zum anderen legen. Und wenn die Kraft mir ausgeht, werden die toten Brüder mir ein wenig soufflieren: die lieben Toten flüstern mir die Worte zu, die sie verschwiegen haben. Mit unsichtbaren Händen führen sie mir die Feder, wenn meine eigenen Finger ermatten … Ich schreibe den Roman der Heimatlosen!« Er rief es freudig erregt, als hätte er sich erst eben entschlossen.
»Meine Glückwünsche.« – Es fiel Kikjou auf, wie erschöpft die Stimme seines Gastes klang. Er stand an der Türe, zum Gehen bereit und wieder in der bescheidenen Gestalt, die er zuerst präsentiert hatte. Irdischer Staub lag auf dem dunklen Stoff von Wanderkleid und Kopfbedeckung. Die schräge Haltung der Schultern verriet Müdigkeit; indessen waren Füße und Hände nervös bewegt. So empfiehlt sich einer, der lange Wege hinter sich hat und dem noch erhebliche Strapazen bevorstehen. – »Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten.« Er schwebte ein wenig empor, gleichsam um zu probieren, ob er es nicht verlernt habe. »Der Dienst ruft.« Er lächelte überanstrengt, wobei er träge durch die Luft spazierte.
Kikjou war neugierig. »Was hast du denn noch zu tun?«
»Mancherlei …« Der runde Hut drückte sich platt an der Zimmerdecke; der Engel war so weit wie möglich nach oben geschwebt. »Laß einmal sehen … Wir haben heute den 14. September 1938. – Noch mehreres zu erledigen. Das Tagesprogramm ist noch nicht erfüllt.«
»Du sammelst Material – wie ich?« erkundigte sich Kikjou, mit kollegialer Vertraulichkeit.
Der Engel, an der Decke, schwieg eine Weile, ehe er, melancholisch und zerstreut, konstatierte: »Wunder kann ich nicht tun. Ich habe meine Instruktionen und Kompetenzen, die keinesfalls zu überschreiten sind.« – »Immerhin bist du mächtig, im Vergleich mit mir«, meinte Kikjou, der das große Buch schreiben wollte. »Ich kann beobachten, kann mit den anderen leiden; helfen kann ich nur in den seltensten Fällen. Du hingegen bringst Trost, schon durch deine Gegenwart – wenn du nicht gerade deinen kleinen Häßlichkeitsanfall hast … Ich beneide dich.«
Der Engel der Heimatlosen antwortete mit einem Blick voll großer Traurigkeit. Plötzlich aber klapperte er animiert mit den Flügeln: ihm war ein Einfall gekommen. »Du könntest mich auf meiner Tour begleiten!« schlug er munter vor.
»Jetzt? Sofort?« – Kikjou war beklommen, weil er an die schauerliche Fahrt durch Schnee und Sturm dachte. Stand schon wieder etwas dieser Art bevor?
Der Engel – gar nicht drohend, wie sein geschwinder Kollege es gewesen war; vielmehr eher flott, bei aller Erschöpftheit – lachte: »Natürlich! Ich habe keine Zeit zu verlieren!«
»Wohin denn?« – Kikjou blieb mißtrauisch.
»Hierhin und dorthin!« erklärte der fröhliche Wanderengel. »Du wirst vielleicht ein paar alte Freunde wiedersehen oder neue Bekanntschaften machen – das ist immer interessant, besonders für einen Schriftsteller.« – »Ich bin doch noch gar keiner!« wandte der Junge ein. Der Engel – fast übermütig – drohte mit dem Finger: »Du wirst auch nie einer werden, wenn du jedem Abenteuer ausweichst!« Sein Entschluß, den Dienstflug nicht allein zu machen, hatte ihm die Laune erheblich verbessert. Er wiegte sich behaglich an der Zimmerdecke. »Wir werden es uns bequem machen.« – Das war ermutigend. Kikjou fragte: »Keine Raserei durch die Nacht? Kein Gebraus und Gesaus, daß einem die Sinne vergehen?« – »Keine Spur!« Wie sanft und singend die Engelsstimme nun klang! Sie wurde magisch einschläfernd, als sie wiederholte: »Keine Spur …«
Dabei hob er die Hand. Er winkte, er gab das Zeichen – da füllte sich der Raum mit silbergrauem Nebel. »Wir machen es uns bequem … Sind ja zwei alte Reisende. Beide etwas ausgepumpt, von den vielen Fahrten …« – Er ruhte im Silbernebel wie auf weichem Kissen. Auch Kikjou fühlte sich sehr angenehm gebettet.
Die weiche Wolke trug ihn sanft empor. Welch komfortables Wunder! Der Engel der Heimatlosen zog den jungen Menschen an sich. »Wie gut«, hauchte er noch, »einmal nicht alleine unterwegs zu sein …«
Die Wolke, dunkler geworden, schaukelte leicht. Kikjou sah nichts mehr – nur noch die milden Strahlenaugen seines Begleiters. War die zauberische Reise kurz oder war sie lang? – Weder kurz noch lang. Die Dimension der Zeit galt nicht mehr, da die Dimension des Raumes überwunden war. Sind Engel gebunden an die Vorstellungsformen plumper menschlicher Hirne? Ach – in der silbrig-dunklen Wolke, die sie uns entführt, haben die Kategorien unseres Denkens keine Gültigkeit. Auch der kleine Sterbliche ist von ihnen befreit – solange ihn der Engel mit brüderlicher Zärtlichkeit umarmt. Ausflüge so extravaganter Sorte distanzieren ein Menschenkind auf bedenkliche Art von Brüdern und Schwestern, die dergleichen nie mitgemacht – der Engel sollte es wissen. Weiß er es? Ist es seine pädagogische Absicht, den jungen Romancier dahin zu belehren, daß man zugleich distanziert und ergriffen sein muß – wenn man schreiben will? – Kikjou sollte noch so vieles lernen, ehe er sein großes Buch beginnt! Man muß geflogen sein mit den Engeln, man muß mit den Armen gehungert haben – wenn man Bücher über Menschen schreiben will. Welch ein Wagnis: über Menschen irgend etwas auszusagen! Ihr unsagbares Gefühl zu formulieren – welches Risiko! Taktlosigkeiten, Irrtümer, nichtssagende Verallgemeinerungen werden fast unvermeidbar; es geht um das Heikelste, um das Verworrene, das Unergründliche – man ergründet es nie, man ahnt nur etwas vom Grund – ganz entschieden, ehrgeiziger kleiner Kikjou, du mußt noch durch mehrere Erfahrungen gehen, ehe du zur Feder greifst. Jetzt fliegst du mit dem Engel – wir wünschen dir glückliche Fahrt! Der Dämon der Entwurzelungsneurose, der Schutzpatron der Expatriierten, der Tröster, der Spötter, der Fluchspendende, der Segenspendende – er hat dich geküßt. Das gibt dir einen Vorsprung vor den Konkurrenten. Du bist vielfach ausgezeichnet worden, man hat dich angeblickt – unfaßbar milde und unfaßbar streng – man hat viele schöne oder entsetzliche Worte an dich gerichtet; jetzt eben sind es sanfte Worte, die du hörst.
»Zuerst zeige ich dir das Beste!« sagte der Engel – da waren sie schon am Ziel, schon unsichtbare Gäste in einem Haus – bescheidene Villa; aber sauber und gemütlich, »Colonial Style«: man befand sich im südlichen Teil der Vereinigten Staaten; Kikjou wußte es, ohne vom Engel unterrichtet worden zu sein. – ›Hier also lebt Marion!‹ dachte er. ›Sie hat mir ihre Adresse nicht geschrieben; man muß sich ja mit den Engeln verbünden, um sie aufzufinden …‹
Er sah Marion, sie saß an einer Wiege, er sah einen fremden Mann – gedrungene Gestalt; das rundliche Gesicht von den Augen beherrscht – wer war es denn? Der Engel belehrte ihn: »Professor Benjamin Abel, ein famoser Kerl.« – Kikjou sah Marion an; seinem Begleiter indessen schien es mehr auf das Kind anzukommen; schon näherte er sich, schwebenden und schleppenden Ganges, der Wiege. Das Kind schrie, Marion sagte: »Man sollte das Radio abstellen, Marcel kann nicht schlafen.« – »Es ist aber gerade so interessant«, sagte Benjamin. »Chamberlain will nach Berchtesgaden fliegen.« – Marion, während sie mit der Fußspitze leicht die Wiege schaukelte: »Das bedeutet wohl, daß der Krieg etwas verschoben werden soll. Kleine Verzögerung der anberaumten Apokalypse …« – »Ich werde nicht mehr klug aus der englischen Politik«, sagte Professor Abel und stellte den Apparat ab. Marion lachte leise. »Als wir Kinder waren, fragte Mama uns manchmal: Bist du dumm oder bist du bös? Das möchte ich von den britischen Ministern manchmal auch gern wissen …« – Sie ließ ihre Augen nicht vom Kind, während sie sprach. »Was hat der Kleine denn heute abend? Er hört gar nicht auf zu weinen. – Du wirst mir doch nicht krank?« – Sie redete über die Wiege geneigt.
Kikjou rief Marions Namen, sie drehte sich gar nicht um, er hatte keine Stimme: wer unsichtbar ist, wird auch stumm. Er war eifersüchtig auf Professor Abel, er haßte ihn, weil er zu Marion sprechen durfte, und weil die Worte, die er sprach, ihr verständlich wurden. – War Marion glücklich? Jedenfalls schien sie stiller, weniger nervös als in den alten Pariser Tagen. Ihre Hände ruhten auf dem Rand der Wiege; früher hatte man sie fast stets in zuckender Bewegung gesehen. Kikjou fand in ihrem Blick eine ernste Heiterkeit. ›Es muß schön sein, ein Kind zu haben‹, dachte Kikjou – petit camérade des anges …
Da erschauerte Marion: der Engel der Heimatlosen war zu ihr getreten. Sie sah ihn nicht – unsichtbar: sein bestaubter Hut, das ramponierte Kostüm; unsichtbar der müde Mund, der gnadenvolle Blick. Sie spürte jedoch seine Nähe. Sie fürchtete sich.
»Ich fürchte mich«, gestand sie ihrem Benjamin. »Vielleicht wird doch Krieg kommen; es sieht alles so beunruhigend aus. Oder ein Frieden, der noch schlimmer ist als Krieg. – Und das Kind hört nicht auf zu schreien!« rief sie gequält.
Sie war es – die junge Mutter – die schrie; das Kind lächelte schon. Die Nähe des Engels war ihm angenehm; der kleine Marcel war erst vier Wochen alt und dem Paradiese noch nicht fremd geworden. Er lachte, der kleine Marcel; er strampelte, er bewegte lachend die Fäustchen. Mit großer Vergnügtheit empfing er Blick und Kuß des Boten. Der Engel der Heimatlosen segnete und küßte Marions Kind.
»Ist er nicht goldig!« rief entzückt Vater Abel. Er war goldig, Marion bestätigte es. Er wird die Augen bekommen, um derentwillen Marion zwei Menschen geliebt hat: Tullio und Marcel.
Welch ein schönes Baby! Sein Gesicht war nicht rot und faltig; vielmehr glatt, von fester Substanz und angenehm bräunlicher Farbe. Es hatte schon Augenbrauen – die junge Mutter kannte ihre Linie, die kühnen, tragischen Bögen …
»Ich bin stolz auf das Kind«, sagte Vater Abel mit feuchtem Blick.
Und die Mutter – unendlich zärtlich, sorgenvoll und stolz: »Was ist ihm bestimmt? – Was ist dir bestimmt, kleiner Marcel?«
»Ich weiß es«, sagte der Engel der Heimatlosen – ziemlich laut, aber unhörbar. – Er hatte das Kind geküßt; dies war erledigt, anderes blieb zu tun; »wir müssen weiter!« raunte er Kikjou zu. Der Sterbliche flüsterte: »Bitte nicht!« Er wollte so gern noch ein wenig bleiben; es gefiel ihm so gut hier, das Kind war reizend, für Marion hatte er immer starke Sympathie gehabt – und wäre es nicht interessant gewesen, den Professor ein bißchen näher kennenzulernen? – »Nur noch ein paar Minuten!« bettelte Kikjou. Der Engel aber war unbarmherzig, wie alle pflichtgetreuen Beamten. Schon beschwor er, mit zwei erhobenen Fingern, die Silberwolke. – »Was wird aus dem Kind?« fragte Kikjou noch, ehe er eingehüllt und fortgetragen ward. »Sage mir’s! Ich muß es wissen!!«
Der Engel antwortete nicht. Sein Blick, mitleidsvoll und streng, umfing noch einmal die Gruppe: den Vater, die Mutter, die Wiege mit dem Neugeborenen – drei Menschen. – »Komm!« forderte der Engel der Heimatlosen. Dies galt Kikjou und ward schon aus der Wolke gesprochen.
Aufstieg; Entrückung – mit leichtem Schaukeln; komfortables Wunder; magische Verwandlung. Paris, Ecke Boulevard St.-Germain – Rue des Saints-Pères. Ein kleines Restaurant – Kikjou hatte häufig hier gegessen. »In dieser Ecke saß ich immer – mit Martin!« Er flüsterte es dem Engel zu – der es schon gewußt hatte und schweigend nickte.
Das Lokal war voll; übrigens schien das Publikum aufgeregt und nervös. Man besprach die Ereignisse des Tages; erwog auch, was die Zukunft bringen mochte. »Gibt es Krieg?« – »Natürlich! Es wird ja schon mobilisiert!« – »Aber Chamberlain ist nach Berchtesgaden geflogen!« – »Er ist noch in London, vielleicht wird Hitler ihn nicht empfangen …« – »Lohnt es sich, Krieg zu machen, für diese Sudetendeutschen, die niemand kennt?« – »Les Tchèques c’est pour moi quelque chose comme les Chinois …« – »Die Tschechoslowakei ist unser Bundesgenosse und eine gute Demokratie …« – »Monsieur Benesch ist Jude, deshalb mag er den Führer nicht …« – »Monsieur Benesch soll ein sehr kultivierter, feiner Mann sein …« – »L’honneur de la France …« – »Les avions Allemands …« – »Les sales Tchèques …« – »Les sales Boches …« – »Les sales Juifs …« – »Nous autres Français …« – »Je suis pacifiste …« – »J’admire Monsieur Chamberlain …« – »Après tout, Hitler, lui aussi, est un type épouvantable …«
Da entdeckte Kikjou seinen Freund David Deutsch, er saß mit zwei älteren Herren, alle drei waren schweigsam, die Kellnerin stellte gerade Teller und eine Flasche Rotwein vor sie hin. Einer von den Männern hatte einen prachtvollen schwarzen Vollbart – steif und hart, wie ein Brett aus Ebenholz. Er studierte eine Zeitung, die in hebräischen Lettern gedruckt war. »Es ist ein Rabbi«, erklärte der Engel, »sehr gelehrt und fromm. In Krakau geboren, 1886; lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Paris.« – »Und der andere?« wollte Kikjou wissen. Er ward unterrichtet: es war ein väterlicher Freund von David Deutsch, Herr Nathan. Er hat das Umschulungslager für jüdische Intellektuelle in Skandinavien organisiert – höchst verdienstvollerweise. David wollte sich als Schreiner ausbilden lassen; hat sich auch sehr geplagt; brach aber bald zusammen: die Kräfte reichten nicht aus. Herr Nathan riet ihm, er solle Uhrmacher werden: dazu braucht man mehr Intelligenz und weniger Muskeln als zur Schreinerei. Jetzt kann David Uhren auseinandernehmen und zusammensetzen – eine heikle Kunst. Er hat eine Stellung in den französischen Kolonien bekommen, durch gütige Vermittlung des Rabbi mit dem schönen schwarzen Bart. Morgen geht das Schiff nach Marseille, jetzt feiern sie Abschied, Herr Nathan hat seinen Schützling nach Paris begleitet. – »Sehr nett von ihm«, sagte Kikjou. »Herr Nathan gefällt mir. Warum sieht er so müde aus? Er hat schwere Säcke unter den Augen.« – »Er muß sich viel sorgen«, sagte der Engel, der seinerseits aus irgendeinem Grunde beunruhigt schien. Er beobachtete eine Gruppe von jungen Franzosen, die ihren Tisch neben David Deutsch und seinen Freunden hatten.
Es waren schmucke Burschen, einer von ihnen trug ein kleines, schwarzes Schnurrbärtchen, an den Enden aufgezwirbelt; alle hatten Abzeichen in den Knopflöchern ihrer Jacketts, sie sprachen über die Schande Frankreichs. Ein jüdischer Ministerpräsident hatte die Nation an den Rand des Abgrundes gebracht; was man nun dringend brauchte, war ein starker Mann. Man wünschte ihn sich einerseits brutal, andererseits auch versöhnlich; er sollte die Streiks verhindern – wenn nötig, auf die Arbeiter schießen lassen; mit Nazideutschland aber gute Freundschaft halten. Jüdische Intriganten beabsichtigten, la douce France in den Krieg zu zerren – angeblich um die Tschechen zu retten, in Wahrheit wegen der jüdischen Interessen. Die jungen Herren waren sehr ergrimmt. Einer von ihnen blickte drohend zu David Deutsch hinüber. Die hebräische Zeitung wirkte wie ein rotes Tuch auf die forschen Jünglinge – die reichlich Wein konsumiert hatten.
Der Engel war sehr besorgt. Er raffte das dunkle Kleid und schwebte auf David zu. Gleichzeitig standen auch die jungen Herren auf; sie hatten ihre Mahlzeit beendet, ihre Rechnung bezahlt. Würde alles gut gehen? War die Gefahr überwunden? Die Camelots hatten die Tür erreicht, der Rabbi ließ einen Seufzer der Erleichterung hören; nur der Engel – hinter Davids Stuhl – blieb kummervoll und gespannt.
Einer der Jünglinge – es war der mit dem hübschen Bärtchen – machte kehrt. Es erschien ihm wohl unerträglich, das Lokal zu verlassen, ohne den frechen Israeliten eine Lektion erteilt zu haben. Hebräische Zeitungen – mitten in Paris! C’est trop fort, après tout! Dies Gesindel – durfte es sich alles erlauben?
Leicht schwankend, doch in aufrechter Haltung, durchschritt der junge Herr nochmals das Restaurant. Vor David Deutsch blieb er stehen. Der wußte schon, was nun kommen würde – er hatte es zweimal erlebt. Es gibt Cauchemars, die man, in gewissen Abständen, immer wieder, immer noch einmal träumen muß. Ein SA-Mann hatte gespuckt, auf dem Kurfürstendamm, in Berlin – wie lang war es her? Er hatte »Saujud!« dazu gesagt – mit gelassener, beinah freundlicher Stimme. Umso erregter war die amerikanische Dame gewesen, mit ihrem: »Sales Boches!« Übrigens eine Spuckerin ersten Ranges – sie hatte einen respektablen Speichelpatzen produziert!
Der Pariser Kavalier sagte: »Sales Juifs!« Gegen die »boches« hatte er nichts, solange sie nur faschistisch waren. Er taumelte ein wenig; ohne Zweifel: er war leicht betrunken – indessen noch rüstig genug für die Spuckzeremonie. Mit der Amerikanerin freilich konnte er es keineswegs aufnehmen – das Resultat seiner Bemühungen war vergleichsweise kümmerlich; auch der SA-Mann hatte Besseres geleistet. Kein fetter Batzen sprang aus dem Munde des Kavaliers, nur ein dünner Strahl, eine matte Fontäne – beinah war es mitleiderregend. Übrigens konnte er gar nicht zielen. David mußte ihm mit dem Fuß entgegenkommen – mechanischer Reflex, wie von einem, der sehr oft geschlagen wird und schon weiß, wohin die Schläge treffen sollen – sonst wäre das schwache Tröpfchen ins Leere gefallen. Davids Stiefel wurde leicht benetzt. Der Kavalier wiederholte: »À bas les sales Juifs!«
Der Rabbi war aufgefahren – das Gesicht über dem schwarzen Bart weiß vor Zorn. Im Lokal ward ein Gemurmel laut; teils beifällig, teils entrüstet. Die Entrüstung überwog. Die Kameraden des Kavaliers lachten etwas krampfhaft, in der offenen Türe stehend; sie spürten, daß die allgemeine Stimmung eher gegen sie war. Herr Nathan senkte wortlos die Stirn. Und David?
David hätte geschrien. Sein Mund verzerrte sich; Zuckungen liefen über die wachsbleiche Miene; die zerbrechlichen Finger – gelenkige und zarte Finger des Uhrmachers – fuhren ins starre Haar. Er hätte geschrien; doch der Engel ließ es nicht zu. Er neigte sich über ihn, er legte ihm die flache Hand vor den Mund. Er beschützte ihn mit seinem Mantel und mit seiner Hand. Er wollte nicht, daß er schrie. Der Aufschrei würde alles nur noch ärger machen. – Klage nicht, David! Ich bin bei dir – dein Engel! Sei demütig! Sei stolz! Sei besonnen und fromm! Unterdrücke den Laut des Jammers! Dein Engel hat ihn gehört.
David verhielt den Schrei; nur die Augen sprachen. Die schönen, dunklen, sehr erfahrenen Augen seiner alten Rasse ließen den Kavalier – diesen mäßig begabten Spuckheroen; sie blickten an ihm vorbei und über ihn hinaus. ›Was haben wir getan und angerichtet, daß wir gehaßt werden, mit so unversöhnlichem Haß?‹ fragten die dunklen Augen. ›Ist Israel unter den Völkern das schwarze Schaf? Wie haben wir uns vergangen? Was bedeutet soviel Schmach – die Erniedrigung durch Jahrtausende? Eine sublime Auszeichnung des Herrn? Das Stigma, das wir durch die Zeiten tragen müssen – ist es das Mal der Erwähltheit? So wären wir denn wirklich das erwählte Volk?
Ach – verdienen wir diese schaurige Ehrung?
Was sollen wir tun, um ihrer würdig zu sein?
Herr Israels, der Du uns durch die Wüste geführt hast – was willst Du denn, daß wir tun?‹
Der junge Herr, ziemlich ernüchtert, entwich, rückwärts schreitend. Menschen sprachen heftig durcheinander. »Ça, alors – quelle salopperie, alors …!« Die Franzosen waren beleidigt. Es ging über den Spaß.
Der Engel löste langsam seine Hand von Davids Mund – sehr vorsichtig, als wäre sie dort festgewachsen, und er fürchtete, es könnte wehe tun. Noch mehr Schmerz war David Deutsch wohl nicht zuzumuten. Das Maß war voll; der Engel wußte, was Menschen zu ertragen fähig sind.
Dann gab er Kikjou das Zeichen. Und da war die Wolke.
Neue Szenerie; heftig verändertes Licht. Die Dinge zeigen härtere Konturen. In Paris scheinen sie von perlgrauem Schimmer umhüllt; hier aber sind sie nackt. Ist dies afrikanische Landschaft? Der Engel bedeutet Kikjou: »Wir sind in Spanien. Die Stadt heißt Tortosa, sie ist nicht weit von Barcelona entfernt. Es war eine hübsche Siedlung«, stellt der Engel mit betrübter Stimme fest. »Die Bomben haben sie ganz zerstört.«
Nein – viel übrig geblieben war nicht von der Stadt, die Tortosa hieß; sie hatten gute Arbeit getan, die deutschen und die italienischen Piloten. Hier gab es fast nur noch Trümmer. Von manchen Häusern war die Vorderseite erhalten – eine kulissenhaft täuschende Fassade; dahinter aber lag Schutt. Alle Bewohner hatten die Stadt verlassen; indessen war sie doch nicht völlig unbewohnt. Die Ruinen wurden bewacht von Männern, die verschiedene Sprachen hatten. Spanische Soldaten, französische, deutsche und amerikanische Soldaten beschützten die Trümmer, deren Name einst Tortosa gewesen war. Durch die tote Ruinenstadt lief ein lebendiger Fluß, er hieß Ebro. Die Trümmer jenseits des Flusses gehörten dem Feind – der lag in gefährlicher Nähe. Nur ein Streifen Wassers trennte die Soldaten der Republik von ihren Gegnern, den arabischen Söldlingen und den italienischen Hilfstruppen des rebellischen Generals. Es wurde geschossen. Der Kampf um das zerstörte Tortosa stagnierte, aber hörte nie völlig auf.
Der Engel war furchtlos. »Es wird ein bißchen geknallt.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe anderes mitgemacht. – Komm!« – Er geleitete Kikjou in ein Haus, es war relativ gut erhalten. Von der Treppe, die ins erste Stockwerk führte, waren immerhin Teile intakt geblieben. Droben gab es eine Flucht von Zimmern, früher mußte es hier fürstlich fein gewesen sein, jetzt waren die Wände geborsten, die Seidenbehänge zerfetzt, in den Fenstern fehlten die Scheiben, man hatte den Blick auf den Fluß. »Drüben liegen die Faschisten.« Der Engel runzelte die Stirn und sah ungnädig aus. Nach einer Pause bemerkte er noch – verächtlich, aber doch schon wieder besänftigt: »Mein Gott – es sind auch nur Menschen …«
In dem Raum waren zwei Männer, sie sprachen spanisch miteinander, einer von ihnen mit deutschem Akzent. Der Engel – zuverlässiger und präziser Conférencier – gab die nötigen Aufklärungen: »Es ist Hans Schütte, ein Deutscher, seit Beginn des Bürgerkrieges in Spanien, hat sich vor Madrid gut bewährt, er ist Politkommissar. Morgen fährt er nach Barcelona, übermorgen nach Frankreich weiter. Sein Dienst ist zu Ende.« – »Aber der Bürgerkrieg geht doch weiter?« fragte Kikjou. – »Die Internationalen Brigaden werden aufgelöst«, sagte der Engel. »Die loyalistische Armee ist stark genug, hat jetzt auch genug Offiziere. Man braucht die Fremden nicht mehr.« – »Man schickt sie weg?« fragte Kikjou. Der Engel bestätigte ruhig: »Ja. Man schickt sie weg.«
Hans Schütte packte Gegenstände in einen Rucksack: die Zahnbürste, ein paar grüne Hemden, Bücher – das »Kapital« von Marx, den »Faust« und zwei Detektivromane – Unterhosen, ein paar bunte Bilder von Stierkämpfern, spanischen Damen mit Fächern oder revolutionären Heroen. Er schnürte den Rucksack zu. Er sagte: »Das wäre also vorbei. Jetzt geht’s wieder mal auf die Walze.«
Der andere erkundigte sich: »Was für Pläne hast du? Kannst du irgendwo bleiben?«
Schütte lachte bitter: »Irgendwo bleiben – wenn ich so was nur höre! Ich werde froh sein, wenn die Franzosen mich über die Grenze lassen!«
Der andere: »Aber unsere Leute können dich nicht so einfach rausschmeißen – wenn du gar nicht weißt, wohin du gehen sollst! Du hast doch für uns gekämpft!«
»Darauf bilde ich mir nichts ein«, sagte Schütte. »Ich habe gegen den Faschismus gekämpft. Das war meine Pflicht. Ich kann nicht verlangen, daß man mich ewig durchfüttert, weil ich meine Pflicht getan habe.«
Der Spanier schien nicht ganz einverstanden. »Hast du denn etwas Geld – in Frankreich draußen?« forschte er weiter. Schütte erklärte: »Keinen Centime« – woraufhin der Kamerad erst recht nachdenklich wurde. Schütte tröstete ihn: »Es wird schon irgendwie gehen. So schnell verhungert man nicht.« Sie schwiegen eine Weile. Draußen fiel ein Schuß, sie achteten nicht darauf. Schütte sagte: »Vielleicht werde ich bald an einer anderen Front gebraucht. Ich denke mir, die Tschechen werden sich wehren – wie ihr euch gewehrt habt. Dann bin ich wieder dabei …« Es klang gar nicht prahlerisch; eher etwas müde. – »Meinst du, es kommt bald zum großen europäischen Krieg?« fragte der spanische Kamerad. Schütte zuckte die Achseln. »Früher oder später … Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht in einem Jahr …« – »Wer wird siegen?« – Schütte sagte: »Wir.«
Noch eine Pause. (›Welch schleppende, dabei gespannte Konversation!‹ – dachte Kikjou.) Der Spanier war es, der wieder zu sprechen begann; seine Stimme klang etwas dumpf. »Und wenn wir nicht mehr weiterkönnen? Wenn wir nachgeben müssen? Wenn die Republik ihren Kampf verliert?« – »Ihr könnt ihn nicht mehr verlieren«, erklärte Schütte. – Und der spanische Soldat: »Unser Feind hat die Hilfe von zwei großen, mächtigen Ländern! Uns hilft niemand. Wir haben nichts mehr zu fressen und fast keine Munition. Warum hilft uns keiner?« Er schien fassungslos über die Feigheit und Dummheit der Welt. Er starrte seinen deutschen Freund fassungslos an. »Will man denn, daß wir zugrunde gehen? Warum lassen uns alle im Stich?!«
Der Politkommissar erwiderte mit sanfter Dezidiertheit: »Ihr geht nicht zugrunde. Sogar wenn Franco eure Städte erobert, seid ihr noch nicht verloren. Der Kampf geht weiter, wir gewinnen ihn – denn ihr habt uns das Beispiel gegeben. Ihr habt uns gezeigt, daß man einig sein muß und tapfer. Die Faschisten sind keine Helden, im Gegenteil. Nur unser Versagen – Uneinigkeit und Verzagtheit in unseren Reihen – gibt ihnen die Siegeschance. Wir überwinden unsere Fehler und Irrtümer, dank dem Vorbild, das ihr uns gebt. Die große Tatsache – daß ihr gekämpft habt; daß ihr einig seid – wird die Geschichte des Jahrhunderts bestimmen. Ihr seid die Sieger!«
Hans Schütte, der Politkommissar, sprach ohne Pathos, mit fester, gelassener Stimme. Der spanische Kamerad stand straffer aufgerichtet; erfrischt und ermutigt durch die Worte des Deutschen.
Schütte sagte: »Jetzt muß ich wohl gehen.« Dabei verfinsterte sich sein Gesicht, das eben noch geleuchtet hatte. – Während sie sich die Hände schüttelten, trat der Engel zu ihnen. Er bewachte ihren Abschied; er segnete ihre brüderliche, schamhaft-geschwinde Umarmung; er berührte mit der gebenedeiten Hand ihre Scheitel. – Sie waren Soldaten derselben Truppe, sie hatten die gleichen Entbehrungen, die nämlichen Gefahren hinter sich; sie hatten im Unterstand nebeneinander geschlafen; sie hatten die gleichen Mädchen gehabt, in Valencia und in Barcelona. Sie waren Freunde: ›Mein zweiter Freund‹, wußte Schütte, ›vorher hatte ich einen, der hieß Ernst – was ist aus dem geworden? Dieser heißt Juan – man spricht den Namen mit einem seltsam rauhen Kehlkopflaut am Anfang aus – er ist ein Soldat. Der Ernst hätte auch ein Soldat werden sollen, wo treibt er sich jetzt herum? Als ich ihm in Basel Lebewohl gesagt habe, war alles ähnlich wie jetzt – aber ganz so ernst und schwer wie jetzt ist mir damals nicht zumute gewesen. Leb wohl, Juan! Und wenn du sterben mußt, wenn es dich doch noch erwischt – wisse, es war nicht vergeblich! Was ich da vorhin erzählt habe, klang vielleicht ein bißchen salbungsvoll; war aber genau meine Ansicht; war mein ganzer Glaube. Ihr seid das Vorbild.‹
Der Engel und Kikjou hörten die Gedanken des Politkommissars, und sie freuten sich ihrer. »Bist du nicht stolz auf diesen braven Bruder?« fragte der Engel. Kikjou erwiderte: »Ich bin stolz auf ihn.«
Da wurde er wieder entrückt – Hans Schütte schnallte sich gerade den Rucksack um, das irdisch schwere Gepäck. Unten wartete ein Lastwagen, er würde ihn und zwanzig andere deutsche Soldaten nach Barcelona bringen. Die Männer von den Internationalen Brigaden hatten ihren Dienst getan – auf diesem Kriegsschauplatz. Es war die Stunde der Heimkehr. Sie reisten nach Haus – nach New York oder Kopenhagen, nach Birmingham, Bordeaux oder Los Angeles. Mehrere von ihnen hatten keine Heimat, sie wurden nirgends erwartet. Wohin soll ein Deutscher oder ein Italiener sich wenden, nachdem er gegen die Faschisten gekämpft hat? Ihm bleibt nichts übrig, als weiter gegen die Faschisten zu kämpfen – an welcher Front, in welchem Land es auch immer sei – anders kann er die verlorene Heimat nicht zurückgewinnen. – Die deutschen Soldaten, auf ihrem Lastwagen, sangen ein Lied, als sie die zerstörte Stadt Tortosa verließen. Ihre Kameraden, die noch auf dem Posten blieben, sangen mit. Der Text des Liedes ward in spanischer, französischer, deutscher, englischer, holländischer, schwedischer, portugiesischer Sprache vorgetragen. Indessen war die Melodie für alle gleich, und sie sangen im gleichen Rhythmus, kamen nicht aus dem Takt. Das Lied, mit dem die Männer von Tortosa Abschied von den deutschen Brüdern nahmen, war die »Internationale«. Kikjou lauschte, schon von der Wolke emporgeschaukelt. Der Engel der Heimatlosen, mit tiefer, melodischer Stimme, summte den Refrain:
»Völker, hört die Signale …«
Kikjou fror. Für Gletschertouren war er nicht gekleidet, hier wehte ein eisiger Wind. Was suchte der Engel auf so steilem Grat? Schneefelder schimmerten matt und öd unter einem Himmel, der sternenlos war. Weit hinten ragten zackig die Gipfel, bleich leuchtend, wie aus innerem Licht. Ringsumher – alles fahl und starr; aus den Schluchten aber drohte Dunkelheit.
Wer ging Pfade, die so nah dem Abgrund waren? Ein falsch gesetzter Schritt bedeutete das tödliche Verhängnis. Wer riskierte, zu nächtlicher Stunde, die Exkursion in so furchtbare Landschaft?
»Man muß die Freiheit sehr lieben, um sie sich durch solche Flucht zu erobern«, raunte der Engel, seinerseits fröstelnd, eng in den zerschlissenen Mantel gehüllt. – »Wer flieht denn?« fragte Kikjou. Der Engel wies mit dem Finger auf eine Gestalt, die sich langsam näherte: »Der da. Er kommt aus Deutschland – daher sein verzweifelter Mut. Sie wollten einen Soldaten aus ihm machen. Dann hätte er auf Kameraden schießen müssen, auf den Spanier Juan oder auf den Deutschen Hans Schütte. Das paßte ihm nicht, der ganze Schwindel paßte ihm längst nicht mehr, er kannte ihn, er hatte ihn gründlich satt. So wurde er Deserteur. Wir sind hier an der Grenze zwischen der Schweiz und Österreich – zwischen der Schweiz und Großdeutschland, um genauer zu sein: die ›Ostmark‹ ist eine Provinz des Dritten Reiches, wie dir bekannt sein dürfte; die schöne Schweiz hingegen bleibt vorläufig frei. Dorthin will dieser Junge. Er heißt Dieter.«
Der deutsche Deserteur war siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Sein blondes Haar fing an, an den Schläfen etwas dünn zu werden – dies zeigte sich; denn er trug keine Mütze. Auf der Stirn und um den schmal gewordenen Mund gab es Züge, die ihn älter scheinen ließen, als er war: Spuren ausgehaltener Leiden, eines langen Trotzes, standhaft ertragener geistiger Einsamkeit.
Kikjou bemerkte: »Er sieht überanstrengt aus. Wie schrecklich hart muß dieser Marsch für ihn gewesen sein!« – »Die Erlebnisse, die ihn zu seinem Abenteuer bestimmt haben, waren entschieden noch härter«, versetzte der Engel. »Zu Anfang war er für die Nazis, mit gewissen Vorbehalten. Er schimpfte auf die Emigranten; an Freunde, die das Land verlassen hatten, schrieb er ziemlich kränkende Briefe. Das war 1933. Damals wollte er sich dem neuen Staat zur Verfügung stellen, er war voll guten Willens, sehr unwissend und zu allem bereit. Wie lange hat es gedauert, bis ihm die Augen aufgegangen sind! Welch zäher, komplizierter Prozeß – und wie peinvoll es war! Enttäuschungen ohne Ende; eine Qual, die niemandem anvertraut werden durfte; Ernüchterung, Beschämung, schließlich Ekel, Zorn und Aufbegehren – eine lange Geschichte. Sie trug sich zu, während ihr Heimatlosen durch die Kontinente gejagt wurdet. Ihr wart beschäftigt mit dem eigenen Schicksal: der Roman eures Lebens war kompliziert und schmerzlich genug. Die Grenzen, die euch von Deutschland trennen, sind unübertretbar. Dahinter ist für euch verfluchte Gegend; nur in Alpträumen werdet ihr hinversetzt. Es atmen aber dort Menschen, viele von ihnen leiden, sind heimatlos in der Heimat, man nennt sie ›die innere Emigration‹. Ich, Schutzpatron der Expatriierten, kümmere mich auch um sie. Gestern, zum Beispiel, machte ich Visite bei einem Mädchen, das du früher gekannt hast, ihr Name ist Dora Proskauer.« – »Ich erinnere mich«, sagte Kikjou. – »Sie sitzt immer noch im Gefängnis.« Es klang tadelnd, als wäre auch Kikjou ein wenig schuld an Doras großem Malheur. »Sie hat es relativ gut, im Konzentrationslager wäre es schlimmer. Aber wie langsam ihr die Zeit vergeht! Sie wartet, die Linie ihres Nackens wird immer schräger, sie geht gebückt, als trüge sie Lasten; sie trägt Lasten, unermeßlich schwere – trägt sie tapfer, bleibt geduldig, voll Zutrauen, voll Hoffnung – das brave Ding. Als sie im Schlafe lag, habe ich ihr ins Ohr geflüstert, daß Walter Konradi, ihr Liebhaber und Verderber, noch bitterer büßen muß als sie selber. Seine Parteigenossen und Auftraggeber haben ihn eingesperrt und quälen ihn langsam zu Tode. Er hat irgendeinen Fehler gemacht, er wollte auch sie verraten, sie kamen ihm hinter die Schliche, sie verzeihen ihm nicht …«
Kikjou sah ihn vor sich, diesen Walter Konradi, einen Schuft. »Er war auf dem Friedhof, als Martins Urne beigesetzt wurde. Die Schwalbe hat schön geredet; der Hund, der Spion stand dabei. Damals beschloß er, Martins Eltern anzuzeigen. – War die arme Dora ein wenig erleichtert, als du ihr vom Ruin des Elenden berichtet hast?« – »Einerseits erleichtert; andererseits auch bestürzt. Er ist der einzige Mann, mit dem sie jemals im Bett war. Sie hängt an ihm. Sie haßt ihn und kommt nicht von ihm los. Sie glaubt immer noch, er habe nicht nur gelogen, als er ihr Liebe schwor. Es klang ihr süß, sie kann es nicht vergessen.« – »Schrecklich!« sagte Kikjou.
Sie schwebten in einiger Entfernung neben Dieter, dem Deserteur. Der Engel der Heimatlosen – Freund und Kenner auch der inneren Emigration – nickte kummervoll. »Ja, ja – nicht nur im Exil wird gelitten. Nicht die Vertriebenen allein erfahren, wie bitter Einsamkeit ist und wie müde es macht, langen, zähen Widerstand zu leisten gegen die Macht, von der doch alles teils entzückt, teils eingeschüchtert scheint. – Bildet euch nicht zuviel ein auf eure Abenteuer!« riet der Engel der Heimatlosen. »Wenn ihr zurückkehrt, werdet ihr auf den Gesichtern eurer daheimgebliebenen Kameraden Zeichen finden – jenen sehr ähnlich, die ihr selber tragt.« – Der Engel schien zu vergessen, daß dem Jüngling an seiner Seite keinerlei Heimkehr bestimmt war. Der Gespiele und künftige Chronist der Emigranten war so gänzlich ohne Bindung und Vaterland – wie der Engel, der ihn geleitete. Sollte Kikjou ihn auf den kleinen Irrtum aufmerksam machen? War es angebracht, ihn zu erinnern: Ich bin in Rio de Janeiro geboren, muß nächstens dorthin zurück, gedenke nicht dort zu bleiben, empfinde diese Reise nicht als Nachhausekommen? – Der Vaterlandslose, Wurzellose, der Schwebende, Entrückte, Fremde, Teilnahmsvolle – schwieg. Es gefiel ihm, schmeichelte ihm, tat ihm wohl, mit den deutschen Flüchtlingen verwechselt zu werden. So gehörte er doch zu einer Gemeinschaft.
Der Engel zeigte auf Dieter. »Dieser junge Mann dort auf dem glatten Pfad – schau ihn dir an und du erkennst das Zeichen. Das Stigma der Heimatlosen – nicht im Exil, in der fremd gewordenen Heimat hat er sich’s erworben!«
»Warum ist er denn gerade heute ausgerückt?« fragte Kikjou. »Fast sechs Jahre hat er es ausgehalten – und plötzlich macht er sich auf und davon!«
»Weil man in Deutschland den Krieg erwartet – weißt du das nicht? Sie meinen, ihr Führer wolle sie marschieren lassen wegen der Sudeten, und weil das Reich noch größer werden muß. Niemand ist begeistert, am liebsten möchten alle desertieren, aber nur wenige haben den Mut. Dieter setzt alles auf eine Karte. Sein Leben wäre gefährdet, auch wenn er im Lande und gehorsam bliebe. Lieber riskiert er es für die Freiheit. – Er wird es bewahren!«
Dies rief der Engel mit entzücktem Nachdruck; gleichzeitig aber erschreckt. Denn der Deserteur – der neue Heimatlose – stolperte, schwankte, hatte keinen Halt mehr auf dem glatten Pfad: er würde stürzen, ihm zur Seite ging es schauerlich in die Tiefe. Da zeigte der Engel, wie geschwind er flattern konnte, wenn es darauf ankam. Ein Flügelschlag nur, mächtig rauschend – und er hatte den Taumelnden schon erreicht; er stützte ihn, hielt ihn; er bewahrte ihn vor dem Fall.
»Du sollst nicht untergehen!« versprach er – inständig, wenngleich lautlos – seinem neuen Schützling. »Ich atme dich freundlich an, ich gebe dir neue Kraft! Du vollendest die riskante Gletschertour, du gewinnst die Freiheit, ich will es. Die Schluchten, voll schwarzer Schatten, locken dich. Du widerstehst. Du bist tapfer. Dein Roman ist noch nicht zu Ende, nur der erste Teil ist abgeschlossen – der war lang genug, fast sechs Jahre lang. Du und ich kennen seine bitteren Kapitel – eines Tages werden sie der Welt bekannt, vorher muß viel geschehen. Die Geschichte all deiner Irrtümer und ihrer langsamen Überwindung ist stumm und rätselhaft hineinverwoben in den Roman der Heimatlosen. Zwei Linien, zwei mit Energie geladene Kurven liefen parallel: die Kräfte der inneren und der äußeren Emigration wollen sich nun verbinden. Vereinigt sollen sie wirken – dies ist die Stunde, euer Engel kennt sie, er darf nicht dulden, daß ihr sie versäumt. – Siehst du den Pfad, mutiger Deserteur? Es ist dunkel, aber ich habe deine Augen mit meinen Fingern berührt, sie durchdringen die Nacht. Leb wohl – ich lasse dich jetzt! Mein Tagesprogramm ist erfüllt. Dir den Weg zu weisen war heute die schönste Pflicht, und die letzte.«
Der Deserteur dachte froh: ›Es ist etwas heller geworden, auch der Weg ist besser. Das Schwerste liegt hinter mir. Die Grenze muß nah sein. Ich habe es bald geschafft.‹
Der Engel indessen kehrte zu Kikjou zurück, der einsam schwebte und erbärmlich fror. »Warum zitterst du?« fragte der Engel. »Warum schaust du so traurig?« – »Ich habe mich gefürchtet«, sagte der Sterbliche. »Du hättest mich nicht allein lassen sollen – mitten im Schnee, in der dünnen Luft! Du bist so lange bei dem Fremden geblieben. Du magst ihn lieber als mich.« – »Du Verwöhnter!« Der Engel schalt ihn, während er ihn an sich zog. »Du Empfindlicher! Wirst du denn niemals klug?«
Sie hoben sich langsam, den bleichen Gipfeln entgegen. Der Himmel, dem sie sich näherten, war sehr kalt und sehr klar, es gab keine Wolken; auch das komfortable Wolkenfahrzeug des Engels war noch nicht herbeibefohlen. Der Engel regte die Flügel; es schien ihm angenehm und erholend, nach all den Plagen des Tages. Kikjou, seinerseits ohne Schwere, war keine Last in den trainierten Armen des Boten. An seiner gewaltig atmenden Brust ruhte des Sterblichen zartes, zärtliches Haupt. Der Mund des Engels war sanft und klug. Er redete Menschenworte.
»Nun muß ich Bericht erstatten und alle Details dieses Diensttages treulich melden. Mein Herr wird unwirsch, wenn ich nur das Mindeste vergesse. Seine Neugier ist ebenso grenzenlos wie Sein Wissen – das Er sich durch unsere Reporte immer wieder bestätigen und gleichsam auffrischen läßt. Er ist sehr pedantisch, bei all Seiner Majestät …« – Nicht anders klatschten Beamte über den Vorgesetzten. Der Engel, müde und gutgelaunt, ließ sich ein wenig gehen vor dem Menschenkind, das er trug. »Von unseren Reporten wird erwartet, daß sie sowohl umfassend sind als auch knapp«, sagte er noch. »Kein leichtes Amt«, schloß er seufzend; gleichzeitig aber stolz.
»Der Herr interessiert sich für unsere Angelegenheiten?« – Kikjou schien es nicht recht glauben zu wollen.
»Für jede Winzigkeit«, erklärte der Bote, selber ein wenig erstaunt über das Ausmaß Höchster Wißbegierde.
Kikjou fragte: »Was hat er mit uns vor?« – Auch die Sterblichen wüßten gern dies und das; können freilich nicht gleich Blitze schleudern, wenn die präzise Antwort auf sich warten läßt.
Der Engel lächelte geheimnisvoll. »Er hat Pläne und Absichten …«
Man war auf der Höhe der Gipfel. Zwischen bleichen Zacken, in dünner, eisiger Luft lustwandelten der künftige Romancier und sein Engel. Unter ihnen: die Schluchten, schattenschwarz; die schmalen, eilenden Bäche, die Gletscherfelder, die glatten Pfade; unter ihnen – der junge Mensch aus Deutschland, Dieter, ein Deserteur.
»Freundliche Absichten?« examinierte der Sterbliche seinen Engel. »Gute Pläne? Gnädige Konstruktionen?«
Der Bote nickte. »Sehr gnädige Konstruktionen. Absichten von schier unvorstellbarer Freundlichkeit.«
»Aber wir kennen sie nicht«, sagte Kikjou. »Es bleibt alles verhüllt.«
Der plauderhafte Abgesandte erklärte: »Ihr sollt sie erraten, sollt allmählich dahinterkommen – dies erwartet der Herr. Oft grämt und wundert Er sich, weil ihr dermaßen störrisch seid, und so schwer von Begriff! Ich habe Ihn schon fassungslos gesehen – fast entmutigt durch die frevelhafte Blödheit Seiner Kreatur. Niemand kann es Ihm verübeln, daß Er zuweilen die Geduld verliert – so widerspenstig und ahnungslos, wie ihr euch verhaltet. Vor allem Neuen scheut und bockt ihr und versucht, ihm auszuweichen – ohne den schönen Plan darin zu erkennen. Dann wird der Herr sehr betrübt. Riesige Schatten verfinstern Ihm Blick und Stirn – ich kann dir sagen, das Herz zerspringt einem, wenn man’s sieht. Wir singen Hymnen, umkreisen tanzend Seinen glühenden Stuhl, probieren es mit jedem Schabernack, allen spaßigen und ehrfurchtsvollen Gesten – um die große Dunkelheit zu verscheuchen, die auf dem Angesicht des Vaters liegt. Ach – wir strengen uns umsonst die Kehlen an, mit emsigem Jubilieren! Die Gottesstirn bleibt verfinstert.«
Dies erschütterte Kikjou und machte ihn sehr beklommen. »Wenn sogar die Höchste Instanz oft den Mut verliert – welche Hoffnung bleibt uns, Seinen schwachen, fehlbaren Geschöpfen?«
Der Engel sprach: »Euch bleibt große Hoffnung. Die Tatsache, daß der Liebe Vater Sich um euretwillen solcherart grämt und erzürnt, beweist Seine innige Teilnahme – die in der Tat jedes erdenkliche Maß überschreitet. Er produziert Tag und Nacht neue Projekte – alle euch betreffend. Er will euch Störrischen auf den rechten Weg zwingen.«
»Wenn Seine Politik uns gegenüber nur nicht so schrecklich undurchsichtig wäre!« klagte Kikjou. »Zu gewissen Zeiten scheint sie nur aus Willkür und Grausamkeit zu bestehen!«
»Willkür und Grausamkeit!« Der Engel wurde sehr ernst – dies ging entschieden zu weit. »Da sieht man, wie sich eine Undankbarkeit, die ans Rebellische grenzt, mit fast idiotischem Mangel an Intelligenz garstig bei euch verbindet! – Hat Er euch nicht Seinen Sohn geschickt, damit es nur weitergehe und der Prozeß eurer Selbsterlösung nicht stocke? – Sohn und Vater sind fast die gleiche Person – es scheint unpassend, zwischen ihnen zu unterscheiden. Wir im Paradiese nennen und lobpreisen die Zwei-Einheit in einem Atem. Er tat dies Äußerste und Liebevollste; Er litt, wie unter euch nur der Ärmste; Er trug das Kreuz; Er schmeckte Gallenbitteres auf Seiner Zunge, in den Triumph Seiner Auferstehung nahm Er das Aroma von Blut und Essig mit. Solches nahm Er auf Sich – höchst überlegter, kluger, inniger Weise – und ihr sprecht von Willkür, Grausamkeit!«
»Es ist nichts besser geworden«, sagte traurig der Sterbliche. »Du weißt doch, wie sehr und stark ich meinen Erlöser lieb habe und ihm ganz vertraue. Um der historischen Wahrheit willen aber bleibt zu konstatieren: Nichts ist besser geworden, seit er schmachtete, verging und strahlend auferstand.«
Der Engel, nach kurzer Pause: »Das liegt an euch – nur an euch. Er hat euch Verhaltungsmaßregeln hinterlassen, die sind sehr schön und tief. Manches von den Plänen und Absichten ist in sie eingegangen – faßlich gemacht, eurem intellektuellen Niveau pädagogisch angepaßt. Jedes Kind könnte verstehen, was der Liebe Vater drastisch andeutete, durch den menschlich gewordenen Mund des Sohnes – der als Nazarener unter euch ging und litt. Die Kinder haben es wohl begriffen. Aber die Erwachsenen! – Ihr seid scheußlich störrisch.« – Der Bote schien es kaum noch eilig zu haben mit seinem Aufflug und mit dem Bericht vor der Höchsten Instanz. Er verzögerte sich, zwischen den bleichen Gipfeln – sei es, weil die Unterhaltung ihn ablenkte und ergötzte; sei es, weil er auch dieses Gespräch noch einbeziehen und verwenden wollte in seinem knappen und umfassenden Rapport.
»Und deshalb werden wir gezüchtigt?« fragte der Mensch.
Der Engel klärte ihn auf: »Von Züchtigung kann nicht die Rede sein. Der Herr verhängt Unannehmlichkeiten über euch, damit ihr nur aufwacht – ihr Schläfrigen! Damit ihr euch der Pflichten bewußt werdet und dem Neuen eifriger dient, werdet ihr in Abenteuer gestürzt. Er versucht alle Mittel, zwecks Beschleunigung des Prozesses – die sanften wie die weniger glimpflichen. Krieg und Pestilenz, jede Art von Ruin, jede Form des Schmerzes, der Erniedrigung – lauter erzieherische Tricks, im Sinn und Dienst der gnadenvollen Heilskonstruktion.«
»Und die Heimatlosigkeit, der Verlust des Vaterlandes?« erkundigte sich Kikjou. »Das gehört auch zu den – ›Tricks‹, wie du Maßnahmen so radikaler Art zynischerweise bezeichnest?«
Der Engel bestätigte mit ungerührter Miene: »Auch die Heimatlosigkeit – und gerade sie! – Die Seßhaften, Besitzenden, Satten sind oft die Dümmsten und durchaus störrisch, was das Neue, den Heilsprozeß Fördernde betrifft. Sie machen sich zu Saboteuren der Pläne und Absichten – wodurch sie zum Skandal werden vor der Höchsten Instanz. – An maßgebender Stelle neigt man zu der Ansicht, daß der Schmerz euch sowohl feinfühliger als auch tapferer mache. Der Umgetriebene, Unbehauste, Überallfremde hat vergleichsweise gute Chancen, dem Allerhöchsten Plan gerecht zu werden. Ihr sollt mutig sein; denn die Väterliche Konzeption eurer Vollendung, der Göttliche Wille zur Utopie, ist nicht nur sehr vernünftig, sondern auch verwegen. Seid verwegen! Das Leben, das ihr aufs Spiel setzen könnt, ist keine so große Sache. Mit einem Schwerte wurdet ihr vertrieben aus dem Paradies; mit einem Schwerte sollt ihr es zurückerobern. Ihr müßt euch die Heimkehr erkämpfen, ihr Heimatlosen! Er bevorzugt die flammenden Herzen – denn Sein Element ist das Feuer, Sein wehender Odem ist Glut.
Die Lauen sind es, die Er aus dem Munde speit. Wer gar zu lange traulich hockt, in der Heimat, wird lau und lahm: es ist beinah unvermeidlich. Deshalb schickt der Liebe Vater euch auf Wanderschaft. Den Staub vieler Landstraßen sollt ihr schlucken, das Pflaster vieler Städte sollt ihr treten, viele Meere sollt ihr überqueren, und auch durch Wüsten führt der lange Weg. Alle Erkenntnisse und Impressionen, die ihr sammelt, könnten, in ihrer Summe, eine erste, leichte Ahnung von den Absichten und Plänen ergeben – auf dergleichen hofft der Herr. Es ist ein Väterliches, Königliches Experiment: natürlich kann es mißlingen. Bleibt ihr stumpf und störrisch? Das wäre peinlich – besonders für mich, euren Schutzpatron. Bereitet sich die ahnungsvolle Erkenntnis, und ihre couragierte Umsetzung in Aktion, bei ganz anderen vor, während gerade ihr, denen man so exquisite Chance gibt, euch kosmisch blamiert? – Tut mir doch das nicht an! Wovon sollte ich dann berichten? Die variablen Symptome der Entwurzelungsneurose sind kein ergiebiges Thema. Schließlich bin ich kein Mediziner …«
Dabei fiel ihm endlich der Rapport wieder ein, der auf glanzumflossenem Fauteuil mit grimmiger und liebevoller Ungeduld erwartet wurde. – Wie leicht versäumen sich Boten – selbst solche, die für gewissenhaft gelten! Sie schwatzen und schweben, aus Zärtlichkeit für die Kreatur. Der Liebe Vater bleibt eine Weile unbelehrt über Tun und Lassen, Unfug und Martyrium Seiner Sorgenkinder – weil es Seinem Diener gefällt, einem hübschen kleinen Sterblichen zu imponieren mit Weisheitsbrocken, die vom Flammenstuhl zu den Heerscharen fallen. Durch ein Lächeln, einen Blick, eine Träne, durch eine huschende Verfinsterung auf der Stirn, verrät der Herr zuweilen, was Er lieber für Sich behielte. Die Engel aber schnappen alles auf; vielleicht mißverstehen sie manches oder interpretieren es in ungehöriger Weise. Sie tragen es geschäftig weiter, in die Menschenwelt. Göttliche Andeutungen, ein Nicken, Winken, Schluchzen, versuchen sie in Menschenworten auszudrücken – die Formulierung bleibt ungenügend; das Resultat ist konfus.
Was sollte Kikjou anfangen mit dem fragmentarischen Bericht vom Flammensitz – ihm zugeflüstert, zugeraunt, zwischen den bleichen Gipfeln? Er war enttäuscht und verwirrt zugleich. Das Gehörte reizte ihn zum Widerspruch – die Kreatur ist rebellisch! – er spürte aber auch, daß es sein Fassungsvermögen wesentlich überstieg. Sein schweres, irdisches Herz ward noch schwerer; es zog ihn hinab – während der pflichtvergessene Herold seinerseits sich geschwind entfernte. Kikjous Füße berührten festen Grund: er wußte nicht genau – war es schon der steinerne Boden seiner vertrauten Zelle oder noch das Gletschereis, das wir ewig nennen und das auch einmal schmilzt.
Es tat ihm wohl, wieder auf eigenen Füßen zu stehen; Gewicht und Reizbarkeit seines Leibes wieder lebendig zu spüren. Er kniff sich selbst in den Arm und war froh, daß es weh tat. Sein Herz war ruhig und voll Freude.
Woher kam solcher Trost? Noch aus den Worten des Engels – die doch eher quälend gewesen waren? Oder tröstete nur die Heimkehr ins Irdische, das Ende von Flug und Entrückung? – Unser Körper ist schadhaft und plump, auch wird er zu Staub zerfallen: man sei immer drauf gefaßt! Indessen ist er das einzige, was wir haben; sonst kennen wir nichts. Die Pläne und Absichten des Lieben Vaters bleiben an unseren Körper gebunden – der freilich auch Geist ist und mit seiner Schönheit und Erbärmlichkeit Teil von Gottes Substanz.
Löst und erlöst sich das Materielle, an jenem Tag der Verheißung, da die Pläne und Absichten endlich sich erfüllen dürfen? Sehr wohl möglich – der Flügelherold hat dergleichen angedeutet, wenngleich in ungenügender Formulierung. Mögen Engel eine etwas stammelnde Konversation über das Letzte, Fernste, Äußerste machen! Was uns betrifft, wir haben andere Sorgen – sie liegen näher; bleiben aber trotzdem im Zusammenhang mit gewissen väterlich-ehrgeizigen Intentionen.
Unser irdisches Heil ist wichtiger als das Heil unserer Seele: vielmehr, eines ist gar nicht zu trennen vom anderen. Denn der Liebe Herr vom Flammenthron identifiziert sich mit der Kreatur: Solches Maß hat Seine Gnade, und Seine Liebe ist so riesenhaft. Inmitten des Geschaffenen schlägt Sein schaffendes Herz. Unsere Schritte führen auch Ihn zum Ziel. Unser Sieg ist immer auch der Seine, unsere Entwürdigung wird Seine Schmach. Wer im Irdischen frevelt, hat auch Ihn verletzt. Er stöhnt in Qualen, wenn ein Mensch dem anderen wehe tut. Seine Kreaturen zerfleischen sich – und Er blutet aus tausend Wunden.
Er vergißt nicht, verzeiht nicht. Wer den Skandal vergißt, mit dem Unerträglichen sich abfinden möchte, ist selbst schon Greuel. Die schlauen Saboteure Höchster Pläne und Intentionen sollen vernichtet sein. Ein Blick trifft sie aus der Flammensphäre – er bedeutet Fluch. ›Ihr seid mir ärgerlich!‹ sagt der furchtbare Blick. Der Rest bleibt uns überlassen. Unseres Amtes ist es, das Ärgernis auszureißen, samt der Wurzel.
Es ist unsere Erde; wir tragen die Verantwortung – was immer hier geschieht. Das Übel, das die Menschenwelt verdirbt, ist zäh, nimmt auch höchst mannigfache Formen an. Einem wuchernden Pilz gleicht das Ärgernis; wir zertreten es – schon wagt es sich an anderer Stelle hervor. Zuweilen aber bekommt der wuchernde Skandal das Ausmaß einer universalen Provokation. Dann stinkt die Schöpfung; der Liebe Vater ist nicht nur sorgenvoll, sondern auch degoutiert.
Von uns verlangt Er dann: Handelt! Protestiert! Schreitet ein! – Er ruft die Kreatur zur Aktion, damit das kolossale Stinken nur endlich aufhöre.
An euch liegt alles: alles liegt bei euch – spricht die Höchste Instanz. Nichts wird euch abgenommen, kein Engel hilft euch – nur als Beobachter sind die Cherubim unterwegs. Ich empfange Berichte – die mein umfassendes Wissen bestätigen, nicht bereichern können. Ich resümiere, kalkuliere, verifiziere; Ich hoffe, leide, schluchze, gräme mich, freue mich; Ich frohlocke, verstumme; Ich warte. Ich bin geduldig.
Kein Engel hilft euch. Seht, auch der Schutzpatron der Heimatlosen, der Dämon der Expatriierten hat sich entfernt! Vorm Flammensitz legt er genauen Rapport ab. Ich lausche, vergleiche, ziehe Schlüsse, lasse mir nichts entgehen. Dem Engel der Heimatlosen bin Ich sehr gewogen – wenngleich er vorhin etwas schwatzhaft war. Er ist ein tüchtiger Engel, sein Amt ist schwer, und er liebt es. In meinem Hofstaat nimmt er sich sonderbar aus, mit dem bestaubten Melonenhut, dem zerschlissenen Kleid. Aber Ich habe ihm ein Antlitz gegeben mit kühnen und milden Zügen. Gleicht es nicht dem Gesicht eines Kriegers, hart und gespannt, wie es ist? In die Augen jedoch habe Ich ihm das Licht des Erbarmens getan – daher ihre sanfte Macht.
Der Engel der Heimatlosen hat ein Menschengesicht – von der Art, wie es sein sollte und werden muß. Ich liebe diesen, der unter meinen Engeln der Geringste ist, weil Ich euch und eure Zukunft liebe.
Ihr habt so schöne, sonderbare Möglichkeiten. Nutzt sie doch! Meine Liebe zu euch ist voll Ehrgeiz und Mißtrauen, sehr wachsam und sehr empfindlich – alles um der schönen Möglichkeiten willen, die so leicht verderben. Wie schade wäre es um so viele reiche Chancen! Wie jammerschade würde es sein, wenn ihr das Bild, das Ich von euch im Vaterherzen trage, so sehr entstelltet, daß Ich euch nicht mehr erkenne oder mich gezwungen sehe, euch definitiv zu verstoßen! Unvorstellbar die Katastrophe, die solches bedeuten müßte: der Skandal der Skandale, das Fiasko meines ganzen Unternehmens, der universale Ruin. Mir bliebe nichts zu tun, als etwas völlig Neues anzufangen – aber woher die lustvolle Initiative zu einer anderen, zweiten Schöpfung nehmen, wenn die erste, höchst geliebte verdorben ist?
Wollt ihr mir dies nicht ersparen? So nehmt euch doch etwas zusammen! Ich bin sehr besorgt – wenngleich keineswegs ohne Hoffnung. Es liegt alles an euch.
Hört ihr mich, ihr Sterblichen, meine Sorgenkinder mit den interessanten Möglichkeiten? Du, zum Beispiel, Knabe dort auf dem Bett – schmiegsamer Gefährte meiner Cherubim, kleiner Heimatloser – hörst du mich? Vernimmst du den spontanen Ausbruch meiner gewaltigen Sorge?
Nein – natürlich kannst du mich nicht verstehen. Deine Entrückung ist ja zu Ende, und übrigens hätte nicht einmal der Engel dir die Ohren öffnen können für meine Stimme. Du bist irdisch, und du sollst es bleiben. Du schlummerst, ziemlich ermattet von deinem extravaganten Ausflug, der dir eigentlich nicht zugekommen ist – am besten, du vergißt ihn oder hältst ihn für einen Traum.
Ich liebe die Schlummernden, Ich liebe die Atmenden. Ich liebe euch, wenn ihr aufsteht und den Kopf hoch tragt und Gedanken denkt und Worte bildet mit euren Lippen. Ich liebe euch mit unendlicher Liebe, wenn ihr geht und schreitet und vorwärtskommt – auf euren Füßen.
Euer Lachen und euer Weinen klingen mir angenehm, euer Lächeln rührt mich, mich rühren eure Umarmungen, die Küsse, die ihr tauscht, die Lust, die ihr beieinander empfindet. Es gefällt mir, euch essen und trinken zu sehen. In alles, was ihr tut, ist Lust gemischt – meine Lust! Meine väterliche Wonne! Noch in euren Schmerzen kann Ich die Lust erraten; jeder eurer Affekte ist mir Wohlbehagen. Ich liebe eure Hände, wenn sie zupacken und wenn sie ruhen. Ich liebe eure lebendigen Körper und eure Gesichter, die lebendig sind – auf ihnen liegt der Schimmer meiner großen, besorgten Liebe.
Ach – es ergreift mich, wie ihr die Glieder regt; wie ihr euch anfaßt und wieder lasset; wie euer Organismus sich aufbaut und sich entwickelt, Zelle für Zelle, und wie er altert und müde wird und zerfällt. Ich liebe euer Blühen und euer Verwelken. Mich erschüttert eure Anmut und eure Häßlichkeit. Alle Gesten, mit denen ihr euer Leben verbringt, sind mir Gegenstand des gerührten Entzückens.
Das Herz des Vaters ist Flamme. Es brennt, es verzehrt sich in Flammen der Zärtlichkeit.
Dies sollt ihr nicht wissen. Der Liebe Vater verbirgt, stolz und schamhaft, Sein ungeheures Gefühl. Er verhüllt den Blick; Er verschweigt das Wort. Mit liebender Geduld harrt Er jener Stunde entgegen, von der ihr nichts wissen sollt – der Hochzeitlichen Stunde, der Stunde der Kommunion, dem Erlösungsfest, dem Feiertag des Großen Kusses, des Erlöschens …
Mit Schauern von Glück und Angst harrt der Vater, geduldet Sich der Große Liebende. – Ihr aber sollt im Schweiße eures Angesichts erledigen, was euch aufgetragen: Euer Erdenpensum. Die Pläne und Absichten sind zu erfüllen – ob es auch Ströme von eurem Blut und euren Tränen koste.
Seid wachsam und tapfer – dies fordert meine Liebe von euch! Seid energisch, seid realistisch, seid auch gut! Plagt euch! Kämpft! Habt Ehrgeiz und Leidenschaft, Trotz, Liebe und Mut! Seid rebellisch! Seid fromm! Bewahrt euch die Hoffnung!
Steht auf eigenen Füßen!